Volltext Seite (XML)
574 Ich wollte sagen... Alle Welt weiß ... Es ist entsetzlich, daß ein Engländer nicht sprechen darf, wenn er will. M Reden der Art darf ich nicht dulden. W Wohl denn, so habe ich nur noch ein Wort hinzuzufügcn: wie trübselig muß die Sache seyn, die vor den letzten Worten eines Sterbenden erzittert! Mein Herr, Sie sind nach den Gesetzen gerichtet worden. „Wohl", seufzte Scot, kniete nieder und betete; zwei Minuten daraus war er in der Ewigkeit. Den folgenden Tag (den Iv. Oktobers fand die Mnrichtung der Obersten Daniel Artell und FranciS Hecker statt. Als die Beiden am Fuße des Gerüstes angekommen waren, rief eine Stimine dem Henker zu: „Hänge sie, hänge sie; das sind Schufte, Mörder; wir wollen sie nicht hören." — „Ruhe!" donnerte eine zweite Stimme im Volk; „der Sheriff weiß, was er zu thun hat." Und Alles schwieg. „Herr", wendete sich der Oberst Artell an den Gerichtsdiener, „ich wünsche frei zu reden, zuerst mit dem Volke und dann mit Gott; denn diese Neve wird die letzte sepn, die ich aus Erden halte." Doch man entgegnete ihm, der Hof habe geboten, ihn nicht reden zu lassen; waS er gesagt habe, sey bereits hinlänglich erwogen worden, und es sey zwecklos, das Alte zu wiederholen; wenn er jedoch Etwas zu sagen habe, was mit seinen politischen Verhältnissen in keiner Verbindung stehe, so sey es ihm gestattet. Ungeachtet aller Unterbrechungen hatten die Reden der KönigS- mörder einen solchen Eindruck aus das Volk gemacht, daß der Hof und der König davor erschraken. Als daher zwei Jahre später Heinrich Vane zum Tode verurtheilt wurde, beschloß man, ihm jede Möglich- lichkeit, die Erlaubniß, auf dem Gerüste zu sprechen, für politische Zwecke zu benutzen, abzuschneiden. Sobalv der berühmte Schuldige auf den verhängnißvollen Stufen angekommen war, jauchzte ihm die Menge zu, die sich neugierig von allen Seiten um das Gerüst drängte. Heinrich Vane winkte Schweigen, er sah mit leuchtenden Blicken auf das Volk hinab und begann: Als mir heute Morgen der Sheriff den Befehl des Königs über brachte, ich dürfe Nichts gegen seine Majestät und deren Regierung sprechen, so hab' ich in gewissen Gränzen zu bleiben versprochen, und meine Rede soll so wenig verletzend seyn als möglich. Gleichwohl überschritt er das vorgeschriebene Maß und fing das Verfahren seiner Richter gebührend zu charakterisiren an. „Sie lügen!" fiel ihm Sir W- Roberson, der wachthabende Lieute nant, ins Wort. „Ich verbiete Ihnen, dergleichen Reden zu halten." Hiermit gab er ein Zeichen, die Tamboure und Trompeter fielen mit furchtbarem Getöse ein; Heinrich Vane deutete durch eine Bewegung an, er wolle sich allen Vorschriften fügen; die Ruhe wurde wieder hergestellt, er erzählte einige Züge seines Privatlebens, doch bat» vergaß er die vorgeschriebenen Gränzen aufs neue, das Getöse fing wieder an, und jeder Versuch, noch einmal das Wort zu bekommen, blieb fruchtlos. Dies war das ersie Mal, daß die Englische Regie rung Jemanden offen das Wort auf dem Schaffst verweigerte. Seit dieser Zeit bediente man sich bei der Hinrichtung politischer Verbrecher meist der gewaltsamen Mittel, sie zum Schweigen zu bringen. Wir erwähnen unter vielen Beispielen nur das des James Renwick, der den 17. Februar IK8S gehängt wurde, weil er die Oberhoheit Jakob's II. nicht hatte anerkennen wollen, und weil er in einem Konventikel gepredigt hatte. James Renwick hatte alle Thatsachen eingestanden, die man ihm zur Last legte. Nachdem er zum Tode verurtheilt war, bot man ihm die Begnadigung an, wenn er sich persönlich an den König wenden wolle. Er lehnte dies ab. Am Tage seiner Hinrichtung überreichte man ihm eine fertige Bitt schrift und bat ihn, sie nur zu unterschreiben; er wies sie von sich. Als er hierauf zu dem letzten Gange abgeholt wurde, gebot man ihm, sich jeder tendenziösen Rede zu enthalten. „Ich habe keine Rede vorbereitet", erwiederte er, „was Gott mir eingeben wird, werde ich sagen." Kaum war er am Blutgerüst angelangt, so rief ihm ein katholischer Priester zu: „Renwick, bete für den König, und aus voller Seele beten wir für dich " — „Ich bedarf eurer Gebete nicht", ant wortete er; „ich werde bald vor dem König der Könige erscheinen, der alle Könige verabscheut, die nicht zu seiner Ehre regieren." Hier bei fielen die Trommeln ein und wirbelten, bis er den letzten Seufzer auSgehaucht hatte. / Gleichwohl blieb das Recht, vom Schaffst hinab zum Volke zu sprechen, in gewissem Sinne unverletzt, und gewöhnliche Diebe und Mörder hatten keine Unterbrechung zu fürchten; dies geht aus fol gendem Beispiel hervor: Meine Freunde, sprach Georges Marley, der im Jahre 1738 eines Mordes wegen hingerichtet wurde, weshalb seyd ihr hier ver sammelt? Um einen Menschen zu sehen, der einen großen Satz aus dem Leben in den Tod macht? Betrachtet mich genau, und ihr werdet den Muth des CurtiuS an mir bewundern. Ihr glaubt, weil ich einen Menschen getödtet habe, bin ich ein Verbrecher? Marlborough hat Tausende getödtet und Alexander Millionen; Marlborough und Alexander sind große Männer in der Weltgeschichte, und wenn ich gehängt werde, so geschieht es nur, weil ich cS in meinem Hand werk nicht allzu weit gebracht habe. Möge sich der Erlöser meiner Seele erbarmen. Als der Herzog von Hamilton daS Gerüst betrat und sich durch das Schweigen, welches um ihn entstand, zum Sprechen ausgefordert sah, bedauerte er lebhaft, daß er nicht dazu vorbereitet sey; gleich wohl sprach er aus dem Steigreis, doch als er Mehrere bemerkte, die seine Worte nachschrieben, ries er mit tiefem Schmerz auS: „Wie leid thut es mir, daß ich dies nicht voraus gesehen habe, ich würde weit klarer, methodischer, erschöpfender gewesen seyn." — Frederic Bardie, ein Franzose, der I8ll hinrichtet wurde, bediente sich des Henkers sogar zum Dolmetscher, weil er nicht Englisch sprach. Diese Reden nun wurden stets vsn Stenographen nachgeschriebcn und erschienen gedruckt. (Fortsetzung folgt.) Griechenland. Ueber den Charakter und die Mission des SokrateS. (Schluß.) Es wäre nicht ohne Interesse, jene Epoche wenigstens annähe rungsweise bestimmen zu können. Ich bin geneigt, zu glauben, daß sie später ist als die Aufführung der „Wolken". Meine Gründe hierfür sind folgende: In der Art, wie das Orakel abgefaßt ist, in jener Vergleichung des Sokrates mit zwei dramatischen Dichtern erkenne ich die Absicht, den AristophaneS herabzusctzen und seine Angriffe ge gen Sokrates zu bekämpfen. Das Orakel will gleichsam sagen: AristophaneS spottet über Sokrates, und doch ist Sokrates weiser als Sophokles und Euripides, die selbst viel weiser als AristophaneS. In diesem Sinne aufgefaßt, entspricht daS Orakel vollkommen dem Gedanken dessen, der es sich geben ließ, des Chärephon. Dieser Mann, ein enthusiastischer Bewunderer des Sokrates und von glei chem Alter mit ihm, war in den „Wolken" sehr mißhandelt worden; bei seinem gereizten, absprechenden Charakter (man vergleiche das Gespräch seines Bruders Chärekratcs mit Sokrates im zweiten Buch der Xenophontischen Memorabilien) ist es wahrscheinlich, daß er die Scherze des komischen Dichters nicht so gelassen ertrug wie sein Freund, und daß er folglich, als er in Delphi war, auf den Gedan ken kam, die Pythia zu befragen, um dem Beifall, den die „Wolken" davongelragen, einen Spruch Apollo's entgegenzustellen. Ohne diese Annahme begreift man nicht, was auf einmal Chärephon dazu trieb, sich in Delphi der Weisheit seines Freundes zu vergewissern. Er bezweifelte dieselbe gewiß nicht; man schildert ihn uns als einen Enthusiasten; wenn er diesen Schritt that, so geschah es nur, um einen furchtbaren öffentlichen Angriff gegen seinen Freund zu crwiedern; vor den „Wolken" aber bemerkt man nicht die geringste Spur eines solchen Angriffs. Eine aufmerksame Vergleichung der „Wolken" und der Apologie führt zu demselben Resultat. Bekanntlich erzählt Sokrates in der Apologie, wie er seit dem Orakel sich es angelegen seyn ließ, alle MMner, die im Ruf der Tüchtigkeit oder Weisheit ständen, zu prü- ihnen zu zeigen, daß sie nichts wüßten; kaum läßt sich etwas vMen, was sich leichter zur Persiflage eignete als dieser Zug; wie will man eS nun erklären, daß AristophaneS hiervon keinen Gebrauch gemacht, wenn man nicht unserer Annahme folgt, daß jene Bestre bungen des Sokrates jünger find als die „Wolken". Weit entfernt, uns den Sokrates so zu zeigen, wie er den Leuten nachläuft, um sic auszufragen, spottet vielmehr AristophaneS über die Art, wie er „auf den Straßen geht, mit stolzer wegwerfender Miene die Augen nach beiden Seiten hinwcrfend", und über „die Menge von Leuten, die er alle Tage an seiner Thür habe, und welche kämen, um ihn über schwierige Fragen und gewinnreiche Prozesse zu Rathe zu ziehen." Diese letzte Stelle des AristophaneS, verglichen mit einigen anderen Nachrichten, bietet eine schätzbare Ausklärung darüber, jvon welcher Art wohl der Ruf und der Einfluß seyn mochte, den Sokrates zur Zeit der „Wolken", d. h. ungefähr vierundzwanzig Jahre vor seinem Tode besaß. Es ist anerkannt, daß der Begriff, der in der Philo sophie mit dem Ausdruck Schule verbunden wird, ein Begriff, der sich erst nach Sokrates gebildet, auf den Kreis von Leuten, der sich um ihn sammelte, nicht anzuwendcn ist. Er lehrte nicht im strengen Sinne des Wortes; man kann ihn nicht als einen Meister betrachten, dessen Schüler die Lehre aufnehmcn und sortpflanzcn sollten. Es war also nicht der Reiz eines neuen Systems, der zu ihm lockte. Man weiß überdies, daß seine ersten Schüler Männer seines Alters waren, wie Chärephon, der Freund seiner Kindheit, Chärekrates und Kriton, und eS ist wahrscheinlich, daß diese Männer, die nicht mehr jung waren und ihre fertigen Meinungen hatten, etwas Anderes bei So krates suchten, als bloße Meinungen. Diese Betrachtungen, verglichen mit der Aristophanischen Stelle und folgenden Zeilen Xenophon's, wer den uns auf die richtige Spur führen. „SokrateS", erzählt Xenophon, „versicherte, daß er von Gott geführt und erleuchtet wurde, und daß er nach diesen göttlichen Eingebungen mehreren von seinen Freunden im voraus anzeigtc, was sie zu thun und zu lassen hätten. Die, welche ihm glaubten, haben sich wohl dabei befunden, die Anderen hatten es zu bereuen, daß sie ihn nicht gehört.... Nun ist cs klar, daß er eS nicht gewagt hätte, die Zukunft vorhcrzusagen, wenn er nicht sicher gewesen wäre, wahr zu sprechen." In der Apologie, die demselben Schriftsteller zugeschrieben wird, sagt SokrateS: „Zum Beweise, daß ich mich nicht des Namens Ler Gottheit bediene, um die Menschen zu blenden, führe ich nur an, daß, fo oft ich meinen Freunden ihre Befehle und ihren Willen mittheilte, niemals der Er folg meine Worte Lügen strafte." Aus allen diesen Angaben zusammen kann man ohne Verwegen heit schließen, daß die Eingebungen seines Schutzgeistes eS waren, denen SokrateS seinen ersten Ruf, seine ersten Schüler verdankte. Dieser erste Zeitraum seines Lebens war im Vergleich mit dem zweiten verborgen. Vii recenir Lucratei» sagt Seneka. Sein Rus kam ihm durch die Angriffe des AristophaneS, den Ausspruch des Delphischen Orakels und das öffentliche Leben, das er seitdem an nahm, um die Mission, mit der er sich bekleidet glaubte, zu erfüllen. Bisher hatte er umgeben von einem engen Kreise von Freunden und