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66 als er keinen Nutzen davon sah. Nachdem ich zu wicberholtenmalen seine Stimmorgane in die nöthige Lage gebracht hatte, kam er dahin, die Vokale .4 und 0 ziemlich deutlich auszusprechen. Aber beim Weitergehen stieß ich auf Schwierigkeiten, die mir anfangs unübersteiglich schienen ; denn während vier zehn Tagen mißlang jeder Versuch, dem jungen Mann den Unterschied zwischen dem Laute si °> und den Lauten » und o begreiflich zu machen, und ich fing an zu fürchten, daß alle bisherige Mühe verloren sep. Indessen war ich der vollsten Ueberzcugung, daß ein Gesetz vorhanden scpn müsse, durch dessen An- Wendung man vermittelst des Gefühls eben so gnt könne sprechen lernen, als dies vermittelst des Auges geschieht, wenn dasselbe die Bewegungen der Lippen aufmerksam verfolgt. Darauf bauend machte ich einen letzten Versuch — und siehe da, ich fand, was ich suchte. (Fortsetzung folgt.) Ungarn. Literarische Neisebesuche. Aus dem Tagebuche eines Magyaren. i. Petöfi Sundor. (Schluß.) ES mögen jetzt kaum vier Jahre sepn, als ich in Budapest einen Winter verlebte und jenen Kreis von sich entwickelnden Größen oft besuchte, welche der junge talentvolle Dichter Bokadp in seinem Haus fast täglich vereinigte. Eines Abends saß ich wieder in jenem dicken Tabaksnebel der eleganten Jung, gesellenstube, durch welchen es kaum möglich war, den nächsten Nachbar zu erkennen, und blätterte in dem Haufen neuerschienener Bücher unserer Litera- tur, welche auf dem Tische vor mir lagen, als mir ein Band in die Hände gerieth, betitelt „Vsrsek ircs kelöü Lsnüor". Ich durchsah flüchtig diese Ge dichte, — doch schnell war mein Auge auf den Blättern wie festgebannt. Soll- ten wir auch einen ungarisch schreibenden Lenau haben? Welch' tiefes, geistiges Auge blickt da hervor, welch' kerniger Humor, welch' rothglühender Ernst, welche Maienblüthenpoefie! — Freilich roh, sehr roh, aber um so ur sprünglicher. Seit Bersenyi dachte und schrieb noch keiner so durch und durch ungarisch wie dieser .... Petöfi heißt er? — „Kennen Sie ihn?" fragte ich einen neben mir fitzenden jungen Mann, der mir wohl vorgestellt wurde, dessen Namen ich aber überhört hatte, und dessen charakteristische, edle Persönlichkeit mir erst jetzt auffiel. Dieser Unbekannte konnte kaum 2Z Jahr alt sepn; ein markirtes, knochenscharfes, aber gesundes Antlitz, etwas bronzirt, krauses schwarzes Haar; das Ganze eine Avarenphysiognomie; die Statur klein — aber leicht und elastisch die Hüfte; die Hand niedlich, jedoch muskulös: die ganze Erscheinung mit jenem Schmelz der orientalischen Racen übergossen, und originell durch die gewissenhaft altungarische Kleidung; — auf seiner kecken Mütze steckte eine volle üppige rothe Rose! — Ich wiederholte meine Frage etwas leiser, — er lachte langsam, — dann sagte er- „Dieser Dichter ling ist der schlechte, lüderliche Sohn seines guten, ehrlichen Vaters, eines FleischhauermeistcrS im Niederland, und Petöfi hat schon beim Handwerk, später als junger fahrender Schauspieler und dann als gemeiner Soldat nicht gut gethan; er wird auch auf der hiefigen Universität, wo er sich jetzt befindet, nicht viel lernen, darauf geb' ich Ihnen mein Wort!" — Ich ward gereizt, ich schrie ihn an, sprach allerlei von Philisterthum, sagte Etwas von tatarischer Indolenz meiner Brüder, die selbst ihre wahren Propheten nicht anerkennen wollen, und als mein Gegner immer vergnügter wurde, fragte ich ganz höh nisch: „Nicht wahr, gestehen Sie'S, Sie schreiben denn doch keine solche Verse?" — „Ich? gerade ich, leider! schreibe sie; denn ich habe auch diese da ge- schrieben, ich, Petöfi Sandor!" Als der erste Band jener Gedichte erschien, bedauerte die gepuderte Kritik vornehm die Verirrung eines schönes Talentes, dem nur die Beschei denheit und Manierlichkeit abging, um etwas zu werden; das Volk aber griff wie ein Blinder zu, fraß die poetische Kost unbewußt hinein und schwitzte aus allen Poren diesen Liederathcm; aber nirgends erzählte man sich, daß jetzt ein neuer großer Dichter geboren sep, denn, obgleich in kurzer Zeit jeder Stu dent, jeder Dorfbcamte und endlich jeder Schafhirt und Bauer diese Gedichte auswendig kannte und mit eigenen Gesangweisen verzierte, so hielt doch nie mand Petöfi für einen Poeten. DaS war ja zu einfach, das konnte ja eben jeder Csikos selbst dichten; da war ja kein gelehrtes lateinisches Wort, keine su- pcrfeine Floskel oder Schnörkel, wie sic doch der weise Schulmeister anzubrin gen versteht, wodurch seine Ausdrücke um so künstlicher und werther sind, als sie nicht von jedem Dummkopf begriffen werden; mit einem Wort, am Ende glaubte das Volk, es habe selbst diese Lieder erfunden, so ursprünglich waren sie aus des Volkes Innersten genommen. — Ja, auf diese Bemerkung süßt Petöfi's Popularität. Ein großer Theil der großen Menge ungarischer Ly riker ist deshalb so schnell verschollen, weil das Volk erst hätte müssen zu deren individuellem, geschraubtem Jdeengang emporsteigen, trotz unserer Sprache, welche die einzige volkSthiimliche aller Nationen ist;") hier aber stieg ein -) Wir erinnern daran, daß die Anstatt in der französischen Schweiz liegt. ") Die ungarische Sprache, eine orientalische, nicht slawische, wohl au» dem mcdisch.pt,fi schen Sprachenstamm übriggeblicben, hat neben ihrem vollen geschwellten Rhythmus die wun derbare Ausnahme von allen bisher bekannten Sprachen, daß sie durchaus in keine Mundart, Patoi-, Jargon oder Lokal.Accent anSariete, vielmehr der gMumiste Schriftsteller si« so schreibt, wie si« der lehte Bauer, stet« klar und schön, auSspricht. Anm. d. Uebers. großer Dichter zum Volke herab, machte sich ihm anfangs gleich, so roh und flackernd, aber auch so gesund und brav wie das Volk, und somit konnte er eS dann auch zu sich in seiner eigenen Entwickelung emporheben, wie es Petöfi bis heute wahrhaft glänzend gethan. — Der schnell folgende zweite Band „Hjsbb Löllemenyek", enthaltend neuere Gedichte, war schon klarer, bcwuß. ter, somit dichtungSedlcr; die Form war strenger, die Gedanken geschliffener; die Kritik gewann Vertrauen, der Name des Dichters Klang; das Volk aber verstand auch den feineren Erguß, weil es zugleich mit dem Poeten die Bil dung durchwachte und sich im ebenbürtigen ersten Auftreten desselben an sein verstandenes Wort mitangcheftet hatte. Eine reine, keusche, darum erste Liebe gab dem Dichter die „Lrvcelcu» xzöngxei!" (Liebesperlen) — und dieses Mädchens schneller märchenhafter Tod die „t^pruglombonnli." (Zpprcsscnblätter) in die Feder. Beide Bücher standen mit Einem Ruck in den Reihen jener Erzeug, nisse, denen selbst der Splitterrichtcr und literarhistorische Schulfuchs die wahre dichterische Begeisterung, den Anspruch auf höheren bewußten Werth zugeben muß, denn die Freude wie der Schmerz hatten die Dichterseele wunderbar ge läutert, — und auch noch jetzt wurde der Sänger vom Volke verstanden, denn welches Volk verstände nicht die natürlichen Töne der Liebe und der Verzweif- lung! — Vom ersteren Werke sagte einer unserer Kritiker so schön: „Dreimal heilig ist die Liebe eines UngarweibcS, die einen solchen Poeten erzeugt!" — Dann folgte wieder rasch „^»nos Vicer" (der Held Junos) und „s Kelxsex ksl-pücrn" (der Dorfhammer), zwei gute salz- und zuckerhaltige Versuche im GroteSk-Humoristischcn. — Die „Lgilsgtslsn ejek" (Sternenlose Nächte) sind endlich krystallgcschliffene Steine der Form, mit purpurnem Feuer des Gcdan- kenS, vollendet in der Bahn, auf welcher der Dichter hoffentlich fortschreitet, wenngleich in anderartigen Gestaltungen, Seher seiner Nation zu seyn: — und auf dieser höheren Linie wird Petöfi noch voni Volk durch und durch verstanden, denn er hat es zu sich in jene Region cmporgehobcn, wo er dem Gebote der Kunst nichts mehr vcrgiebt, aber auch seine warme Pulsader nicht opfern muß; somit hat er am meisten mitgeholfen, unser Volk zu erwecken, es auf jene Stufe zu bringen, wo wir ihm die Vortheilc unsererBildung mitthei- len können, ohne demselben die GotteSflamme der keuschen Ursprünglichkeit zu verwischen, sondern vielmehr um uns mit ihm zu verbrüdern und vereint zurückznkehren zu einer naturgemäßen familiaircn Entwickelung, benutzend die Lehren der alten Welt, deren verkrüppelte Laster und Schwächen aber nicht in unsere neue Welt der Zukunft mitnehmcnd. Nun, fassen wir den literarhistorischen Charakter Petöfi'S in eins, so müssen wir ihm, ohne patriotisches Fraubasenthum, ohne falschen Enthusias mus, ohne fieberwarme Eitelkeit nicht nur eine große Bedeutendheit in unserer modernen Entwickelung einräumen, sondern auch mit kalter fremder Kritik urtheilcn, daß er einer jener wenigen Geister ist, die innerst im Nationalthum fußend, dennoch auch für die ganze Welt, somit der Universal-Litcratur, die Goethe voraussah, ein gewichtiger Gewinnst ist. Für unser Vaterland aber wird er von noch ausgebreitctercm Segen, wenn man den Augenblick nicht ver- kennt, und durch ihn und mit ihm beginnt und fortfährt, unsere ganze jüngste Literatur auf das Volksthum zu basiren, sie volkSthümlich zu entwickeln. Bedenket, Ungarn, dies haben bisher fast alle übrigen Nationen versäumt! Unser Schriftenthum seit Bersenyi°), hat sich in vier Schulen, Parteien oder Klaffen, scharf gesondert, nämlich in die nach antiken Mustern, also die römisch-griechische, in die französische — dann in die deutsche und endlich in die ungarische oder echt nationelle; zur letzteren gehört Petöfi; er ist so zu sagen im poetischen Theile deren Stern, während ich zur erstgenannten Schule Rüday, B. Birag, Kazinczy, Dayka, Szcmere P., selbst KölcSey, zur zweiten gewiß in vielen Theilen Csokonai, jedenfalls KiSsaludy Sandor, in neuerer Zeit den Dramatiker Czako und den Lustspieldichter Csato P. und Degr«, zur dritten, der deutschen, Eötvös, Szechünyi, Lukacs, Kernnyi, Henzelinan, Pulszky und andere, — zur vierten, der echt magyarischen jedoch, welche ohne alle fremde Einflüsse, einheitlich sich nationcll ungarische Denkweise, Wendung der Ideen, Anwendung der kern- Haftesten, ursprünglichsten Sprache, mit einem Wort, durch in Saft und Kraft der ungarischen Erde entwachsenen Stengel und Bliithcnbüschel auSzeichnct — zu dieser vierten und in unseren Tagen endlich größten, tonangebenden, rechne ich von Bersenyi an: Csokonay, Gvadünyi, Orczy, BitkowitS, Döbröntei, KölcSey, KiSsaludy Käroly, Vörösmarty, Katona, Gül, Erdelyi, Czuczor, Garay, Petöfi, Vachott Imre, dann Fay, Kossuth, StancsicS, Josika in allerlei Fächern.") Freilich ist Vörösmarty"") höher, gewichtiger wie Petöfi; er ist ja ein Dichterkönig von epischer Schwere, von cbenholzschwarzem Glanz, gleich einem Lukrez, Ossian, den Sängern der Edda, wie Uhland, Tegnür und .) Bersenyi Daniel, wohl richtig mit Platen, Leopardi und Byron der glichen, besonders als Ralional-Odendichtcr, wo er eine außerordentliche sfeuschhcil der Ba- terlandsliebc, eine Gluth der Gefühle, einen orientalischen Farbenrcichthum des Gedankens in den reinsten antike» Formen nicderlcgtc, ist für Ungarn schon deshalb der größte Dich, ter, weil nie vor und nach ihm noch einer die ungarische Sprache im nalionclistcn Aus- druch so handhabte wie er, ähnlich, gleichwie etwa im Deutschen, Lessing, AlopstoS »ud Goethe. Anm. d. Nebers. Neber diese genannten Dichter und Schriststelicr könncn wir dcn Lcser, dem ein nä heres Eingehen in die ungarische Literatur angelegen ist, in deutscher Sprache bloß ein zwar altcS, aber immer noch brauchbares Buch empschicn: Tvldy, Handbuch der «nga- rischen National-Pocsic. 2 dich« Bände. Wien n. Pesth, 1817. "I DöröSmartn Mihäln, der Dichter berühmter National-Kimmen und der größte Epiker der Ungarn nebst Czuczor, wurde schon von dem englischen Reisenden Joh n Paget mit D. Hugo, TegnLr und Miczkiewicz glcichgcstellt. Anm. d. Uebers.