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248 IN Glasgow, 'Edinburg und den südlichen Grafschaften; die Declama- tionen des Herrn Urqhuart erschrecken uns; die Englische Regierung ist aber nie darüber besorgt gewesen. Diese Toleranz erschwert nicht wenig die Proselytenmachern, welche der Verfolgungen bedarf; eben so stumpft sie die Wuth der Angriffe ad. Ein anderes vortreffliches Mittel ist, zu rechter Zeit nicht zu hören. Die Polizei tritt in Schottland so wenig wie in England hervor und erlaubt den Tu- mult bis zu einem gewissen Grade. Sie macht es wie jener Maire einer kleinen Stadt, der, als er Nachts Lärm auf der Straße hörte, an« Fenster ging und die Lärmmacher fragte: „Was ist da, meine Herren? Soll ich aufstehen?" Das Schottische Volk antwortet fast immer: „Stehen Sie nicht auf"; denn es weiß sich bei Zeiten zur Ruhe zu begeben. Der rasche Aufschwung der Städte Süd-SchottlandS hat seinen Grund in einer ähnlichen Toleranz. Anfangs war man erschrocken und schrie über Unklugheit und Thorheit; die Betheiligten mißtrauten selbst der Bewegung, die sie fortriß, und wollten, daß die Staats gewalt deren Ungestüm mäßige. Die Staatsgewalt blieb aber ruhig, weil sie einsah, daß sie keinen besseren Schutz verleihen könne, als wenn sie nichts thäte. Die Erfahrung hat gezeigt, daß sie sich nicht getäuscht hat. Nachdem der Anstoß einmal gegeben war, ist man weitergegangen, und die Industrie hat gesiegt. (Schluß folgt.) Norwegen. Norwegisch Alpcnleben. Das Sätermädchen") und der Jäger, l. Rothe Wangen, blaue Augen und Zähne wie frischer Schnee sind die echten Kennzeichen der Nymphen, welche jetzt in Wirklichkeit in unseren grünen Wäldern wohnen, und diese sind die Sätermädchen. Wenn die warme Junisonne den Schnee auf den hohen Kämmen geschmolzen hat und es beginnt auf den Alpsiuren zu grünen, dann zeigen sich dort — nicht luftige, leichte, elastische, schlanke Gestalten, — sondern junge, wohlgeschaffene, rundformige, durch und durch gesunde, starke Dirnen, die auf sicheren Füßen sich dahin wagen, wo nur der Jäger ihnen folgen kann. Vom Ende des Monats Juni dis zum Anfang des Oktobers liegen diese Mädchen auf dem Gebirg, ohne vom ersten bis zum letzten Tage der Woche eine andere Gesell schaft zu haben, als die ihrer Heerde; aber am Sonnabend Abend ist das Sätermädchen sorgfältiger gekleidet, und ihre glatte Stirn strahlt Heller, da schaut sie oftmals aus der Thür der Sätcrbütte, denn sie erwartet den Jäger. Er wird die Nacht über im Täter ruhen; allein darin ist nichts Böses. Zwischen diesem Paar ist ein geschwisterliches Verhältniß, welches der Genius der einsamen Na tur geheiligt hat. Wenn die Sonne aus dem Thal sich erhebt, ist sie auf, wenn die Sonne hinabsinkt, macht sie ihren Feierabend, und sie schläft in ihrer Bärcndecke so süß und träumt so schön von ihren lieben Kühen; diese liebt sie fast, als wenn es ihre Schwestern wären, und sie hat einen zärtlichen und hübschen Namen für ,ede ein zelne von ihnen; aber eine naive, mit Scheu gemischte Verschämtheit hat sie für die Kalbe, welche niemals einen Namen erhält. Wenn der Thau noch über der Flur liegt, werden die ersten Strahlen der Sonne die Spur des Sätermädchens von der Hütte zum Berzbach zeigen. Ist sic hier fertig, so treibt sie ihre Heerde in den Wald hinaus; im Frühjahr auf die Sonnenweiden, in der Mitte des Sommers dorthin, wo sie Schatten und Wasser findet; im Herbst icboch lauert der Wolf, der tückische, graue Jäger, um den Säter, und dann darf sic mit ihren Thicren sich nicht von der freien Fläche wagen. Aber selbst hier bin ich öfters Zeuge von der Kühnheit des Sätermädchens gegen ihren grauen Feind gewesen. — Sie geht hinter ihrer Heerde mit dem Strickzeug in der Hand und mit dem Leinkuchendeutcl an der Seite. Hierin hat sie der Kühe liebstes Futter, welches aus einer Mischung von Salz und Leinkuchen besteht. Jede einzelne Kuh, die sich ihr nähert, erhält eine Hand voll daraus, damit sie fromm und gehorsam bleiben. Aus einem grünen Plätz chen setzt sie sich an einen Baumsturz in ihrem kurzen Jäckchen, mit dem Strohhut über dem reichen blonden Haar. Unten im Thale lärmt der Wasserfall, der tiefe Wald steht so schlank rings um sie her, die Farbe des Mooses ist so frisch und saftig, und die Bäche rieseln an ihr vorüber: doch sie weiß nichts von allem diesem, sie ist zu viel hier zu Hause. Am Abend indessen, wenn sie heim gehr, horcht sie doch auf den wunderlichen Laut des Waldes, und manch schönes Mährchen schwebt bann vor ihrer Seele. Ihr Haus von rohen Baumstämmen oder ihre Säterhütte ist fast die einfachste menschliche Wohnung, die man sich denken kann. Sie liegt umkränzt von wilder Waldung, mitten aus einer grünen Alpcnflur: wenn man den Blick hin wendet, sieht man den ewig grünen Wald und über diesem die mächtigen Gcbirgsmassen; aber wenn Du Dich in diesen dunklen, schweigenden, dicht verwachsenen Wäldern vcrirrst und ein Sätermädchen triffst, dann wird ihr angeborener Instinkt Dich aus ihnen hcrausführcn, und wenn sie die Pfade niemals gegangen wäre. Alles, wa^man außer dem Käsekeffel und den Milcheimern in der Hütte des Sätermädchens findet, ist ein Klotz als Bank und ein ') Nach einer in Christiani« erscheinenden Zeitschrift. ") Der Ausdruck water Mr Senne, AW1W, ist wohl eben so wie Melde für die Norwegischen Hochgebirge, wie Morde und Scheeren u- dgl. als elgen- rhnmlich beizubetzalten- Bett, und in der einen Ecke der Heerd oder Schornstein. Sie hat nicht einen Scherben von einem spiegel, worin sie ihre eigene Ueppig- keit beschauen könnte, doch an sonnenhellen Tagen spiegelt sie sich im Bache. Sic langweilt sich nie, denn sie weiß nicht, was Zerstreuung ist. ES ist eine unbestimmte Ahnung in ihr, daß etwas Schönes in der Natur liegt; aber nur, wo sie lichte Partiecn und Aussicht auf Mcnschcnwohnungcn erblickt, kann sic dies entdecken. Ich stanv eines Abends an der nördlichen Säterwcide auf dem Krogwald. Der Himmel war durch und durch klar, die Sonne sank in Hochrother Farbe hinter die Terrasse des Kroggebirgcs hinab, Vie langen Schat ten lagen über der Alpflur, und der Wald war so tief und so un durchdringlich. Wo ich mich hinwandte, sah ich die nordische, wch- müthige Pracht um mich her; das Sätermädchen stand neben mir unv lockte mit den eigenthümlichen Gebirgstönen ihre Heerde: Kommt, meine Musche, von nab und von fern! komm' aus dem Busche hervor, weißer Stern, Morgenlod, Fichtenreis, Mondhorn, Kleinbaschelein, Immerblant, AbendvreiS, Schwarzbläß, Frommmufchclein, Praunkilde, Königin, Nothaug' und Prinzessin, — du Kaldc,auch, komm' aus dem Strauch! Ls Hörle sich an, wie ein förmlicher Vers°), und da sie die letzte nannte, schielte sie nach mir hin, und als wollte sie meine Aufmerk samkeit nicht bei ihrem Lockruf verweilen lassen, sagte sie: „Ist es hier nicht viel wackerer, als auf allen anderen Gätern?" — „Du hast recht, mein Kind", antwortete ich; „hier ist es schöner und besser, als an irgend einem Ort." —„Ja", sagte sie, „denn von hier aus kann ich die weiße, hübsche Mittelwaldbaude sehen." — Lieber Gott, dachte ich, wie bist Du genügsam mit schönen Gebäuden. Welcher Jäger kennt nicht diesen einfachen Platz, der mitten auf dem Krogwald liegt. Die Lieblichkeit des Abends lag rings um sie her, doch diese sah sie nicht; aber der Mittelwaldplatz bildete einen lichieren Punkt in der Landschaft, und nur auf dieser Partie hatte ihr Helles Auge geweilt, wenn sie in den langen, einsamen Tagen ihre Heerde weidete. Mannigfaltiges. — Deutsche und Französische Literatur der Gegen wart. Die Kevue äe« steux. Aomte-z bringt in ihrem Hefte vom IS. Mai wiederum eine „literarische Musterung Deutschlands" von Herrn Marinier. Es ist gewiß recht dankenswcrth, daß unserer Li teratur von Zeit zu Zeit solche Uebersichten gewidmet werden, die, wenn sie sich auch immer nur auf eine kleine Anzahl, meistens schön wissenschaftlicher Werke beschränken, doch geeignet sind, bei dem für höhere Gcistcsrichtungen sich intcressircnden Theile des Französischen Publikums — und dazu gehören die Leser der Kerne. sog senx »ottäe« — die Theilnahmc für Deutschlands wissenschaftliche und literarische Bestrebungen wach zu erhalten. ES ist nur zu be- daucrn, daß Herr Äarmicr niemals unterlassen kann, so oft er eine solche Musterung von einem halben Dutzend Deutscher Bücher vornimmi, daran eine wehmüthig-elegische Betrachtung über den Verfall der Deutschen Literatur zu knüpfen. Man könnte nichts dagegen haben, wenn Herr M. wiederholte, was allerdings jedes Kind weiß, daß die großen Dichter Deutschlands, die Schriftsteller der Nation, gestorben seycn, und daß der noch unter uns lebende lite rarische Ruhm entweder nicht allgemein anerkannt oder gar etwas zweifelhafter Natur sey. Ader auch Vann müßte Herr Marinier nicht vergessen, hinzuzufügen: rnur oomme oder »E-, es ist in Frankreich nicht besser als in Deutschland. Wenn sich der Französische Kritiker >edoch auf das hohe Pferd setzt und von diesem Standpunkte herab mitleidig und thcilnchmend Deutschland, die arme Schwester, fragt (ö Lilomazne, narre goeur), ob sie nicht das Leichentuch ihres Genius sich webe, so ist darauf nur zu erwicdern, daß hier Mitleid und Theilnahmc eben so anmaßend als lächerlich seyen. Es ist wahr, unsere Theater-Literatur ist in den letzten Jahren zurückgeblieben ge gen die Französische, vie unsere eigene Dürftigkeit bedecken hilft, aber abgesehen vavon, baß das Bessere noch lange nicht das Gute sey, giebt es nicht dagegen viele andere Zweige der Lite ratur, in denen wir, wie in der Philosophie, der Theologie und zum Theil auch in der pragmatischen Geschichtschreibung, den Franzosen eben so überlegen sind, wie sie uns im Theater? Hat Herr Marinier bei seinen Musterungen der Deutschen Bücherballen, die, wie er sagt, jetzt allmonatlich von Leipzig nach Paris kommen, nicht bemerkt, baß, wenn unsere Buchhändler auch die Hebeammen manches todtgeborenen Kindes sind, in den meisten Geburten deS Deutschen Geistes doch ein frisches Leben pulsirt, bas nicht auf eine Chinesische Stagnation deutet, sondern eine kräftige neue Fort bildung verbürgt? Wahrlich, auch wir könnten uns durch die Ver irrungen und Verwirrungen der heutigen Französischen Literatur verleiten lassen, zu glauben, sie webe sich ihr Leichentuch; aber wir setzen uns nicht auf das hohe Pferd, wie Herr Marinier, sondern sind überzeugt, baß dem Französischen wie dem Deutschen Geiste noch manche neue Wiedergeburt, mancher Triumph selbst über die glorreichste Vergangenheit bevorsteht. "> Nur d«ß in der Norwegischen Gebirgssvrawc, gerade wie in den Dcukichcn, Attes auf a oder o ausgeht, welches erst den eigentlichen Kuhe- gefang oder Kuhreigen giebt. Herausgegebeil von der kxpcbition der Allg. Preuß. Staal«-Zeitung. Redigjn von Z. Lehmann. Gedruckt bei A. W. Hayn.