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Wi-dmllich tnchcitt!» Liei Nummcrn. Pränumeration-Preis 22j Silbergr. (^ Thlr.) oicrteliädrlich, Z ühlr. für da« ganze Zähe, ohne ErdShung, in allen Tdeilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man vrännmeriri auf dien« knermux Ktall in Berlin in der Srrcdition der AUg. Pr. Staal« Aeiinng (zricLri»»- Strape Nr. 72); in der Provinz so wie im Au-lande dei den Wodllödl. Post - Äemlern. biLcratur des Auslandes. 104. Berlin, Mittwoch den Zl. August Frankreich. Vom Geist der Religionen, von Edgar Quinet.') Auf dem Pfade, welchen unser Herder zuerst betrat, um jenseits Euro päischer Lande und Kultur nach den mysteriösen Bergen zu gelangen, an deren Abhängen der Strom der Geschichte entsprungen, sehen wir auch Edgar Quinet einhcrschrcitcn, einen Mann, der wie zwischen Dichter und Philosophen, so zwischen Deutscher und Französischer Bildung als Vermittler dasteht.") Auch er schaute die Wiege des Menschengeschlechtes, vernahm sein erstes Lallen, die ersten Laute seiner Freude, seines Schmerzes, seiner Hoffnungen, seiner Furcht und beobachtete jeden Keim, jede Frucht seiner gesammten Entwickelung. Denn sein Werk vom Geist der Religionen (d. h. in Deutscher Terminologie „Religions-Philosophie") umfaßt dabei einen nicht unbedeutenden Theil wie der politischen Geschichte der Völker, so auch ihrer Kulturgeschichte im Allge meinen. „Die bürgerliche Gesellschaft", — (die politischen Einrichtungen, die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts und seine Schicksale) — sagt er, „von der religiösen Verfassung abzuleiten, das ist die Aufgabe, die ich zu lösen suche." Ihm erscheinen die Dogmen nicht, wie man nur zu lange Zeit, besonders im verflossenen Jahrhundert, annahm, als ein Werk der Politik, sondern jene als die Quelle der letzteren, eine Quelle, welche ununterbrochen rann und nie versiegen wird. Das Christcnthum eristirte nach seiner Ansicht in Betlehcm schon vor der eigentlich christlichen Verfassung und Einrichtung, das Evangelium schon vor dem Papstthum, der Koran vor dem Chalifat, das Priestcrthum vom Sinai vor der Oberherrlichkeit Jerusalems, die Offenbarung des Zoroaster in Baktrien vor der politischen Entwickelung Persiens in Susa und PcrsepoliS. Und gewiß ist diese Ansicht die richtige: wie würde sonst in unserem fast durchweg materiell gesinmen Zeitalter die Frage um die religiösen Institutionen der Gegenwart und Zukunft (Lamennais, Strauß!) von so all gemeinem Interesse scyn? Es ist nicht das Wicdererwachcn eines tieferen religiösen Sinnes und Bedürfnisses allein, — gegenüber der schneidenden Skepsis der Wissenschaft, gegenüber dem hartherzig wuchernden Egoismus der Industrie, — welches sich einen barmherzigen, liebevollen, wenn auch anthropo- morphischen, Gott nicht um einer abstrakten stellvertretenden Idee willen, deren Konsequenzen wer weiß wie traurige Resultate herbciführen können, entreißen lassen möchte, — welches neben dem Dampf der Fabriken und Maschinen auch den Weihrauch des Altars steigen sehen will. Wir sind mehr oder weniger Alle zu dem Bewnßtsepn gekommen, daß von dem Dogma, von der Weltanschauung eines Volkes seine ganze Entwickelung abhänge, wenn sich das Dogma auch selbst wieder nach dem jedesmaligen Charakter eben des Volkes, wie ihn die Landcsnatnr bedingt, modifizirt. Ja, man könnte noch weiter gehen als Edgar Quinet und behaupten, daß das Ehristenthnm, wenn man es als das Evangelium der wahren Gleichheit, der Liebe und des Ge wissens ansieht, nicht nur vor den „modernen Institutionen", sondern von Anbeginn der Menschheit her bestand, und daß sich allein nach seiner Ent wickelung die Weltgeschichte selbst, so weit wir zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft blicken können, in drei große Perioden spaltet, von denen die erste die Zeit in sich begreift, wo das Christenthum nur in den Köpfen der Weisesten in seinen Grundprinzipien lebte, d. h. wo cs Einzel- religion war, während das Volk an seinen Brahma, Ahriman, Zeus und den ganzen Olymp glaubte, die zweite, wo cs StaatSrcligion wurde, von Christus bis auf unsere Tage, und die dritte der Zukunft, wo cs all gemeine Menschen- oder Weltreligion im eigentlichen Signe, gleich sam Seelen-Essenz Allcr, seyn wird, befreit von den Schranke» äußcrer, kurialer Bestimmungen. Die ganze Weltgeschichte manifestirt sich uns somit, — nicht als Kirchengcschichte, — sondern als ein großer Kampf um das Christenthum. Von vorliegender Arbeit Edgar Quinet's erschienen bereits früher einzclne Bruchstücke in der Kcvue des den? Müdes, und das Magazin f. d. L. des Auslandes selbst theilte eine Probe mit im Jahrgang t84l Nr. 12» „Bon der Wiedergeburt des Oricnts", — einen sehr interessanten Artikel, auf welchen wir die Lescr dieses Aufsatzes zurückverweiscn. Jetzt stellt sich uns das Werk zum erstenmal als ein Ganzes dar, umfaßt iudeß nur die Tradition des Alter- ") E. Quine! ist seien auch dckamMich der Ueberftkcr von Herder'- „Ideen zur Philo, sovbie der Geschichte drr Mens-che»''—: lä^ ,ar In iilnio-oianc Sc I'ISstuirc, ouvrnxe, trrrilmL tlv Heuler et iireeelle ll'uue iutroiluetiou. 3 vol. Ihums, d. h. die Kulte des Orients und Griechenlands, ein Feld, wo der Combination und der Phantasie ein großer Spielraum überlassen blieb. Nichtsdestoweniger ist es unserem Autor gerade hier um möglichste Objektivität zu thun. „Anstatt den Geist meiner Zeit", sagt er, „in die verflossenen Zeiten zu tragen, war es vielmehr mein höchstes Streben, den Menschen unserer Tage abzuwerfen, um den antiken Menschen anzuzichen, und ich bin fest überzeugt, daß die Schwierigkeit bei Behandlung von dergleichen Materien nicht darin liegt und eS nicht darauf ankömmt, den Stiftern jencr alten Ein richtungen das Wissen der Nachkommen bcizumeffcn, sondern für einen Augen blick in sich den lebendigen Fonds ihrer Glaubcnsmeinungen wicdcrfindcn zu können." Demgemäß verfolgt Edgar Quinet auch die Entwickelung seines Stoffes, ohne Nebentendenzen irgend einer Art durchblicken zu lassen, wie wir sic in einem älteren Französischen Werke, dem wichtigsten über diese Gegenstände vor unserem Autor, in Volnep's „Ruincn", allcr Ortcn ent decken. Stets leuchtet ihm der Gedanke einer ununterbrochenen, streng gene tischen Entwickelung dcr einen großen in der Menschheit verkörperten »nd in Völker-Individuen verzweigten Idee der Rückkehr der Natur zu Gott vor; und gar oft findet er Konsequenzen aus dieser Idee und Beziehungen dieser Konsequenzen unter einander, welche andere» Forschern bisher meist entgingen. Mit dem Worte Religion bezeichnet Edgar Quinet jedoch besonders nur Dogmatik, Tradition. Ein großes Gewicht legt er auf die Entwickelung dcs Skeptizismus neben dem Glauben, wobei er ersterem eine eben so lange Lebens dauer, als der Wahrheit selbst, zuspricht. Welchen Charakter das Dogma vom Unendlichen und seiner Beziehung zum Menschen bei den verschiedenen Völkern angenommen, entwickelt cr aus der Art und Weise, wie oder wodurch einem Volke die erste Offenbarung zu Theil wurde. In den Bedas zeigt sich ihm die Offenbarung durch das Licht, während er die Offenbarung dcs Unendlichen durch den Ocean vorzugsweise in den Indischen Religions-Anschauungen findet. Höher steht ihm die Persische Religion als die Offenbarung durch das Wort, und die Aegyptische als die durch das organische Leben. Bei den religiösen Prinzipien der Babylonier und Phönizier nimmt er besonders Rücksicht auf das Gefühl des Unendlichen in dcr heidnischen Liebe. Die Hebräer empfangen ihre Offenbarung durch die Wüste; den Griechen endlich manifestirt sich das Göttliche im Menschlichen. Es würde uns zu weit führen, wenn wir Edgar Quinet's Ansichten Ab schnitt für Abschnitt prüfen und mit dem vergleichen wollten, was unsere Deutschen Denker, welche er vielfach benutzte, über dieselben Materien sagten. Gelehrsamkeit, Scharf- und Tiefsinn, niit einem Worte: Beruf, er heben seine Forschungen weit über die Gewöhnlichkeit; und wenn er sich zu weilen auch etwas zu sehr in Nebenparticen versenkt oder bei Allgemeinheiten stehen bleibt, so sind erstere doch anziehend, pikant, letztere bedeutsam genug, uni unsere Aufmerksamkeit rege zu erhalten. Einen besonderen Reiz erhält daS geistreiche Werk dadurch, daß es in einem blühenden Stil und mit feinem Ge schmack geschrieben wurde: man erkennt in dem Verfasser alsbald den Dichter, der in Alles Leben zu hauchen, Alles mit Schönheit zu bekränzen weiß. Nach folgende zwei Proben (Buch 1 und V), welche recht eigentlich, innerlich ver bunden, die Haupt-Ideen des Ganzen hcraustretcn lassen, indem sie von der Entstehung der Religionen im Allgemeinen, vom Kampfe des Skeptizismus gegen dieselben und von ihrem Untergange sprechen, dürsten vielleicht ein be stimmteres Urtheil über „den Geist der Religionen" vcrmittcln helfen. Ans dem Buch I. Von der geistigen Genesis. Je ruhloser der Geist ist, desto mchr erscheint die Natur unveränderlich. Die Jahreszeiten, die Tage, Ebbe und Fluth lösen einander ab in fester, steter Ordnung. Die Wanderungen der Thicre, der Lauf der Gestirne sind einem und demselben räthsclhaften Gesetz unterworfen; und die Reihenfolge der Jahre bestätigt eben nur diese Knechtschaft dcr Erde und dcS Himmels. Inmitten dieser Unterwürfigkeit des Universums kann der Mensch allein nicht in Ruhe verharren, — weder Tags, noch NachtS; cr baut Städte und Systeme; er stürzt sie wieder, um ein wenig fürder dieselbe Arbeit von neuem zu beginnen. Was will cr, vom Wahn rastlos umhcrgctricben, Angesichts Les unveränder lichen Schauspiels, das ihn umgiebt? Was sucht er? Er weiß eS selbst nicht; aber cr schrcitct weiter, schweift unaufhörlich hin und her, zertrümmert den Bau, den er eben errichtet, und seine Handlungen geben statt seiner Antwort. Kurz, cr gestaltet sich um, während Alles rings um ihn wandcllvs ist. Und das ist, sagt ihr, das Zeichen seines Elendes: o nein, das Zeichen seiner Größe