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346 besteht, welche nur diejenigen orthographischen Gesetze gelten lassen, für welche der Verstand und die Ueberlieferung alter Sprachdenk mäler spricht. Diese Gesellschaft beschloß 1837, eine Zeitschrift herauszugeben, die für literarhistorische und grammatische Forschungen bestimmt und der Leitung des Herrn Willems anvertraut wurde, welcher, durch mehrere Gelehrte und Literaten unterstützt, alle drei Monate eine Lieferung des „Belgischen Museums" herausgiebt, so daß gegen wärtig bereits der fünfte Band dieses interessanten Journals er scheint. Wir dürfen nicht zu erwähnen vergessen, daß die Regierung bereits vor der Ernennung dieser Kommission die Bedeutung dieser alten literarischen Schätze einsah und Len lebhaften Antheil, Len sie an denselben nahm, an den Tag legte. I83l> nämlich ließ sie zu London das kostbare Manuskript des „Reinard de Vos" ankaufen, des Flamändischen Originalgedichtes aus dem dreizehnten Jahrhun dert, das einen Europäischen Ruf genießt. Man übertrug Willems die Ausgabe dieses satirischen Werkes, der bekanntlich diese Aufgabe auf bas Rühmlichste gelöst hat. Das schöne Buch erschien mit An merkungen und Illustrationen und giebt in der Vorrede einen Ucber- blick Ler gesammtcn Schriften über den Reinecke Fuchs. Der fleißige Forscher gab balv darauf die Schlacht von Woeringen von Johan van Heolu heraus, eines der merkwürdigsten Heldengedichte des Mittelalters, voll interessanter und bisher völlig unbekannter Einzel heiten. Während Lies in Belgien geschah, setzte Hoffmann von Fallersleben, fern in Deutschland, zu Breslau, seine llnrae Ikelxieae fort, die 1830 mit einer Liedersammlung begonnen hatten und nach und nach „Caerl en Elegast, Lantsloot, Ranout van Montalbaen, Esmoreit, Lippyn, Gloriant, Rübben" und anders poetische Werke brachten, welche von der Kraft unserer Väter zeugen. Dies waren, wenn man will, nichts als Reproduktionen, neue Ausgaben alter Schriften; doch man kann sie als den Eckstein betrachten, auf dem der Bau der modernen Flamändischen Literatur sich jetzt erhebt. Sie zogen die Aufmerksamkeit wiever auf eine Literatur, die man fast vergessen hatte, und hoben die Verachtung auf, mit der man auf sie zu blicken schien; höchst gebildete Männer, die nur an der literarischen Bewegung in Frankreich Theil nahmen, wandten sich ihr zu und fühlten, daß die Ehre des Landes es fordere, eine Sprache nicht zu vernachlässigen, die einst eine ausgebreitete Literatur besessen, und die noch jetzt von der halben Bevölkerung Belgiens gesprochen wird. Es entstand eine Art von Neaction, die jedoch der Entwickelung der Französischen Literatur bei uns nicht schadete. Zugleich drohte ein Hemmniß, den Aufschwung unserer Literatur aufzuhalten: man glaubte in ihr eine Rückkehr zu der Holländischen Sprache zu sehen, und dies bewog die Wallonen zu dem Versuche, sie zu unterdrücken; ein gewisses Mißtrauen, ein Argwohn schlich sich zwischen die beiden Theile der Bevölkerung ein; doch balv erkannte man, daß die Flamändcr ihre alte Sprache Niemanden ausdrängen, sondern nur sie erhalten und weiter ausbilven wollten. (Schluß folgt.) Frankreich. , Lemercier's und Victor Hugo's Stellung zur Französischen Literatur. Aus Salvandy's ErwieLerungsredc an Victor Hugo in der Französischen Akademie. (Schluß.) Freuen Sie sich, mein Herr, daß Sie zu einer Zeit gekommen sind, wo das Problem, Las diesen edlen Geist quälte, gelöst war. Die Zweifel der Vernunft und Les Gewissens hatten aufgehört: der menschliche Geist war wie der verlorene Sohn in das väterliche Haus zurückgekehrt. Frankreich war, durch das Kaiserthum hindurch, endlich wieder beim alten Glauben wie bei der alten Dpnastie an gekommen, und hoffte, sich mit allen seinen Eroberungen unter dem Schutz der neuen Königlichen Freiheiten auszuruben. Die drei Quellen aller Poesie, Freiheit, Gruben und Tradition, flossen in reichem Strom. Am ersten Tage der neuen Ordnung traten drei junge Männer auf, Männer, die eine Generation selten vereinigt, der Sänger der Messlniennes, der der Meditationen und Sie. Der Eine feierte die Schmerzen des besiegten Patriotismus, der Andere die erhabenen Qualen der freien Phantasie und Vernunft, der Dritte, Sie, die Erinnerungen und Wünsche des monarchischen und religiösen Frankreichs: eine wunderbare Literatur, die zugleich antik von Seiten des Geschmacks, Französisch von Seiten des Herzens und christlich von Seiten der Gedanken war. Es ist die Ehre der Restauration, Euch Drei geboren, es ist die Ehre unserer Institutionen, Euch Drei erobert zu haben. Wie edel und rein waren da Ihre Gesänge! Wenn man sie liest, erstaunt man, daß es Ihnen in solcher Jugend gegeben war, die Entschiedenheit des Gedankens mit der Einfachheit des Stils zu vereinigen,! die majestätische Strophe der Ode mit den politischen Interessen, die Ihre Seele beschäftigten, zu beleben, indem Sie, als wäre es die natürliche Sprache Ihres Geistes, die beste poetische Sprache unserer beiden großen literarischen Zeitalter redeten. Der lyrische Dichter scheint ein auserwähltes Wesen in jener edlen Fa milie von begeisterten Denkern, die wir Dichter nennen. Für die Neueren, die sie nicht singen, muß die Ode dennoch ein Gesang seyn, sie muß zugleich eben so lebendig und eben so regelmäßig wie dieser seyn. Man fordert von ihr mehr Schwung bei größerer Gebunden heit, mehr Gefühl und Enthusiasmus bei größerer Gewandtheit, Hindernisse zu überwinden. Daher findet man auch in jeder Literatur Epoche nur einen oder zwei große Lyriker. Es gehört dazu ein Herz, welches fühlt, Ereignisse, die begeistern, Zeiten, welche glauben oder den Weg zeigen. Der Dichter muß sich mit seinen Zeitgenossen eins fühlen. Es sind nicht seine einsamen Leidenschaften, die er aus drückt, sondern die ihrigen. Er trägt ihre Ueberzeugungen, ihre Ideen in sich, und dazu kommt dann jene Gabe von oben, jene Feuersprache, die nur den seltenen Auserwählten des Himmels zu Theil wird. Alles dies hatten Sie. Frankreich, bei dem Ihre Stimme nicht überall Antwort fand, erkannte in Ihnen den lyrischen Dichter. Und in Allem, was Sie seitdem herausgegeben, in den Herbstblättern, den Dämmerungsliedern, den Orientalen, den inneren Stimmen haben Sie gezeigt, daß, wenn Sie wollen, Sie es wieder werden können. Ihre Meinungen und Arbeiten sollten Metamorphosen durchmachen, die aus dem doppelten Genius, der über Ihre Kindheit wachte, zu erklären sind. Sohn einer Vendeerin und eines tapferen Soldaten des Kaiserreichs, erzogen in den Glaubensansichten der Mutter und zugleich in Lem Lärm Les Soldatenlebens, unter den schwarzen Felsen der Insel Elba, in den wilden Landschaften Kalabriens, dem schreck lichen Drama der Spanischen Jnsurrection, waren Sie von zwei Geistern und zwei Richtungen geleitet. Ihr edler Vater hatte gesagt: „Das Kind hat die Meinungen seiner Mutter, der Mann wird die des Vaters haben." Die Prophezeiung erfüllte sich rasch. Der ältere Ruhm Frankreichs begeisterte Sic zuerst, dann besangen und vertheivigten Sie den neuen, und durch diesen wurden Sie ein Käm pfer der Freiheit. Unter der Restauration ging diese Veränderung in Ihnen vor sich. Aber Sie hatten sehr Recht, indem Sie selbst in einem Ihrer Bücher dem Jakobiten von 1820 den Revolutionair von 1830 gegcn- Merstellten, Nichts von dem zu widerrufen, was der erste Einfluß,' der Sie beherrschte, Ihnen diktirt hatte. Er war Ihrem Ruhme heilsam: man merkt überall in der Form den Einfluß Ihrer Griechischen und Lateinischen Studien, und in der Inspiration den Hauch einer Mutter. Man möchte die Reihe Ihrer Schriften jenen frischen, lebendigen Bächen vergleichen, die man immer reiner und klarer findet, je mehr man sich ihrer Quelle nähert. Als die Zeit Sie fortriß, schien sie die düsteren und stürmischen Eindrücke Ihrer Kinvheit in dem Strom auszurührcn. Mehrere wahrhaft schreckliche Werke gingen daraus hervor. Damals schien sich Alles in Ihnen zu verändern, nicht bloß die Ideen, sondern auch der Glaube, die Formen, die Vorbilder. Diese zweite Periode Ihrer literarischen Laufbahn hatte zum Vorbild das Mittelalter, zur Form das Drama; Ihr Glaubens-Symbol schien zuweilen das schreckliche Wort zu seyn, das auf Lem Frontispiz von Notre-Dame geschrieben steht. Während Sic in der Politik mit der Gluth Jhrcs Alters und Ihrer Zeit sich an den Bewegungen derselben lebhaft betheiligtcn, versenkten Sic sich in Ihren Studien mit steigender Bewunderung in die Vergangenheit Frankreichs. Eine forschende, begeisterte Beobach tung ließ Sie in dem Schatze unserer Traditionen vergessene oder nicht genug gewürdigte Wunder erkennen. Nie war das Mittelalter so populär gewesen, als seit 1830 durch Sie. Die Literatur, die Sprache, die Künste interessirten Sie gleich sehr. Es ist nicht zu leugnen, daß Ihre reiche Sprache, Ihr fruchtbarer Gedanke in dieser Quelle neue Hülfsmittel geschöpft. Andererseits haben Sie einen Dienst geleistet, für den Ihnen die Literatur in ihrem wie im Namen der Künste zu danken hat. Sie haben unsere alten Denkmäler wieder zu Ehren gebracht. Keiner hat die gegenwärtige Generation mehr als Sie gelehrt, diese hundertjährigen Blätter in dem Leben der Völker zu verstehen und zu achten. Es war die Zeit, wo Sie den Namen eines Revolutionair annahmen. Sie irnen sich. Sie empfahlen die Achtung gegen die Vergangenheit. Ein Abgrund trennte Sie von der Sache, der Sie anzugehören schienen. Unter diesen Eindrücken versuchten Sie sich am Drama. Sie haben ihm seine zwei Hauptformen gegeben, den Roman und das Theater. Ihr Theater, das in vielen Stücken so merkwürdig ist und namentlich durch eine seltene Kunst in dramatischen Effekten sich auszeichnet, ist noch zu neu, zu gleichzeitig, um schon jetzt unter dem Gesichtspunkt der literarischen Prinzipien, der Regeln, des Stils, kurz alles dessen, worüber einige Jahre hindurch so lebhaft gestritten worden, beurtheilt zu werden. Was ich aussprechen darf, ist, daß Niemand besser als Sie die Kraft jener beredten Sprache durch Wort und Handlung, die man die scenische Kunst") nennt, charak- terifirt hat. Sie haben jene schöne Marime niedcrgeschricbcn, daß der Dichter es mit Seelen zu thun hat. Sie haben laut jene philo sophische Tragödie verurtheilt, die eine Gesellschaft zertrümmert, deren Ruinen sie begraben werden. Sie haben der Kunst vorgc- schrieben, nicht bloß das Schöne, sondern das Gute »u suchen, und diese Marimen haben Sie jetzt eben aufs neue ausgesprochen. Man kann das Ziel nicht höher stellen. Um cs zu erreichen, haben Sie öfter jene Ehrfurcht gegen das Alter, jene Sorgfalt für das Weib, jenes Mitleid gegen den Schwachen und Enterbten auf die Bühne gebracht, welche eben so edle Gefühle als mächtige Motive der Kunst sind. Aber haben sie sich nicht stets von einem sinnreichen, neuen, gefährlichen Gedanken leiten lassen? Bisher hatte der Dichter seine Personen als Typen hingestellt; seine Charaktere waren einfach und von einem Guß. Er stellte in ihnen eine Leidenschaft dar, die sie auszeichnct und Alles übrige verwischt. Man muß eS zugeben, es ') Hier war es, wo die Klanges-Achnlichkeit in dem Ausdruck: arr »c-nigu« mit »r«„n>r eine kleine Heiterkeit bei den Zuhörern erregte, indem man darin einen Calembourg aus die Blut- und Schauerscencn der Huaoswen Stucke, in denen Gist und Dolch ein so bedeutendes Vehikel des dramatischen Knotens bilden, zu erkennen glaubte: was auch den Redner bewog, sich schnell verbessernd, hinjiizusiigen, er wolle lieber statt art «croigue den besser Zranzö- stschen Ausdruck an lUöütru! gebrauchen.