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der Wand hängt noch ein Gemälde, oder vielmehr ein Schmier- und Sudelstück, eben so abscheulich an Erfindung wie an Ausführung; es stellt den Tempel der Minerva vor, in welchem Voltaire in seinem Schlafrock dem Apollo seine Henriade überreicht. Die Feinde des Dichters wälzen sich, unerhörte Fratzen schneidend, im Staube zu seinen Füßen. Im Schlafzimmer bemerkt man ein Mausoleum aus gebranntem Thon, einem alten Ofen ähnlich, welches das Herz Voltaire's ursprünglich verwahrte. An den Seiten dieses ehemaligen Grabmals befinden sich die Bildnisse des Papstes Clemens tl. und der Kaiserin Katharina II. neben denen einer Weißzeug-Schneiderin und eines Savoyischen Kaminfegers: über dem Bette die Bildnisse Friedrich's des Großen, des Schauspielers Lekain und der Mad. du Chätelet; und an den Seiten des einzigen Fensters einige sehr mittel mäßige Kupferstiche, berühmte Männer darstellend, worunter auch Voltaire's Freunde und Geistesverwandte Marmontel, Helvetius, Diderot und der Herzog von Choiseul. Die Vorhänge am Bette und am Fenster des Gemaches sind verschwunden, Dank der unbe scheidenen Gier nach fühlbaren Andenken, die frühere Besucher be wogen hat, große Lappen zu stehlen oder auch wohl zu kaufen. Neben dem Schlaf-Kabinette Voltaire's war früher sein Arbeits- Kabinet, jetzt eine Bedientenstube; und an letztere stieß die Bibliothek, deren Raum eine Orangerie einnimmt. Im Parke sieht man eine große, von Voltaire's Hand gepflanzte Ulme, die im Jahre 1824 durch den einschlagenden Blitz gelitten hat. Obschon dieser Park völlig eben ist, so machen seine wohlangelegtcn Alleen doch einen erfreulichen Eindruck. Es lebt noch in Fernep ein Gärtner, jetzt 77 Jahre alt, der, als Knabe, Voltaire gekannt hat und in feiner schlichten, von aller Charlataneric entfernten Manier viel Interessantes von ihm zu er zählen weiß. Dieser Mann verwahrt als kostbares Andenken ein Stück von Voltaire's Schlafrock, feine Mütze von weißer Seide mit goldenen Blumen und seinen langen knotigen Stock aus Buchs baumholz. Auf diesen Stock sich stützend, agirt der gute Mann allerlei Scenen aus Voltaire's Privatleben, seine Raserei, wenn er mit den Dienstboten zankte, sein Geberdenspiel, wenn er Dorskindcrn, die ihm begegneten, Schrecken einjagen wollte u. s. w. Derselbe Gärtner zeigte uns eine Sammlung von Siegeln verschiedener Personen, die an Voltaire geschrieben hatten. Er bediente sich dieser Siegel, um Briefe zurückweisen zu können, die er nicht annehmen wollte; und bei allen Siegeln stehen Epithcte, die ihren Besitzern, wenn sie langweilig oder unbescheiden waren, nicht eben schmeichel haft sind. Die Kupferstiche, welche die Stube des Gärtners schmücken, stellen Voltaire in allerlei Kostümen vor; einmal erscheint er sogar als altes Weib verkleidet. Der Eindruck, den diese groteske Figur macht, ist unbeschreiblich. Der Schauspielsaal des Schlosses, wo man einst Lekain, Mlle. Clairon und Delarive spielen sah, eristirt schon lange nicht mehr. Die berühmte, dem Theater gegenüberstehcnde Kirche mit der In schrift: Deo erexit Voltaire, ist ein armseliges, jetzt in einen Heu- schoder verwandeltes Gebäude. Voltaire hatte diesen Tempel nicht bloß erbaut und eingeweiht, sondern auch Gottesdienst darin gehalten. Man erzählt, daß er eines Tages in seinem geblümten Schlafrock und in seiner Nachtmütze die Kanzel bestieg und vor den zum Anhören einer Messe versammelten Gläubigen eine Predigt über den Diebstahl improvisirte, zu welcher ein Schaden, den Wilddiebe und Vagabunden auf seinem Grundstück angerichtet, ihn begeisterte. Dieser Zug, sep er wahr oder erlogen, stimmt fehl gut zu der bekannten Reizbarkeit des philosophischen Schloß-Besitzers, eines zwar gütigen und wohlthätigen, aber äußerst peniblen, launenhaften, händel süchtigen und, wenn man seine Feudal-Rechte nur im Geringsten antastete, ganz unversöhnlichen Herrn. Seine Vasallen von einer christlichen Kanzel herab haranguiren, war übrigens eine philoso phische Ergötzlichkeit, die seinem Gefchmacke sehr zusagte. Man legt den Neugierigen, die Fernep besuchen, ein dickes Album vor, in welches sic ihren Namen und allenfalls noch einen Gedanken über den Ort und seinen berühmten ehemaligen Bewohner eintragen. Es versteht sich von selbst, daß dieses Album seit Voltaire's Tod öfter erneuert worden ist. In dieser Sammlung philosophischer, politischer oder sentimentaler Gemeinplätze begegnet man selten einem Einfall, der es verdient, nicht sogleich wieder vergessen zu werden. DaS Lob ist fade oder auf alberne Weise übertrieben, und der Tadel artet gewöhnlich in Lästerungen aus. Eine Bewunderung, die sich in glatten Redensarten Luft macht, hat wenigstens noch etwas Anspruch aus Nachsicht; das Dogma von Voltaire's Untrüglichkeit ist noch ein Glaubens-Artikel gewisser ehrsamer halb kindischer Greise; aber Aus brüche gemeinen Hasses und roher Schmähsucht sollten in einem Gedenkbuche dieser Art nicht geduldet werden. ES steht einem Jeden frei, die Lehrmeinungen Voltaire's zu verabscheuen, den Einfluß, den seine Schriften gehabt, zu beklagen, ja selbst seine Person zu verachten; aber man wird wenigstens darin mit mir übercinstimmen, daß eine Brandmarkung seines Andenkens an dem Orte, wo er gewohnt, unschicklich ist. Es liegt etwas Empörendes darin, wenn man sich das Schlafgemach eines Verstorbenen öffnen läßt, um sich in Ver wünschungen gegen den Todten auSzulaffcn. Mannigfaltiges. — Belgiens literarisches Vcrhältniß zu Frankreich und Deutschland. Es erscheinen seit einiger Zeit in Brüssel zwei Monatschriften, die wohl verdienten, auch außerhalb Belgiens nicht 316 so unbeachtet zu bleiben, als sie es hauptsächlich wohl in Folge des Umstandes sind, daß die Herren in Paris, die dort allein die Fran- zösifche Literatur machen wollen, keine Notiz von dem nehmen, was sich außerhalb ihrer kleinen Welt auch eine gewisse literarische Selbständigkeit, und zwar im Gebiete der Französischen Sprache, erringen will. Jene beiden Brüsseler Zeitschriften stehen unter den Auspizien der beiden verschiedenen Parteien, deren Jvcen und An sichten die.religiösen und politischen Unterscheidungen in Belgien be stimmen. Die Kevue <Ie Ilruxelle-,, die von den Herren DechampS und de Decker geleitet wird, repräsentirt den Gedanken der soge nannten katholischen, und die Kevue tziacivnale <I« lielgigue, unter Leitung der Herren Devaur und Vcrhaegcn, den Gedanken der libe ralen Partei. Jedoch nur in Bezug auf Fragen, welche die innere Politik und die Verwaltung ihres eigenen Landes betreffen, sind die beiden gedachten Zeitschriften, die in jedem Monatshefte einen über sichtlichen politischen Artikel liefern, entschieden getrennter Ansicht; dagegen sind sic über das Vcrhältniß, das Belgiens Literatur zu der von Frankreich einnehmen soll, vollkommen einig, indem sic der ersteren die vollste Selbständigkeit vindiziren und in einem eifrigen Studium vcr Geschichte ihres Landes, so wie in der Erhaltung aller nationalen Sprach- und Kunst-Denkmale, ein hauptsächliches Mittel zur Förderung dieses Zweckes erblicken. Beide hegen dabei auch den Gedanken, daß dem überwiegenden Romanischen Element ihrer Bil dung das in dcr Abstammung und zum Theil auch in der Sprache der Bewohner Belgiens vorherrschende Germanische Element als ein Gegengewicht, auf dessen nachhaltige Wirkung man vertrauen könne, unabweislich zu erhalten Zep. Und wenn die katholische Partei dies besonders dadurch zu erreichen glaubt, daß sie das Studium dcr Flamänbischen Sprache und die Erhebung derselben zu einer Schrift sprache zu fördern sucht, so erblickt andererseits die liberale Partei in einem engeren Anschlicßen Belgiens an die verwandten Litera turen und an die Bildung Deutschlands und Englands die sicherste Gewähr, von Frankreichs Einfluß nicht überwältigt zu werden. Hören wir, wie sich m dieser Beziehung Vie Kevue tziarionnle «le tlelgigue (Februar I84>) in einem Artikel „über die literarische Zukunft Bel giens" ausspricht: „Um in sich selbst die Kraft zu finden, unabhän gig und national zu sepn, muß die Belgische Literatur nicht etwa das Studium der Französischen vernachlässigen, wohl aber ihr das Gegen gewicht der Englischen und Deutschen Bildung entgegenhalten. Nur in dieser Stellung wird das literarische und wissenschaftliche Belgien sich Geltung verschaffen, seinen eigenen Charakter und seine Zukunft haben. Möge man doch nicht vergessen, daß Belgien jedesmal, wenn es einen Fortschritt gemacht, wenn es etwas Bedeutendes und Nach haltiges ausgesührt, dies fast immer und auf allen Wegen gethan, wo es das Joch des Einflusses der Französischen Ideen adgeschüttelt. So hat unsere Kunst neuen Glan; gewonnen, als sie von der Fran zösischen zur Flamänbischen Schule zurückkehrte. Der Gewerdfleiß entlehnte dem benachbarten England seine Fortschritte und gewann dadurch einen Vorsprung vor dem in Frankreich. Wenn unsere öffentlichen Arbeiten die Bewunderung Europa's erregen, so verdan ken wir eS dem Umstande, daß wir uns bei ihrer Begründung und Leitung nicht um das Beispiel und die Grundsätze Frankreichs ge kümmert haben. Die Union, diese mächtige Partei, welche die Unabhängigkeit Belgiens herbeisührte, ist ganz und gar außerhalb des Französischen JvecnkreiseS jener Epoche gegründet worden, und nicht minder lag diesem Jdccnkreise das Prinzip fern, nach welchem der Kongreß unsere ausgedehnte Toleranz-Bewilligung feststellte, die einen dcr schönsten Thciie der Belgischen Verfassung bildet. Manche, der Staatsgewalt und der Monarchie frindselige Lehren waren nnS im Jahre I83t> direkt von Frankreich zugekommcn; sie vermochten jedoch nicht, Fuß zu fassen, und was heutzutage dem Fortschritten der liberalen Ansichten vielleicht dSn meisten Werth verleiht, ist der Umstand, baß diese Bewegung die selbständige freie Aeußerung des LanvcS selbst ist, und daß sie sich gerade in einem Momente zeigt, wo sich jenseits dcr Gränze vielmehr die entgegengesetzte Tendenz kundgiedt. — Das Studium dcr wissenschaftlichen und literarischen Bildung Englands und Deutschlands ist sonach das jenige, was unseren geistigen Fortschritten zunächst Noth thut. Wir wünschen, es möchre diese Nvlhwendigkeit in Belgien allgemein be griffen wcrven. Die Sprachen und bie Literaturen jener beiden Länder sollten einen Unterrichtsgegcnstand auf allen unseren Gym nasien, auf allen unseren größeren öffentlichen Unterrichts-Anstalten, auf der Kriegsschule, den Universitäten, den Spezialschulen bilden. Dieser Unterricht müßte sür alle diejenigen, die ein Examen zu machen haben, obligatorisch sepn; eben so wie die Regierung bemüht sep» müßte, die Kenntniß jener Sprachen in den höheren Kreisen der Administration und des Heeres zu verbreiten. Wir wiederholen ausdrücklich, daß wir unser Vaterland keineSwegeS von Frankreich isolireu möchten, wie es die Niederländische Regierung früher ge wollt; un Gegentheile glauben wir vielmehr, daß die Fortschritte unserer Bildung uns auch immer mehr mit der unserer südlichen Nachbarn in Berührung dringen werden. Aber indem wir unbesorgt dieses nachbarliche Verhältnis immer freundschaftlicher sich gestalten lassen, müssen wir, um ihm einen zu absoluten und überwiegenden Einfluß zu wehren, auch noch andere Verhältnisse dieser Art im Osten und Westen anknüpfcn und uns dergestalt in die günstigste Lage versetzen, unserer Bildung einen eigenen Charakter zu verleihen." Herausgcgedcn von der Expedition der Allg. Preuß. SiaalS-Zcunng. Redigin von Z. Lehmann. Gedruckt bei A. W. Hapn.