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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. PrönumerationS-Preis 22j Silbergr. (4 THIr.) oiertcljüdrlich, Z Tblr. sür dns ganze Jahr, ohne Erhöhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man prannmerirt auf dieses Literatur- Blatt in Berlin in der Expedition der Mg. Pr. Staats-Zoirung (Friedrichs- Straßc Nr. 72); in der Provinz so wie im Auslände bei den Wohllöbl. Post - Aemiern. Literatur des Auslandes. ^4/ 17. Berlin, Mittwoch den 9. Februar 1842. Frankreich. Fanchon das Leiermädchen. i. Wenn man jetzt die Feuilletons des in der Zeit Napoleon's so gefürchte ten Kritikers Geoffroy liest, so fragt man sich verwundert, wie Vieser Mann so lange sein Ansehen hat behaupten können ? Es giebt keine andere Erklärung dafür, als die geringe Anzahl der damals erscheinenden Journale und die außerordentliche Stellung, welche das üuurnul üe I'Lmpire (das jetzige,Iour- »»I üe8 Oebmz) einnahm. Geoffroy's Kritik war roh, ungerecht und leiden schaftlich; seine einzige Kunst bestand darin, Beleidigungen und Schmähungen in ziemlich gutem Styl zu sagen. Seine Kritik griff Alles an, was Erfolg hatte; sic bellte, biß, zerfleischte, wiederholte unaufhörlich ihre Angriffe und ließ sich durch keine Niederlage entmuthigen. Dieser Herostrat, welcher statt der Brandfackel die Feder schwang, be spritzte alles Glänzende und Hohe mit seiner zerfressenden Tinte. Diese machte indeß doch nur Flecken, welche die Zeit wieder verwischte, und trotz aller Mühe gelang es ihm nicht, irgend etwas Bedeutendes zu vernichten. Selbst ein ganz mittelmäßiges Vaudeville, gegen welches er seine Wuth zu zwölf oder dreizehn verschiedenen Malen losließ, machte ein unerhörtes Glück. Es wurde mehr als zwcihundertmal aufgeführt, und noch jetzt werden viele Leute aus den ersten Zeiten der Kaiserherrschaft sich des Namens Fanchon mit großem Ver gnügen erinnern. °) Napoleon, der damals gerade einen neuen Adel ereilte, sprach sich miß fällig über ein Stück aus, in welchem ein vornehmer Herr eine Straßen- Sängerin heiralhele. Sobald die Meinung des Kaisers bekannt geworden war, machte sich Geoffroy ans Werk. Er fiel über Alles her, über die Idee, den Styl, die Couplets und den „philosophischen Gedanken", wie er sich aus- drücktc. Dieses Geschrei und dieser bestellte Zorn schadeten aber dem Stücke durchaus nicht, sondern reizten vielmehr die Neugier des Publikums. Dasselbe riß sich um die Plätze, und es fanden mehrere Duelle für und gegen das Leiermädchen statt. Wie sich leicht begreifen läßt, trugen zum Erfolge Fan- chvn's nicht wenig die Erörterungen bei, welche täglich über die größere oder geringere Authentizität der Anekdote erhoben wurden, die den Stoff des Stückes bildete. Es bestand eine Art unbestimmter Tradition; aber man wußte nichts Bestimmtes, da die Revolution und ihre Verwüstungen über diese Anekdote hinweggegangen waren. Je dunkler aber das Räthsel war, desto eifriger suchte man nach der Auflösung. Eines Abends saß Brazier im Orchester und mochte wohl weniger an Fanchon als an das sicensrium irgend eines noch ungeborenen Stückes denken, als er durch einen Ausruf seines Nachbars aus seinem Nachdenken geweckt wurde. Dieser war ein Mann von ungefähr 80 Jahren, der sich durch seinen Anstand auszeichnete. Er schien den Abenteuern des LeiermäbchenS eine unge wöhnliche Aufmerksamkeit zu schenken, und als der Vorhang fiel, sagte er seufzend: „Arme Fanchon!" — „Sic kennen also Fanchon das Leiermädchen?" fragte Brazier. — „Sie kennen also Fanchon? riefen alle in der Nähe befind liche Personen. — Augenblicklich wurde der Unbekannte von einem dichten Schwarme von Neugierigen umgeben, die auf die Bänke stiegen, um ihn zu sehen und zu hören. — „Sie täuschen sich", antwortete derjenige, welcher sich plötzlich einem so ungestümen Andrange ausgesetzt sah; „ich weiß nichts von dem, was Sie zu erfahren wünschen." — „Fanchon! Erzählen Sie uns Fanchon's Geschichte!" Der Unbekannte setzte sich wieder auf die Bank. Aber die Fragen und die Aufforderungen nahmen nun fast einen drohenden Charakter an. Der Nachbar Brazier's ließ sich indeß dadurch nicht irre machen; er schien den ihn umtosenden Tumult gar nicht zu beachten. Unterdcß war der Vorhang wieder aufgezogen worden, und allmälig wurde die Stille wicderhergestellt. „Mein Herr", sagte Brazier zu seinem Nachbar, „ich muß Sie um Entschuldigung bitten; verzeihen Sie meine Un besonnenheit." — „Die Schuld ist mein", erwiederte dieser; „ich habe mich zu laut geäußert. Indeß muß ich Ihnen gestehen, daß ich nach Beendigung des Schauspiels abermals bestürmt zu werden fürchte. Ich möchte aber nicht gern hier eine öffentliche Rolle spielen." — „Ich kann Ihnen diese Unan nehmlichkeit ersparen: das Stück neigt sich seinem Ende zu; folge» Sie mir, ') Nach diesem Vaudeville hat Kotzebue den Lperutext bearbeitet, der von Himmel mil so glüetlichcm Erfolg in Musik gesetzt worden, daß Fanchon nachmals in Deutschland noch viel bekannter wurde, als sie in Frankreich war. und wir werden durch eine kleine Thür, die nur wenigen Personen bekannt ist, auf die Bühne gelangen." Als der Unbekannte auf diesem Wege in Freiheit gelangt war, sagte er zu seinem Führer; „Ich weiß kein anderes Mittel, Ihnen für Ihre Gefällig keit zu danken, als Ihnen die Geschichte zu erzählen, die das Publikum auf eine so zudringliche Weise von mir forderte. Wenn Ihnen etwas daran ge legen ist, so finden Sie sich morgen um elf Uhr im Oase «le iHv ein." Zur bestimmten Stunde stellten sich Beide am verabredeten Orte ein. „Da Niemand da ist, der uns einander vorstellen könnte", sagte der Mann zu Brazier, „so erlauben Sie mir, Ihnen selbst meinen Namen zu sagen. Ich bin der Gras von C . .. Während der Schreckenszeit wurde mein Name auf die Emigranten-Liste gesetzt. Jetzt bin ich in Paris, um die Streichung desselben durchzusetzen. Lassen Sie uns nun zu der Geschichte kommen, die ich Ihnen versprochen habe. Dazu ist aber erforderlich, daß ich mit meinen Er innerungen aus eine Zeit zurückgehe, wo Sie kaum geboren waren: ich meine das Jahr I77Z. Ich war damals monsgnelawe rouge und brachte, wie alle meine Kameraden, die Zeit, welche mir der Dienst und die galanten Aben teuer frei ließen, im „k-Mran I>Ieu" zu. Der „l'sürsn I,Ieu" war damals der Sammelplatz oller eleganten jungen Leute. Dort spielte man und ver anstaltete Frühstücke und kleine Soupers. Die Abbes und Dichter hatten eine besondere Zuneigung für diesen Ort, und auch die Wucherer fanden sich regelmäßig ein, denn das Geld ging hier schnell aus einer Hand in die andere. Unter den Blutegeln, die diesen Ort besuchten, zeichnete sich besonders ein kleiner, sorgfältig geputzter und gepuderter Mann, Ramens Blandin, aus. Es ist unmöglich, die Menschen mit mehr Heiterkeit und Bonhommie zu ruinircn, als dieser sonderbare Mann es that- Es fehlte ihm nicht an Geist, und er nahm an allen Thorheiten Theil, deren Schauplatz der „Oaüruu bleu" war, aber er ließ sie von seinen Kunden bezahlen. Wenn er Geld lieh, so stellte er immer seine Einladung zu einem Souper als Bedingung. Eines Tages war er nachlässig auf einen Stuhl hingestreckt und schien nur mit seiner Verdauung beschäftigt zu seyn, als ich plötzlich sein röth- liches Gesicht erbleichen sah. Es hatte sich ihm Jemand gegenübergesetzt, der ihn auf eine ziemlich beunruhigende Weise betrachtete. Nach einiger Zeit aber brach dieser in lautes Lachen aus und wendete mir sein Gesicht zu. Ich erkannte den Chevalier Dorat. Dorat war I77Z nicht mehr jung. Die Jahre und der Kummer hatten sein Gesicht etwas entstellt, und obgleich er erst 48 Jahre alt war, so hätte man ihn doch unbedenklich sür einen 70 jährigen Greis halten können. „Ha! Ha! Meister Blandin", ries er, „Ihr Gewissen muß Ihnen sagen, daß Sie die Stockschläge wohl ver dient haben, die ich Ihnen versprochen, da Sie sich so sehr fürchten. Aber beruhigen Sie sich; ich habe Ihnen schon verziehen, daß Sie mich l4 Tage haben einspcrren lassen. Mercier hat den Begründer des -Iourn.il sie» vsme« nicht in Ihren Klauen lassen wollen; er hat meinen Wechsel bezahlt, und Sie sehen mich jetzt wieder bereit, neue zu unterschreiben." Während Dorat so sprach, hatten Blandin'S Wangen sich wieder ge- röthet, und sein Auge erglänzte wieder von roher Freude. „Schämen Sie sich denn gar nicht, Herr Chevalier", murmelte er, „daß Sie ein so schönes Vermögen verschwendet haben?" — „Du willst mir Moral predigen und hast mit Deinen Wucherzinsen mehr als die Hälfte meines Vermögens aufgezehrt. Indeß beklage ich mich nicht; ich brauchte Geld; Du hast eS mir theuer verkauft, aber ich würde es noch theurer bezahlt haben, wenn ich gemußt hätte." — „Indeß, wenn Sie sparsam gewesen waren —" — „Höre, alter Beutelschneider, erspare mir Deine guten Lehren. Nun ich ruinirt bin, kann ich wie Du leben. Du bist ein Tropf." — „Also wenn man für die Zukunft sorgt —" — „Wenn man nicht ein Cretin wie Du bist, so brennt einem das Gold in den Händen; je mehr man ausgiebt, desto mehr möchte man ausgeben; der Aermstc würde ein Verschwender werden, wenn er plötzlich zu Geld käme." — „Rein, mein Herr, er würde sich seiner Armuth erinnern und die Rückkehr derselben fürchten." — „Du bist eben so einfältig wie schurkisch. Sieh nur diese kleine Savoyardin an, die wahrhaftig nicht häßlich seyn würde, wenn man sie aus ihrem Schmutz schälen wollte. Sie schreit sich jetzt die Kehle heiser, um einige Sous zu verdienen. Ich wette, daß, wenn man sie plötzlich reich machte, das Geld wie Wasser bei ihr zerfließen würde." — „Sie kennen die Sa voyarden nicht, Herr Chevalier; ich bin selbst aus dem Lande." — „Willst Du die Wette eingehen?" — „Psui! Sie haben ja kein Geld mehr." — „Nun wohl, ich stelle Dir einen Wechsel aus, und Du leihst mir Geld."