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342 bitte ich ihn, mit mir den Thurm des Palastes zu besteigen; hier genießen wir eine weite Aussicht über Vic Stabt und ihre Umgebung. Die breite graue Wasserfläche, Vie sich vor unseren Blicken auS- vehnt, ist ber Zuydersee, dessen dunkle trübe Wellen sich langsam fortwälzen, bis sic sich mit dem Deutschen Meere vermischen. Auf der westlichen Seite erblicken wir das Ei, ein Gewässer, welches von seiner Gestalt den Namen hat und Nord- und Süd-Holland scheidet. Mehr südlich begegnet uns das Haarlemmcr Meer, das in der Sonne wie ein Spiegel glänzt. Rings um diese Waffermasscn brei ten sich weite grüne Ebenen aus und mischen sich in der Ferne mit dem Blau der Wolken. Zu beiden Seiten gewahrt man Gruppen von Thürmen und Zinnen, die dunkle senkrechte Linien in den Hori zont ziehen. Dies ist Alkmaar, Haarlem, Levden, Utrecht, die man nebst vielen anderen Städten in allen Richtungen erkennt. Dies Panorama bietet wenig Abwechselung, doch es ist eigenthümlich und entbehrt einer gewissen Großartigkeit nicht. Die weiten, mit frischem Grün bedeckten Ebenen versetzen in ihrer Einförmigkeit das Gemüth in eine gewisse ruhige, angenehm melancholische Stimmung. Ge birgsgegenden stellen bas bewegte Leben dar, sie erwecken Gedanken von Kämpfen und Hindernissen; Ebenen sind ein Bild des ruhigen, gleichmäßigen DasepnS, welches von keiner Leidenschaft, keinem Kampfe bewegt, friedlich dabingleitct. Die Stadt unter uns trägt das Gepräge ter höchsten Einför migkeit. Mit Ausnahme von zwei Gothischen Kirchen und fünf oder sechs Thürmen, die durch ihr betäubendes Glockengeläut und die Spa nische Bauart erkennbar sind, kann man die Staatsgebäude von den Privathäusern nicht unterscheiden. Das bedeutendste Staatsgebäude ist der Palast, auf dessen Spitze wir uns stehend denken. Der vier eckige Platz, auf dem er stebt und den er allein fast ganz erfüllt, heißt der „Dam" und bildet den Mittelpunkt der Stadt. Ursprüng lich war der Palast in reinem Gothischen Stple ausgeführt; später, als er zur Residenz König Ludwig Bonaparte's eingerichtet wurde, hat man ihn modernisirt. Er wird auch jetzt noch als Königliche Residenz benutzt, und König Wilhelm wohnt darin, so oft er Amster dam besucht. Der Thronsäal soll ber weiteste von Europa seyn; seine Wände sind von weißem Marmor, doch seine höchste Zier sind einige Spanische Flaggen, die einst der fremden Tyrannei durch die Hände der Freiheit sind entrissen worden. Wir steigen von unserem Belvedere nicht herab, ohne einen Blick auf die lange Reihe von Schiffen zu werfen, welche die Stadt von der Rordseite umgiebt und gleich einem schützenden Walde vor der Wuth der Winde und Wellen zu bewahren scheint. Wenn die farbigen Wim pel im Winde spielen, das ist ein herrlicher Anblick, und stets bietet ber Hafen ein großartiges Bilv Holländischer Betriebsamkeit und Thätigkeit. Er bildet eine Verbindung zwischen dem Ei und dem Zupdersee, ist nicht weniger als eine Meile lang und stets mit Schiffen erfüllt. Die Bürger sind vorzüglich stolz auf ihn; sie fühlen sich nirgends so heimisch als in ihm; der Pech- und Thcergeruch ist ihnen angenehmer als alle Düfte des Ostens. Zelte breiten sich daS Ufer entlang aus, und hier pflegt der Holländer vom alten Schlage, der noch wie seine Vorältern aus dem siebzehnten Jahrhundert sich rühmt, mehr Schiffe als Häuser zu besitzen, seine Mußestunden zu ver bringen. Wenn er unter einem derselben sitzt, die Pfeife im Munde, so ist er in seinem natürlichen Elemente, gleich Neptun, der, auf Wellen sich wiegend, sein Reich überschaut, den Dreizack in der Hand. Dem allgemeinen Rufe, in dem die Holländer stehen, entsprechen sie wenig, wie dieser Fall denn überhaupt bei Individuen sowohl als bei Nationen so häufig ist. Der Spanier wird seines gewichtigen Ernstes wegen gerühmt, und doch ist in Wahrheit Niemand weniger ernst, Niemand vergnügungssüchtiger. So heißt es vom Holländer, er sey schweigsam, und er ist im Gcgentheil die Geschwätzigkeit selbst. So wird er als Muster von Remlichkeit gepriesen, doch er übt diese Tugend nur in seinem Hause, nicht an seinem Körper; es geschieht häufig, daß man einen Holländer mit ungewaschenem Gesicht und mit einem Hemde, das er schon vierzehn Tage getragen, in einem Zimmer sitzen sieht, das so lange gerieben und geschabt worden ist, bis es ein Muster von Reinlichkeit und Nettigkeit ist. Eben so wenig bestätigt sich, was man von dem Holländischen Phlegma spricht und schreibt. Ich war während des Jahrmarkts in Amsterdam, und ich glaubte in der aufgewecktesten, lebenslustigsten Stadt Europas zu sepn. Während des Tages drängte sich das Volk um Puppenspiele und Seiltänzer, und es bestand noch eine Art von Ordnung; doch bei der Nacht änderte sich die Scene. Kaum hatte cs zehn geschlagen, so sammelten sich Schaaren von Weibern, welche unter Gesang und Tan; die Straßen durchschwärmten wie Bacchantinnen und alle Vorübergehenden nöthigtcn, an ihrer wilden Freude Theil zu nehmen. Jeder Piatz, jede Straße >bar von diesen Eumeniden erfüllt, und ihre geräuschvollen Saturnalien währten die ganze Nacht. Auch die Männer waren von diesem Taumel angestcckt, und man sah Schwärme von Fischern, welche im ungestümen Tanze kreisten, und Schäfer aus der Umgegend, welche, in Schaffelle gehüllt, die Wirthshäuser umla gerten, ihr gewöhnliches Getränk, die Milch, vergaßen und den Göttern des Branntweins opferten. Noch sind einige Worte von den Juden zu Amsterdam zu sagen. Sie bewohnen ein besonderes Stadtviertel, nicht weil sie dazu ge zwungen sind, sondern weil sie cS (aus alter Gewohnheit) vorziehcn, mit einander in engerem Verkehr zu leben. Die allgemeine Toleranz, welche in Holland herrscht, macht in Betreff der Juden keine Aus nahme; sie genießen dieselben Privilegien und Rechte wie die christ lichen Einwohner. Ihrer Abstammung nach zerfallen sie in zwei Stämme, in die Deutschen, welche vcrhältnißmäßig arm, und die Portugiesischen, welche sehr reich sind. Die Synagoge des letzteren Stammes ist die größte und am reichsten ausgestattete in Europa. Sie treiben verschiedene Gewerbe, doch ihr natürlicher Hang zieht sie, wie überall, so auch hier, zum Handel. Eine andere Beschäftigung, für die sie eine besondere Vorliebe zeigen und die sie wie ein Mo nopol auf einander zu vererben scheinen, ist die Diamanten-Schlei ferei. In Amsterdam wird dieses Geschäft in einem eigens dazu be stimmten Hause getrieben. Vor zwei Jahrhunderten wuchs ein Knabe von zartem, schwäch lichem Körperbau in der Judcngcmcindc zu Amsterdam auf. Die erste Sprache, die er lernte, war Hebräisch; das erste Buch, das er las, die Bibel; die ersten Meister, die cr hatte, Rabbinen. Der Knabe war mit tiefer Einsicht begabt, und sein Verstand flößte ihm Zweifel ein. Sein Forschergeist schien seinem Stamme verwerflich, er wurde von den Häuptern desselben vorgeladen und erhielt den Be fehl, zu widerrufen, was er verweigerte. Hierauf wurde er aus ber Gemeinde ausgestoßen, mischte sich unter die Christen und lernte das Griechische und Lateinische. Sein Lehrer halte eine Tochter, der er seine Neigung zuwandte, doch sic wurde nicht erwiedert; so ent sagte er ihr und widmete sich gänzlich der Wissenschaft. Eine Lei denschaft trat an die Stelle der anderen. Des Cartes nahm den Platz der Geliebten ein. Der junge Philosoph hatte bald keinen anderen Umgang, als den des großen Zweiflers, und die Anwendung, die er von den Lehren desselben machte, setzte sein Volk in nicht ge ringen Schrecken. Aus Furcht, daß der ganze Stamm durch seinen Abfall in den Augen anderer Völker verlieren könne, bot man ihm einen Jahrgehalt, wenn er wieder in der Synagoge erscheinen wollte. Seine ironische Antwort zog einen meuchelmörderischen Angriff aus sein Leben nach sich. Dies bewog ihn, sich tiefer in das Land zurück- zuziehcn, woselbst er sich durch die Arbeit seiner Hände crnährtc, denn cr war arm. Neue Verfolgungen seiner Feinde trieben ihn von Asyl zu Asyl, bis er sich im Haag sestsetztc. Hier lebte er in strenger Zurückgezogenheit und stoischer Enthaltsamkeit; sein Geist hielt seinen Körper aufrecht, und seine Gedanken schienen seine Nah rung zu seyn. Doch gehaßt und persönlich ungekannt, übte er einen großartigen Einfluß über die ganze geistige Welt. Er hatte Schüler, die ihn wie ein Orakel verehrten, und die ofl seine Ruhe störten, um seine Meinung über verwickelte metaphysische Fragen zu erfahren Reichthümer verachtete er. Er wies Geldunterstützungcn zurück, so gar die Erbschaft, die ihm ein Freund bestimmt hatte, und die An erbieten von Fürsten, die ihn persönlich besuchten, um ihn zu bewe gen, seine Einsamkeit zu verlassen. Er zog es vor, in stiller Unab hängigkeit dem Ziele nachzuringen, das er sich gesteckt hatte. Als Nachfolger von des Cartes und als Vorläufer des achtzehnten Jahr Hunderts, fügte cr einen gewaltigen Stein zu dem Gebäude der Philosophie. Dieser Jude war Spinoza. (ki. fll. III.) Frankreich. Lemercier's und Victor Hugo's Stellung zur Französischen , Literatur. Aus Salvandp's Erwiederungsrede an Victor Hugo in der Französischen Akademie. (Fortsetzung.) » Allerdings gab es in Frankreich eine Versammlung, die sich durch Beredsamkeit, Genie und Macht auszcichncte, die mit dem Talent die Tugend, mit der Macht Muth verband, welche die alte sociale Ordnung zu beschließen wagte und die neue gründen wollte. Sic gründete dieselbe auf die ewige Gerechtigkeit, auf die bürgerliche Gleichheit, auf die menschliche Würde, indem sie zwar Fehler machte, und das große, aber aus Unerfahrenheit des Geistes und Herzens, aus Liebe zur Menschheit, aus Uneigennützigkeit, aus Tugend. Sic, die alle Illustrationen und Tugenden Frankreichs in sich vereinigte, gab nicht bloß sür Frankreich Gesetze, sondern für das Menschengeschlecht. Es kann in der Welt kein bürgerlicher Fortschritt gemacht werden, der nicht von ihren Schöpfungen datirt. Ihre Grundsätze sind die Gesetzbücher der Zukunft; sie ist eS, die man bewundern darf. Lemercier, diesem ersten Ideal seiner Tugend treu, sah den Culminatioospunkt unserer Geschichte zwischen Lud wig XIV. und Napoleon; er hat irgendwo die konstituirendc Ver sammlung den Sinai der menschlichen Vernunft genannt, welcher, wie die Berge, sich durch eine jener Währungen gebildet, die auf große Erschütterungen gewöhnlich folgen, aber wenigstens der Mensch heit einen großen Stützpunkt und ein herrliches Schauspiel hinter lassen hat. Hat man wenigstens die Tragödie „Agamemnon" der Konvents- Epoche zu verdanken? Sollte dieses Werk nicht eher eine Protcsta- tion, als eine NeminiScenz sepn? Müssen wir nicht darin die Auflehnung eines edlen Geistes gegen die Sprache, die Ideen, die Menschen, welche bis dahin geherrscht hatten, sehen? Sie selbst haben als kompetenter Richter diese Strenge der Formen, diese Einfachheit der Anordnung und des Stils, diese Erhabenheit ohne Schwulst, diese Natur ohne Rauhheit, diese antike Farbe, die über das Ganze verbreitet ist, gerühmt. Auch in ihr ist Schrecken, aber er kommt von den Leidenschaften; auch in ihr ist Fatalität, aber eine Griechische, welche die Götter nicht ausschließt. Das ist nicht die revölutionaire Schule. Ich sehe überall AeschyluS, nirgends Danton. Und machte dies nicht ihren Erfolg so groß? Man sah unter dem Direktorium einen seltsamen Kampf zwischen den Regie renden, die mit aller Macht das revolutionaire Prinzip fcsthieltcn, die Quelle und Sanction ihrer Herrschaft, und Frankreich, welches, den Klauen des Schreckens entronnen, mit Entzücken zu allen Ge nüssen der Civilisation, Gesellschaft, Literatur und Künste zurückkehrte. Frankreich begrüßte in Lemercier's Werk das Erwachen der alten