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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumcratienß- Pr-is 22z Sgr. (z THIr.) vierteljährlich, Z Lhlr. für r.is cmnze Jahr, ohne Er Höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. M a g a z i n für die Man pränumerirt auf dieses Literatur Blatt in Berlin in der Expedition der Allg. Pr. StaatS-Zeltung (Fricdrichssir. Nr. 72); in der Provinz so wie im Ausland« bei den WohUSbl. Post-Acmtern. Literatur des Auslandes. . l 144. Berlin, Mittwoch den I. Dezember 1841. England. Das Sprechen vom Schaffvt herab. i. Unter allen Völkern Europa's ist John Bull, ich will nicht sagen die ergötzlichste, doch sicher die am meisten ercentrische Gestalt und die, welche für den Beobachter das meiste Interesse bietet; zu jeder Zeit, in jeder Lage macht er ein und dasselbe höchst originelle Ge sicht, er verleugnet seine Eigcnthümlichkeit nie. Bei Hochzeiten und Begräbnissen, in der Stadt und auf dem Lande, im Theater und in der Kirche, stets bleibt er gleich pathetisch, nüchtern, frostig, regungs los, stumm, gelangweilt zum Sterben und oft mit einem unwider stehlichen Drang zum Selbstmord. Der Franzose hat ein stetes Be- dürfniß nach Mitthcilung, durch sie fühlt er das Leid halb, die Freuve doppelt; der Engländer schließt sich im Unglück wie im Glück ab, und ein warmes lebhaftes Gespräch gehört in England zu den Merkwürdigkeiten. John Bull nun ist nicht stumm im eigentlichen Sinne des Wortes; er hat die Gabe der Sprache empfangen, und bisweilen dankt er seinem Schöpfer für dieselbe, indem er den eifrigsten Ge brauch von ihr macht. Ein Britischer Mund ist in dieser Hinsicht mit dem Krater gewisser Vulkane zu vergleichen; er bleibt sehr geschloffen, doch wenn er plötzlich sich öffnet, wenn er losbricht, WM wehe dem, über welchen die Lava ausströmt. Dickens hat im ersten Kapitel seiner Pickwicker diese Eigenthümlichkeit seiner Landsleute sehr geistreich pcrsiflirk. Diese Reden, die bei dem plötzlichen Aufthauen der Lippen zu Tage kommen, mieocb genannt, sind ihr Element, ihr Leben, ihre Seligkeit. Ein Gesetz, welches dies ihr Hauptver gnügen untersagte, würde in sechs Monaten auf ihrer Insel größere Verwüstung anrichten, als die Cholera in Indien in zehn Jahren. In Rücksicht nun auf die wahrhaft merkwürdige Menge solcher Reden, die John Bull das Jahr hindurch hält, kann man ihn als ein ganzes Volk und als das geschwätzigste, muthwilligste und glücklichste der Welt betrachten. Er liebt die öffentlichen Reden so sehr, daß er seine Leidenschaft selbst auf dem Schaffst geltend macht. Alle Ver- urtheilten, politische und religiöse Märtyrer, Mörder, Diebe, Be- trüger, unterhandeln einige Minuten, bisweilen einige Stunden mit denn Henker, um vor dem Tode noch eine Rede zu halten, » ä^ing «peeeb, wie sie heißt. „Wenn die Engländer ihr Leben gering achten", sagt Voltaire, „so muß man gestehen, daß die Regierung sic stets nach ihrem Wunsche behandelt hat; die Englische Geschichte könnte durch den Henker geschrieben werden." In der That ist die Zahl der Hinrich tungen während der letzten acht Jahrhunderte in keinem Europäischen «staate so groß wie in England. Allein unter der Regierung Hein- rich's VIN. betrug sie nach Samuel Romllly'S Versicherung 70,000. Oeffnet man nun die großen Sammelwerke, welche Berichte über die wichtigsten Kriminal-Proz;ffe Großbritaniens enthalten, durch läuft man die State lrials und den IVeevgate calenüar, so überzeugt man sich, daß unter hundert Vcrurtheilten stets neunzig Reden vor der Hinrichtung gehalten haben; das Sprechen ist nicht bloß ein Recht, es wird zur Pflicht. Es giebt in England viele Gebräuche, die zur Geltung positiver Gesetze erhoben worden sind, so das Sprechen auf dem Schaffst; cS ist nie direkt erlaubt und nie verboten worden, und wenn man auch ost die Tromineln schlagen und die Trompeten blasen ließ, um die Stimme derer zu übcrtaubcn, welche von verfänglichen Gegenständen sprächen, so hat man doch denen nie das Wort verweigert, welche eine friedliche Rede halten wollten. Die Geduld, mit der man die selbe anhörte, gränzte oft ans Unglaubliche. Charles Walket, der unter Karl II. (1663) hingcrichtet wurde, unterbrach sich, nachdem er eine Viertelstunde gesprochen, und bat den Gerichtsdicncr, ihm nur eine kurze Zeit noch zu gestatten, er wolle nichts als das Nothwendigste hinzufügen. „Nehmt Euch Zeit", entgegnete der Angeredete; „ich werde warten, bis Ihr fertig scyd." Bei der Hinrichtung des Sir John Freind und Sir William Parkins, welche Beide des Hochverraths angeschuldtgt waren, sagte der Gerichtsdicner höchst zuvorkommend: „Wenn Sie Zeit zum Sprechen bedürfen, so nehmen Sie dieselbe; ich setze eS ganz in Ihren Willen." — „Herr", entgegnete Sir John Freind, indem er ihm ein Papier übergab, „ich hin hierher gekommen, um zu sterben, nicht, um Reden zu halten. Ich wünsche, daß dieses Papier gedruckt wird, damit meine Mitbürger es lesen. Ich habe Nichts zu thun, als Gott zu bitten, daß er sich meiner Seele erbarme; ihm empfehle ich sie." — „Gott wird sich ihrer erbarmen." — „So hoff' ich, Herr." — „Sir John, wenn Sie mehr Zeit bedürfen, wir warten sehr gern." — „Ich danke, Herr." So macht man förmliche Komplimente, und wenn sich die Gc- richtspersonen einige Bemerkungen erlauben, so bitten sie viel mehr, als sie befehlen. Bei der Hinrichtung eines gewissen GibbS (>662), der ungemein lange sprach, erklärte der anwesende Diener der Ge rechtigkeit: Was Sie sagen, ist Alles sehr schön und passend, doch Sie wiederhole» sich; ein anderer Ihrer Freunde hat nach Ihnen zu sprechen, und unsere Zeit ist gemessen, ich bitte, fassen Sie sich kurz. — Bisweilen sind die Berurthcilten selbst ungeduldig und begehren zu sterben; sie bitten daher ihre Leidensgefährten selbst, ihre Reden abzukürzcn, welche, so schön sie sind/ doch nicht hierher gehören (Cuffe und Merrick, 1600). Die Sprechenden durch gewaltsame Mittel, wie durch Trommeln und Trompeten, zum Schweigen zu bringen, hat man erst unter der Regierung Karl'S H-, nach der Restauration, angefangen. „Gehet den Weg des Herrn", sagte Donald Cargill (1681), „sonst werdet ihr einst größere Qualen ausstehen, als die sind, welche grausame und blutdürstige Mörder uns zufügen." Da wirbelten die Trommeln und übertönten seine Stimme. „Ihr seht", fügte er lächelnd hinzu, „man gestattet uns nicht, zu sprechen, wenigstens nicht zu sprechen, was wir wollen." Die Tudors und die beiden ersten Könige aus dem Hause Stuart haben keinen ernsten Angriff gegen die Freiheit des Wortes aus dem Schaffst gewagt. Oft fanden die Vcrurtheilten sogar schützende Stimmen unter der Menge, welche die GcrichtSdiener tadelten, wenn sich dieselben erlaubten, die Redenden zu unterbrechen. Die Stunde ist um, sagte eine Magistratsperson zu Sir Christoph Bluet (1600), kommen Sie zu Ende. Alsbald traten Lord Gray und Sir Walter Raleigh heran, befahlen dem Unterbrechenden, zu schweigen und den Schuldigen sprechen zu lassen, so lange er wolle. In dieser Hinsicht boten die Hinrichtungen der Königsmördcr (1660) manches Interessante; man dachte daran, ihnen das Reden ganz zu verweigern, doch die Scheu vor dem Umstürzen eines alten Herkommens hielt davon ab. Als der General-Major Harrison am Fuße des Blutgerüstes ankam, ries eine verlorene Stimme aus der Menge: „Wo ist eure gute Sache jetzt?" — „Hier", sagte er, indem er die Hand aufö Herz legte, „und mit meinem Blute will ich sie be siegeln. Ich sterbe für die glorreichste Sache, für die noch irgend Jemand gestorben ist." Hierauf bestieg er die Leiter und wendete sich in einer langen Rede an das Volk. Zwei Tage darauf starb John Carew und hielt vor dem Tode eine so lange Rede an das Volk, daß ihm, nach seinem eigenen Aus druck, die Stimme in der Kehle vertrocknete. Den folgenden Tag (den 16. Oktober) kam John Cook an die Reihe: „Ich bereue nicht, was ich gethan habe", rief er aus, nachdem er lange von seiner Re ligion und seinem Stande gesprochen hatte; „ich sterbe für die Sache Gottes und Christi." — „Es wäre wünschenswcrth, daß Sie sich solcher Reden enthielten", bemerkte eine Gerichtsperson. — „Man pflegt in England so wenig als in der Türkei die Menschen zu mißhandeln, wenn sic zum Tode geführt werden; darum unterbreche man mich nicht. Was ich vor meinen Richtern gesagt, darf ich vom Blutgerüst herab wiederholen." „Meine Herren", sprach Thomas Scot, „ich bin hier ein Schau spiel für Gott, für die Engel und für die Menschen. Ich halte eS für paffend, Sie hier davon zu unterrichten, weshalb und wie ich in diese Lage gekommen bin. Am Anfänge dieser Unruhen war ich, wie viele Andere, höchst unzufrieden; ich sah, zu meinem großen Schrecken, die Freiheit und die Religion meines Volkes in der dringendsten Ge fahr, ich sah ... Wenn Sie beten wollen, unterbrach ihn der Gerichtsdicner, so nehmen Sie Ihre Zeit wahr. Ich will keine Vorwürfe machen, rief Scot. Gilt gleich; Sie haben nur noch wenige Zeit, unterbrach ihn der Gerichtsdicner nochmals; ich bitte, zum Gebete zu kommen. Ich werde sprechen. Ich beschwöre Sie, Herr, beten Sie. Ich muß meinen Lebenslauf erzählen, von meinen Grundsätzen, meiner Handlungsweise sprechen, denn ... Es ist für diese Stunde angemessener, zu beten; Sic haben nur noch wenige Minuten zu leben, denken Sie an Ihr ewiges Heil-