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47V nur seinen eigenen Bedarf, sondern auch den des Kontinents liefert. Die Flachs-Einfuhr ist zwar im letzten Jahre in Frankreich um 30 Millionen Franken gestiegen, aber dies kömmt nur der Quantität gleich, welche ein einziges Englisches Haus, das Marshallsche allein, jährlich verarbeitet. Nicht weniger als 3348 Individuen hatten für die Ausstellung von 1839 in Frankreich Spinn-Maschinen und Gespinnste geliefert. Im Jahre 1814 benahm sich die Französische Regierung höchst un redlich mit Hinsicht auf diese Flachs-Spinnmaschinen. Napoleon halte für die Erfindung einer solchen Maschine einen Preis von einer Million Franken ausgesetzt. Einem recht geschickten Mechaniker, Namens Gerard, gelang es, ein äußerst seines Gespinnst zu erzielen, welches er der Regierung einsandte, die Belohnung dafür mit um- .gehender Post erwartend. Er hatte sich arg getäuscht; man verlangte eine noch feinere Nummer. „Ich hätte diese leicht liefern können", sagte der Fabrikant, als er sein Schicksal erzählte, „aber cs würde darauf nur die Forderung eines noch feineren Gespinnstes erfolgt sepn, bis ich es zu der Dünne eines Spinngewebes gebracht hätte, und auch dann würde ich meine Million nicht gesehen haben." (Schluß folgt.) Englische und Französische Volksfeste, k. Das Englische Kriketspiel. Die Verschiedenheit, welche in der Kleidung und den Sitten zweier benachbarter Völker herrscht, kann nicht größer sepn, als die Verschiedenheit ihrer Vergnügungen und Feste. Man komme z. B. im Monat Juni nach Dover. Das Wetter ist schön, die Geschäfte gehen gut und das Volk ist glücklich, glücklich Jeder in seiner Arr. Eine Menge kleiner gedruckter Zettel begegnet unS, wohin wir treten; sie liegen bei den Konditoren aus, sie find an den Fenstern der Klein händler, auf den Tischen der Schlächter, in allen Wirthshäuscrn und Buchhandlungen in reicher Anzahl zu finden. Jedermann liest sie, legt sie sorgfältig wieder dort hin, von wo er sie genommen hat, macht sich eine Notiz in seine Brieftasche; und was kündigen sic an? Ein Kriketspiel. Einige nennen es das edle Kriketspiel, Andere das Englische Kriketspiel, und die Englischen Damen zieren es mit dem Beiwort des mannhaften. Dieses edle, Englische und mannhafte Spiel wird von zwei Parteien auSgeführt; dir eine trägt kurze blau und weiß gestreifte Baumwollenjacken und enge Beinkleider desselben Stoffes, die andere weiße Lederjacken und Rankin-Pantalons. Zelte werden aufgeschlagcn und in denselben Sitze bereitet für die Frauen, Mütter und Töchter der Kämpfenden; das Volk hält sich in ehrerbietiger Entfernung und wird durch ein Seil von den Uebrigen geschieden; für jede Art der Erfrischungen ist reichlich gesorgt. Die Journal- und ZeitungS-Korrespondenten sitzen auf besonderen Bänken; sie werden festlich bewirthct, und in einigen Tagen liest man überall Artikel: „Großes Kriketspiel zu Dover!!!" Die Damen in den Zelten plaudern über das eingenommene Frühstück, über die Schön heit des Wetters, über die Equipage des Lords, der so eben zum Spiel eintrifft, und über tausend andere denkbare und undenkbare Dinge, nur über Eines nicht, über das Fest, zu dem sie sich ver sammelt haben; höchstens die Farben und Kleidungen der verschie denen Parteien würdigen sie einer Besprechung. Plötzlich ändert sich die Scene. Ein Kriketspieler wird verwundet in ein Zelt ge bracht; ein Ball, welcher ungeschickt geworfen oder ausgcfangen worden, hat ihn verletzt. Von allen Seiten öffnen sich Riechfläsch chen, Lavcndelwaffer und Thränen strömen in die Wunde, und tau send Sympathieen regen sich für den unglücklichen, doch wahrhaft beneidcnSwerthen Helden mit dem Ballschleudcr. Und eS geschieht oft, daß das von dem Stoße gebräunte Auge des Märtyrers ihm ein Lächeln und die Zuneigung der zwei schönsten blaue» Augen der Umgegend erwirbt. Der Tag schreitet langsam fort wie ein Lcichenzug und eben so feierlich. Die Parteien treiben sich gegenseitig aus ihren Lagern und dringen vor und weichen zurück, lange Pausen unterbrechen die kurzen Spiele; einer der Spielenden, auf den die Freunde vorzüglich gebaut, den die Feinde am meisten gefürchtet, muß verwundet ab treten, da durchfliegt ein Jubelruf die Reihen der einen, ein Mur meln des Verdrusses die der anderen Partei. Noch steigen die Staubwolken, noch schwanken die Schaaren der Streitenden unent schieden hin und her, da ergiebt sich erhitzt, erschöpft die Partei mit dcn weiß und ^lau gestreiften Jacken, und Sieger und Besiegte kommen, von Schweiß triefend, in höchster Ermüdung zu ihren Schwestern, Gattinnen und Bräuten, um den Jubel über ihren Sieg und die Klagen über ihre Niederlage anzuhören. Die Großväter . aber und Großmütter können ihrer tiefen Trauer nicht wehren, in dem sie sich ihrer Jugendtage erinnern und den Glanz der damaligen Kriketspicle mit der Bcrberbniß vergleichen, die sich in unseren Zeiten, wie überall, so auch hier, zeigt. Wir haben nicht Zeit, unS bei ihrem Schmerz aufzuhalten; wir eilen über den Kanal, um zu einem Französischen Volksfeste zurecht zu kommen. Das Schiff fliegt mit vollen Segeln. „Kommt, Capitain, erzählt uns eine Geschichte. Waren Sie gestern beim Kriketspiel?" „Nein, Herr, ich hatte nicht Zeit", erwicdert der Capitain, „und vielleicht nicht Lust. Ich denke hierbei ganz wie die Herzogin von Berry!" „Und wie denkt diese, Capitain?" „Haben Sie die Geschichte nie gehört? Nun gut, ich will sie Ihnen erzählen. Vor einigen Jahren wurde die Herzogin von Berry bei ihrer Anwesenheit in England aufgefordert, dem cdlen Kriket- spiele beizuwohnen. Oberst P. und einige andere Edelleute drangen in Ihre Königliche Hoheit, und mit der Liebenswürdigkeit, die sie stets auszeichnet, sagte sie es zu. Der Tag erschien. Die Herzogin langte in einem offenen Wagen an, begleitet von dein jungen Herzog von Bordeaux und seinem Fräulein Schwester. Das Wetter war schön, doch ungewöhnlich heiß. Die Kleidung der Kriketspieler war glänzend; die Bälle flogen zwei Stunden lang und wurden mann haft abgewehrt. Eine Pause tritt ein. Osterst P. näbert sich Ihrer Königlichen Hoheit und fragt, wie ihr das Spiel gefiele. — „Sehr gut", erwiedert die Herzogin; „es ist ohne Zweifel höchst interessant, zu sehen, wie man die Bälle durch Scheite Holz zum Fliegen bringt und im Fliegen aufhält. Doch der Tag ist sehr heiß; ich gestehe, das Wetter belästigt mich. Und, Oberst, eigentlich kamen wir, um das edle Kriketspiel anzusehen; währt es noch lange, bis dics be. ginnt?" — Der Oberst stand verlegen; die Herzogin bemerkte es und fragte: „Was haben Sie, Oberst?" — „Ew. Königliche Hoheit haben es bereits gesehen", entgegnete dieser; „wir haben es so eben gespielt." — „Ah, ist dies das Kriketspiel? In der That, höchst in teressant. Doch ich glaube, Oberst, für heute habe ich genug ge sehen. Es ist so heiß; leben Sie wohl, mein Lieber." — Und der Wagen flog von dannen." Mannigfaltiges. — DaS Deutsche Lied. Die ldevue «les üeux INonllen ent hält in ihrem Hefte vom is. September eine Abhandlung über das Deutsche Lied, die aus der Fede: des Herrn Henri Blaze, deS glücklichen UebcrsctzerS von Goethe's Faust, geflossen ist. Noch be vor dieses Heft unS zu Gesicht gekommen war, batten wir bereits in der zu Karlsruhe erscheinenden „Oberdeutschen Zeitung" einen gegen Herrn Blaze und seinen eben erwähnten Artikel gewaltig eifernden Korrespondenz-Bericht aus Paris gelesen. Wir waren gleich anfangs etwas mißtrauisch gegen diesen Bericht, denn in einigen Süddeutschen Blättern ist cS, nachdem einmal in der Augsburger Allgemeinen Zeitung eine Persiflage Marmier's Beifall in Deutschland gefunden und nachdem sich Herr Soulie und Konsorten mit ihren vom Rhein datirten Aufschneidereien etwas lächerlich gemacht, förmlich Ton ge worden, Alles, was von Franzosen über Deutsche Literatur und Deutsche Zustände gesagt wird, zu verspotten und von vorn herein für Unsinn zu erklären. Der Korrespondent der „Oberdeutschen Zeitung" macht es unter Anderem dem Herrn Blaze zum Vorwurf, daß er Schiller's Kritik Bürgcr's als Beweis ansieht, daß der große Dichter die Bedeutung des „Liedes" mißverstanden und auch selbst kein eigentlicher Liederdichter, wie Goethe, Bürger und Uhland, gewesen sey. Aber werden nicht auch viele Deutsche Verehrer Schiller's in diese Ansicht einstimmen? Giebt ein solches Urtheil jenem Berichterstatter die Berechtigung, Herrn Blaze, der übrigens seinen Respekt vor der Majestät der Schillerschen Muse genugsam darlegt, als einen Barbaren zu bezeichnen? Die Ansichten, die dieser über das „Deutsche Lied" ausspricht, sind ganz geeignet, bas Interesse für unsere Sprache und Literatur in Frankreich noch mehr zu beleben und zu verbreiten, und auch die Liedcrproben, die cr bei dieser Ge legenheit in Uebersctzungen mitthcilt, find nicht minder gelungen, als seine Version von Gretchens Gebet, die sich in Nr. 99 unseres „Magazins" befindet. „In Frankreich", sagt Herr Blaze unter Anderem, „giebt cS nichts, was der Deutschen Lieder-Poesie an die Seite gestellt werden darf. Weder die Fabel Lafontaine's, noch das Lateinische Epigramm Andr« Chenier's, noch bas Couplet Berangcr's ist das Deutsche Lieb; und gleichwohl, müssen wir bekennen, besteht bas Lied auS gewissen Elementen, die jeder dieser drei Gattungen der Poesie wesentlich angehören." — Das Wort „Lieb" ist in der Französischen Sprache bereits eingebürgert; besonders sind es Schu- dert's herrliche und von gcmüthvollcn Franzosen mit Begeisterung aufgenommene Lieber, di» einer gewissen Galtung elegischer Compo- silioncn die Benennung „lo Uvü" verschafft haben. Durch Blaze'S Artikel wird nun auch der Begriff des Liebes in seiner weiteren Be- vcutung erkannt und möglicher Weife auch ein Einfluß auf die Ge staltung der neueren Lyrik in Frankreich geübt werden. — Berichtigung. In dem Artikel „Das Innere des Serai" in Nr. 117 des „MagazinS" sind durch ein Versehen des UebcrsetzerS mehrere Unrichtigkeiten des Französischen Verfassers wiedergegeben, die einer Berichtigung bedürfen, welche eigentlich schon als Anmer kung zu jenem Artikel bestimmt war. Serai nämlich ist kein Tatarisches Wort, sondern echt Persisch und bei den Türken nur eingebürgert; Selamlik heißt nicht „Wohnung des Heils", sondern „BegrüßungS-Zimmer", „Empfang-Zimmer". Für „DobbenS-Agassi" ist zu lesen Dulbend-Agassi. Einen „Sukadar" giebt es nicht, wohl aber einen Tschokadar, der den Mantel des Sultans trägt; auch eristirt kein „Bostandschi-Pascha", sondern »in Bostandschi- Baschi (d. h. „Chef der Gärtner"): Baschi, ein ganz anderes Wort als Pascha, ist basok (Kopf) mit dem Suffir dritter Person (sein oder ihr Kopf, d. h. Chef). Für „Sulask" ist Solak zu lesen; für „Aschatschi" Aschtschi und für „Timaktzy" Tirnatschi. Die meisten Französischen und Englischen Retscbeschrciber sind in ihren Berichten über den Orient höchst ungenau in der Schreibung von Namen und Wörtern, und durch ihr Medium sind solche Verstüm melungen auch häufig nach Deutschland verpflanzt worden. HcrauSzcgcbcu von dec Expedition der Allg. Preuß. Staats-Zeitung. Redigiri von Z. Lehmann. Gedruckt bei A. W. Hayn.