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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumeration«- Preis 22; Sgr. THIr.) vierteljährlich, z Tblr. für da« ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Tbeiun der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumerirt aus diese« Literatur-Klatt in Berlin in der Expedition der Allg. Pr. SiaatS-Aeitung (JriedrichSstr. Nr. 72); in der Provinz so wie im Auölande bei den Wohllöbl. Post-Aemiern. Literatur des Auslandes. 41 Berlin, Montag den 5. April 1841 Frankreich. Grundriß einer Philosophie. Von F. Lamennais. Das kürzlich in drei Bänden herausgekommcne philosophische Werk von Lamennais, welches im Französischen den Titel ü'une lUnlo-Mpkie führt, ist eine in vielfacher Hinsicht merkwürdige Erscheinung. In Bezug auf den Verfasser zunächst bildet es den Anfang einer neuen Epoche seiner literarischen Thätigkeit. Diese, bisher ausschließlich der Politik und der theologischen Kontroverse zugewanbt, wirft sich hier mit einommale auf das Gebiet der speku lativen Wissenschaft, bei der es sich allerdings um die höchsten Auf gaben des Menschen handelt, die jedoch keinen anderen Lohn gewährt, als den, welcher in der Lösung dieser Ausgaben selbst liegt, und die zwar eine auserlesene Schule bilden, aber kein Volk erziehen und politisch wie religiös umwandeln kann, wie es der Verfasser der k»rol«8 <i'nn vr»)'»nt gewollt. „Die Philosophie ist", sagt Lamen nais, „das Bestreben des menschlichen Verstandes, die Dinge zu be greifen, und zugleich das Resultat dieses Bestrebens." Nicht mehr also die begeisterten Gesichte und Verzückungen eines in die Zukunft blickenden neuen Jesaja'S, sondern die Begriffe eines von Gott Und Welt erfüllten Menschen, der dem Ursprünge der Dinge nachgeht und Alles auf Gott, als das erste und das letzte Moment der Be trachtung, zurückzuführen sucht, wird uns der Verfasser jetzt dar- legen. Dies führt uns aber sogleich auf Vas zweite überaus merkwür dige Phänomen, durch das sich das vorliegende Werk von Allem unterscheidet, was bisher als philosophische Wissenschaft in Frankreich dargeboten worden. Wir abstrahiren hier natürlich von DeScartes, Malebranche und einigen anderen Philosophen einer älteren Epoche, die in Frankreich ohne Einfluß auf die Schule wie auf Vas Leben geblieben sind. WaS man in diesem Lande unter „Philosophie" im Allgemeinen versteht, ist vielmehr die sogenannte Philosophie des t8ten Jahrhunderts, deren Grundgedanke die Negation war und die Alles, was dem „Esprit" unbegreiflich erschient auch sofort als Vorurtheil verwarf. Dieser mehr oder weniger noch jetzt dort ver breiteten Vorstellung tritt nun der neue Philosoph mit einem förm lichen System, zu Schutz und Trutz geharnischt, entgegen. „Das bloße Verwerfen geheiligter Glaubensmeinungen", sagt Lamennais seinen Landsleuten, „ist nicht allein keine Philosophie, sondern macht diese sogar unmöglich." Drittens endlich ist das Lamennaissche Buch besonders für uns Deutsche eine überaus merkwürdige Erscheinung. Wir erkennen nämlich darin die Einflüsse der Deutschen Wissenschaft des Absoluten auf einen Französischen Geist, der selber noch im Kampfe zwischen Encyklopädismus und Romanismus begriffe« ist. Was uns hier dargeboten wird, ist Fleisch von unserem Fleische, Bein von unserem Beine, aber doch unter einer anderen Sonne, als wir, geboren, von anderen klimatischen Einflüssen gezeitigt und zur Reife gebracht. Lamennais selbst süblte, wie viel er Deutschem Geiste bei der Be gründung seines Systcmes zu verdanken habe; ja, er rechnet sogar in der ersten Zeit auf größere Anerkennung in Deutschland. Darum hat auch die Buchhandlung Jules Renouard und Comp. in Paris fund Leipzig) neben der Französischen Ausgabe zu gleicher Zeit eine vollständige Deutsche Uebersetzung herausgegeben, die an sich wieder eine interessante Erscheinung ist, denn das in Paris gedruckte, säst drumehlersrcie Deutsche Buch bezeugt einen typographischen Fort schritt, an den wir noch vor kurzem nicht gegiaubt hätten. Die Uebersetzung ist in. Ganzen gelungen zu nennen, obwohl sie es an vielen Stellen nur z» deutlich zum Bewußlseyn dringt, daß man kein Original lese, und daß die philosophische Sprache sich eben so wenig aus dem Französische» wie aus dem Deutschen gut über setzen lasse. Um unseren Lesern einen anschaulichen Begriff von dem Lamcn- naiSschen Werke zu verschaffen, theilen wir hier sein Vorwort, in welchem er eine Uebcrsicht dessen, was das Buch enthält, zu geben sucht, vollständig mit. Es spricht dasselbe erschöpfender und besser über die Sache, als wir eS zu thun vermögen. Lamennais sagt: „Die Philosophie wurzelt tief in der menschlichen Natur, und eben deshalb ist ihr Anfang dunkel. Mit dem Menschen ward sie geboren und ist weiter nichts als der Gebrauch seiner Vernunft, die Thätig keit seines Geistes zur Entwickelung der Kenntniß, zur Beobachtung der Erscheinungen, zur Ergründung der Ursachen, wodurch letztere erklärt werden können: Ursachen, sekundär nur und zufällig, die sich alle zu einer nothwcndigen, absoluten Ursache, welche dem Geiste stets gegenwärtig ist, weil er sonst von Ursache gar keinen Begriff hätte, vereinigen. Soll aber die Philosophie, in ihren Ergebnissen, einen bestimm ten Charakter tragen, so müssen nothwendig mehr oder minder gründ liche Forschungen vorausgegangen scyn; es müsse» die bereits erwor benen Kenntnisse einen schon ziemlich weiten Kreis umfassen und anfängliche Methoden die Thatsachen geordnet und irgend eine vor läufige Erklärung derselben erzielt haben. So bilden sich Systeme, Lehren, die, wie Alles in der Welt, wachsen und zunehmen durch allmäliges Fortschreitcn: einfache Elemente eines zukünftigen Ganzen, das nie vollendet, nie vollständig seyn wird. Denn eine vollständige Philosophie wäre die absolute, die unendliche Wissenschaft. Die menschliche Wissenschaft aber, und überhaupt die Wissenschaft jedes Geschöpfes, gleicht der Schöpfung, gehorcht denselben Gesetzen. Noth wendig immer beschränkt, entwickelt und organisirt sie sich gewisser maßen wie die Welt, in der zuerst die einfachsten Wesen auftreten, die sich später in zusammengesetztere Wesen verbinden, und so von Stuse zu Stufe, kraft eines endlosen Fortschrittes. Zwischen dem Fortschritten der Philosophie jedoch und der Ent wickelung der Schöpfung ist der Unterschied zu bemerke», daß letztere als vollkommener Ausdruck ihrer Gesetze so zu sagen nimmer irre geht, ewig wahr ist oder dem ewigen Urbilde, das in ihr sich zu verwirklichen strebt und darin nie verwirklicht werden kann, entspricht; während die Philosophie in dieser Beziehung nicht allein unvollstän dig ist, sondern außerdem sich verirrt, falsche Wege cinschlägt, die Ursache», die Wirkungen und beider Verkettung und gegenseitige Ab hängigkeit mißkennt. Kurz, die Philosophie kann falsch scpn, wenig stens zum Theil; und wo ist das System, von Anbeginn bis auf den heutigen Tag, das nach genauer Prüfung, in gewissen Beziehungen, nicht für irrig oder unzuläßlich erklärt worden wäre? Deswegen ist es, bei einer aufmerksamen Betrachtung des mensch lichen Geisteß in seinem philosophischen Fortgang, in den Wegen, die er eingeschlagen, in den Verfahrungsartcn, zu denen er seine Zuflucht genommen, höchst wichtig, die Hauptursachen zu ergründen, die ibn in dergleichen Jrrthümcr haben verfallen lassen. Einige wenige Be merkungen über diesen Gegenstand, der für sich allein zu einem Buche, und sogar zu einem nützlichen Buche, Stoff liefern könnte, dürften wohl hier an ihrer Stelle seyn. Unter diesen Ursachen der Verirrung ist eine erste, bei der zu verweilen höchst überflüssig wäre, weil sie zugleich allgemein aner kannt und für unheilbar erklärt wird; wir meinen die Beschaffenheit unseres Verstandes, der endlich und folglich fchlbar ist. Manche jedoch haben sich eingebildet, es sey möglich, dieser wesentlichen Fehl- barkeit zu entgehen, wenn man nichts annehme, was nicht, wie sie sagen, streng bewiesen sey. Allein in Bezug auf den Menschen, in dividuell betrachtet, ist eben dies wieder ein Beispiel, wie seicht er sich verirren kann; denn einerseits kann man ganz leicht über Dinge raissnniren, die für wahr gelten und dennoch unrichtig oder falsch sind, und auf diese Weise sehr logisch zu gleichfalls falschen Schlüssen kommen; andererseits kann man, durch eine zuweilen unwiderstehliche Ueberzeugung getäuscht, für bewiesen annchmcn, was nichts weniger als bewiesen ist, oder einen ParalogismuS für einen Beweis anseben. Dies ist gar oft der Fall. Je unerleuchteter, je schwächer der Geist ist, desto zuversichtlicher behauptet er seine Meinung, welcher Art sie auch seyn mag, sür desto strenger hält er seinen angeblichen Beweis, desto mehr erstaunt er über Vie Ungläubigkeit der Anderen, einer so klaren Evidenz gegenüber. Ein Jrrthum der Art hat sogar ausgezeichnete Philosophen vom wahren Wege abgebracht. Sie baden geglaubt, die Wahrheit müsse immerdar aus einem logischen Beweis beruhen, und daher sich be müht, Alles zu beweisen. Es giebt jedoch Wahrheiten, die nicht be wiesen werden, die logisch nicht bewiesen werden können, und dennoch sehr gewiß, sogar die gewissesten sind, weil die Gewißheit aller an deren darauf beruht. Diese Methode führt folglich zum absoluten Leugnen und schließt außerdem einen reinen Widerspruch in sich. Sie sührt zu einem absoluten Leugnen, weil der Beweis dessen, was ihr zusolge nicht ohne Beweis angenommen werben darf, d. h. der Beweis der nothwendigen Grundlagen alles Begreifens, alles Dcn- keys, aller Kenntniß, unmöglich ist; sic schließt einen reinen Wwcx- spruch in sich, weil nichts bewiesen werden kann, anders als durch vorher schon anerkannte Wahrheiten.