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110 die Bedingungen sichere, durch die er vor Sorge und Krankheit geschützt wird, und ohne die sein Leben nichts ist, als ein langes, unnützes Märtyrerthum, in welchem die Noth von heute den Mangel von morgen voraussieht und ihn nicht beschwören kann? Sind sie von Sinnen, Jene, die verlangen, daß eine Nation, wie die französische, für die Alten und Schwachen ihrer Arbeiter- Armeen eine ehrenvolle Zufluchtsstätte gründe, nach dem Muster jenes prächti gen AsyleS, das ein Wink des großen Königs eines Tages den invaliden Soldaten öffnete? Wäre denn so ganz unausführbar, was so viele edle Männer herbeiwünschen, daß man ein Erziehungs-System einführe, nach wel chem einem Jeden der Weg zu jeder bürgerlichen Stellung eröffnet und in stufcnwcisen Prüfungen immer der fähigere Theil der Schüler zu den höheren Berufen auserlesen, der andere aber, für die weniger geistigen Beschäftigungen bestimmt, mit gewissen wissenschaftlichen Kenntnissen auSgestattet würde, die sich auf die gewählten Gewerbe bezögen? Wenn z. B. der Landmann von dem Erdreich, das er bebaut, einen wissenschaftlichen Begriff hätte, wenn er das organische Leben der Pflanzen verstände, von denen er sich nährt, und sich Rechenschaft zu geben wüßte von den wunderbaren Erscheinungen des steten Wechsels in der Natur, in deren Mitte er blind und taub hinlebt, wenn ihn Bücher, die seiner Fassungskraft angemessen find, über die Fortschritte des Landbaues unterrichteten, würde er nicht, frage ich, in seinen eigenen und in unseren Augen sich erheben und sein Leben, das heute auf die gröbsten materiellen Interessen beschränkt ist, einen ganz neuen Reiz erhalten? Wie würden Friede und Behaglichkeit in seinem Hause gefördert werden, wenn die Hausfrau die Eigenschaften und die sparsame Benutzung der Gegenstände, mit denen sie arbeitet, besser kennen möchte, als jetzt, wenn sie gewisse diätetische Kenntnisse besäße, mit deren Hülfe fie Kinder und Gesinde vor den Krankheiten schützen könnte, die Mangel an Vorsicht und Unwissenheit so oft herbeiführen! Und wenn nach des Tages Mühen in der Mußestunde des Abends, deren Süßigkeit und Poesie dem Reichen und Un beschäftigte» unbekannt ist, ein Volkslied, iin Chor gesungen, oder die Vor- lesung eines ansprechenden Kapitels aus der Geschichte die Seelen der Ver sammelten zu einer gemeinsamen Erhebung stimmte und enger an einander knüpfte, kehrten dann nicht da, wo jetzt das Schweigen der Muthlofigkeit herrscht, oder der Zank, den die natürliche Gereiztheit der Bedürftigen hcrvor- ruft, würdige und reine Freuden ein, die den Glückbegabtesten unter uns mit Neid erfüllen könnten? - Das Volk verlangt nicht, wie man behaupten möchte, i» Uebcrfluß und Müßiggang zu leben, es verlangt den Wohlstand nur als Lohn für seine Arbeit, und wenn sich jetzt auch bei ihm Trägheit, Lüderlichkeit und Mangel an Sorge für die Zukunft vorfinden — womit manche oberflächliche Beobachter seine traurige Lage erklären und rechtfertigen — so rührt dies daher, daß seine angestrengteste Arbeit ungenügend bleibt und unheilbaren Leiden nur eine vor übergehende, fast unmcrkliche Besserung bringt. Was hilft, sich einen Tag besser zu befinden, dem, der ein ganzes Leben voll Leid vor sich fleht? Vielleicht macht der Arme diese Schlußfolgerung nicht, aber sicher treibt ihn sein Instinkt ins WirthshauS: „Vergessenheit seines Kummers zu trinken." Ihr sagt: „das Volk ist ein dummes, oft wildes Thier!" und denkt nicht daran, daß, indem ihr eure Gleichgültigkeit entschuldigen wollt, ihr euch noch schuldiger zeigt. Denn, was den Sohn des Volkes so würdig der Theilnahme macht, ist weniger das Leiden, das er als Mensch zu erdulden hat, als die Unmöglichkeit, in der er flch meist befindet, Mensch zu werden. Wie nieder, beugend ist der Anblick dieser unzähligen Mengen, welche durch die Sünde einer eigennützigen oder herzlosen Gesellschaft der Attribute ver Menschheit beraubt find, die fie, so gut als wir, mit auf die Welt gebracht haben. Zweifelt ihr, daß der Proletarier eine Seele habe, fähig, zu lieben und das Gute vom Bösen, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden? Wie geschah es also, daß er ein Thier blieb, und daß ihr vor seiner Berührung zurückschreckt? Fraget eure Gewissen und antwortet. Wollt ihr dem Volke den Reiz des häuslichen Herdes schildern, fangt damit an, Holz auf den Herd zu legen; dann mögt ihr euch mit eurer Be- redtsamkeit ausbreiten. Wollt ihr ihm die Süßigkeit des Familienlebens rühmen, bringt Brod mit für die Kinder, daß ihr Geschrei euren Vortrag nicht unterbreche. Wollt ihr ihm endlich die gcmüthlichen Freuden ausmalcn, die das traute Leben im Hause vor dem wilden Leben der Schenken voraushat, so laßt vorher GlaS in die Fensierkreuze setzen, damit der Winterwind nicht durch das Zimmer ziehe und das evangelische Wort auf euren Lippen er starren mache. Reinlichkeit ist eines von den ersten Zeichen jener Selbstachtung, die der Anfang und das Endziel guter Sitten ist. So lange das Volk nicht aus dem häuslichen Schmutze herausgerlssen wird, in welchem es aus Unwissenheit verharrt, hofft ihr vergebens, eS für die feineren Forderungen der Sittlichkeit empfänglich zu machen. So lange eS seinen Körper nicht achtet, wird eS nicht lernen, daß es seine Seele zu achten habe. Luft und Wasser find die von der Vorsehung überall dargcreichten Mittel jener äußeren Reinlichkeit, die ein fast sicheres Anzeichen, gewissermaßen ein Vorläufer der Seelenreinheit ist. Laßt Lust und Wasser frei und reinlich in euren Städten zirkuliren und in alle Wohnungen eindringen, und erstaunt werdet ihr nach wenigen Jahren erkennen, daß ihr die Gemüther gesäubert habt, wo ihr nur die Atmosphäre zu säubern glaubtet. (Schluß folgt.) Ein Norweger bei Victor Hugo. (Nach der „Norsk RigSIidende."-) Victor Hugo gehört nicht mehr zu den größten Mode-Celcbritätcn in Paris; er lebt verhältnißmäßig still und eingezogen, schreibt nicht viel, we nigstens nicht für die Tagespresse, versorgt nicht mehr die hungrige Legion von Theatern mit seinen kraftvollen Stücken, mischt sich fast gar nicht in die Tagespolitik und redet endlich nur wenig in der Pairskammer und immer nur dann, wenn es sich um einen Gegenstand handelt, welcher literarische, künst lerische oder allgemein menschliche Interessen berührt, wie z. B. als er zuletzt den beredten Vortrag zu Gunsten von Jerome Napoleon und seiner Wieder aufnahme in das Vaterland hielt. Aber obschon er so für den Augenblick in einer Art ehrenvoller Zurückgezogenheit lebt, ist er darum doch nicht vergessen oder minder angesehen; sein Name hat noch einen guten Klang und eine wichtige Bedeutung; man erinnert sich noch recht wohl, daß er der Anführer der jungen Phalanr war, welche das Banner der Romantik erhob und neue Lebenskraft und frische Waldesluft in die verkünstelten Salonräume der französischen Klassizität brachte. Wohl muß man gestehen, daß die von ihm gestiftete Schule nicht gehalten hat, was sic versprach, und durch ihre Extravaganzen bereits eine Reaction herbeiführte; wohl läßt sich nicht leugnen, daß Victor Hugo selbst soft in seinen poetischen Werken die Gränzen des Schönen über schritten und sich in ästhetische Paradoxien verirrt hat; aber man erkennt doch bei dem Allem an, daß er in der französischen Literaturgeschichte Epoche gemacht hat, daß sein Wirken, auch nur nach persönlichen Erfolgen gemessen, ansehnlich genug ist: indem er nämlich einzig und allein durch sein literarisches Wirken, und trotz aller Opposition, die er zu bewältigen hatte, Pair von Frankreich und Mitglied der nämlichen französischen Akademie geworden ist, welche als bestellter Hüter der Klassizität mit so großem Entsetzen und Indig nation gegen sein erstes Auftreten protestirt hatte. Kömmt nun hierzu noch die unwillkürliche Macht, welche das echte Genie selbst in seinen Verirrungen auöübt, und die aristokratische Hoheit, womit sich Victor Hugo frei von der herrschenden Speculations-Literatur hielt, so ist eS erklärbar, wie das unstäte Pariser Publikum doch stets Interesse und eine Art Verehrung für ihn bewahren konnte. Ich wollte das lärmende Paris nicht verlassen, ohne Victor Hugo gesehen zu haben, ließ mich deshalb kurz vor meiner Abreise bei ihm anmelven und wurde ersucht, mich eines Sonntags Abend acht Uhr bei ihm einzufinden. Des Dichters Wohnung liegt an einer für seine poetische und in der Ver gangenheit so gern verweilende Natur sehr geeigneten Stelle, wie fie in Paris kaum besser gefunden werden konnte, nämlich an verPlace-Ropale, einem Platz, der auch im Acußeren einen historischen Charakter bewahrt hat. In einem re gelmäßigen Viereck wird derselbe von hohen, massiven, einander ganz gleichen Häusern umgeben, welche mit ihren rothen Ziegelsteinen und den hohen, spitzen Schieferdächern einen starken Kontrast gegen die graugelben Kalkstein- maffen bilden, aus welchen außerdem Paris besteht. Es war ein kalter, aber klarer und mondheller Dezember-Abend, als ich aus den geräuschvollen modernen Quartieren am Palais-Royal durch ein rasches Kabriolet auf den alten Platz versetzt wurde, wo mich die Luft einer dahingeschwnnvenen Zeit anwchte. Alles war hier öde und verlassen, rief aber eine eigenthümlich-schöne und festliche Stimmung in mir hervor: die dunkeln Häuser mit ihren hohen, thurmartigen Dächern, durch mannigfaltige Spitzen und Borsprünge ausgezeichnet, zeichneten sich mit scharfen Umrissen in der bläulichen Mondbeleuchtung ab, die langen Fensterreihen blitzten in den zitternden Strahlen, während breite Schatten von den Säulen der Bogen gänge über das Steinpflaster fielen. Kein Mensch war auf dem ganzen Platze zu sehen, kein Laut ließ sich vernehmen außer dem einförmigen Plätschern der Fontainen und dem heiseren Knarren einiger rostigen Wetterfahnen auf d.n Dächern. Sollte dies Paris seyn? Befand ich mich wirklich mitten in der von Menschen wimmelnden Weltstadt und" nicht vielmehr in einem der einsamen Schloßgärten von Fontainebleau? Denn die Aehnlichkeit damit war auffallend; eS war dieselbe Architektur, dieselbe verlassene Stille. In besonderer Stim mung stieg ich die breiten Treppen von Nr. S hinan, wo Victor Hugo wohnt. In einem in mittelalterlichem Geschmack verzierten Zimmer mußte ich eine Stunde warten; endlich öffneten sich die schweren Flügelthürcn im Hin tergrund, ein starker Lichtschein kam mir entgegen, und auf dcr Thürschwelle zeigte sich — ein modern gekleideter, wohlbeleibter Mann von mittlerer Größe mit einem rothen, vollen, lächelnden Gesicht; es war Victor Hugo. Ich folgte ruhig dem freundlichen Wirth in sein hell erleuchtetes Familicnzimmer, wo das moderne Aussehen der anwesenden Bewohner wiederum den mittel alterlichen, burgartigen Eindruck, den auch die Ausschmückung dieses Zimmers zu beabsichtigen schien, zum Theil aufhob. Dunkle gewirkte Tapeten bekleide ten die Wände, und schwere Vorhänge hingen von den Fenstern herab; ein zelne große Gemälde, Jagdstücke und Stillleben in schweren Rahmen waren hier und da ohne Symmetrie angebracht: hohe, mit allerhand Schnörkeln versehene Stühle, antike Schränke und andere Möbel von Eben - oder Eichen holz, mit allerhand Sonderbarkeiten auSgestattet, mangelten nicht. In einer Ecke des Zimmers war der jüngere Theil dcr Familie, einige junge Damen und Herren, um einen Tilch gruppirt und unterhielt sich mit dem Dominospiel; an einem anderen Tisch, der mit Journalen und Büchern bedeckt war, saß ein alter Mann mit friflrtem weißen Haar, von diplomati schem Aussehen, welcher, dem Anschein nach, mit dem Studium der Tagcsbc- gebenhciten eifrig beschäftigt war. Endlich vor dem ungeheuren Kamin, worin -> Verfasser diese« Artikel« ist dcr oerdieustoolle Arch'.olog, Professor A. Munch in Christiani»,