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168 Verhältnissen nothwendig ohne Erfolg für die Angeklagten, aber seine Bemühungen werven nichtsdestoweniger bei der Nachwelt in achtungs voller Erinnerung fortdauern, und ste wird so wie die Mitwelt stets sein Andenken als das eines edlen Mannes ehren. Außerdem, daß wir es für eine der angenehmsten Beschäftigungen halten, unsere Leser mit den schönsten Zügen dieses Mannes aus der bewegtesten Periode seines Lebens bekannt zu machen, glauben wir auch, durch die Erzählung auf diese Periode, die vielleicht die merkwürdigste der Weltgeschichte ist, manches neue Licht zu werfen. Wir entlehnen unsere Erzählung den Worten Aime - Martin's im äouriml üe« Oobats: „Chauvcau-Lagarde hatte schon die ersten Schritte auf der Lauf bahn der Sachwalter mit entschiedenem Glücke zurückgelegt, er hatte vor dem Parlamente gesprochen und Beifall geärndtet, er umfaßte mit voller Jugendkrafl den Gedanken seines beginnenden Glückes, seiner gesicherten Zukunft — als ihn die Revolution von 178V über raschte. Dieses größte Jahr der Weltgeschichte, diese an so naiven Freuden, so reinen Hoffnungen und an so tugendhaften Freiheiten reiche Epoche fand ihn voll Eifers und guten Willens. Er glaubte, wie alle rechtschaffene Menschen, es handle sich nur darum, einige Mißbräuche zu reformircn, die Ordnung i» den Finanzen wieder hcrzustellcn und die herrlichen Neigungen des Königs, die alle zu Gunsten des Volkes und der Freiheit waren, zu befördern. O! wie groß und edclmüthig war dieser König, der gerecht seyn wollte; wie groß und cdelmüthig war diese Nation, die frei seyn wollte! Als leidenschaftlicher Ropalist, als aufrichtiger Patriot, legte der junge Mensch sogleich Hand ans Werk und schrieb seine Broschüre, seinen Verfaffungs-Plan. Jedermann that damals dasselbe; es war Mode. Dieser hatte das Schicksal aller anderen: er wurde publizirt und vergessen; Alles ging zu dieser Zeit schnell. Während unser Gesetzgeber ein Utopien träumte, stürzte die Revolution die Altäre, ermordete den König und schuf, indem sie die Gestalt des schreck lichsten Ungeheuers annahm, ein Frankreich voll von Ruinen und Schaffotten. Was that damals der junge Chauvcau-Lagarde? Von Schrecken ergriffen und in seiner Seele einen unermeßlichen Haß nährend gegen die Wütheriche, welche das menschliche Geschlecht niedcrmctzelten, faßte er anfangs den Entschluß, Frankreich zu ver lassen und auszuwandern, wie cs so viele Andere gethan hatten; aber bald begriff er, daß seine Flucht seinem Vaterlande keinen Nutzen bringen würde, daß sie höchstens sein Leben retten könnte. Der Anblick der unglücklichen Opfer erinnerte ihn an seinen Charak ter, an sein Amt; er maß mit einem langen und traurigen Blicke den schmalen Naum, der das Tribunal von dem Schaffst trennte, und stellte sich sogar in die Höhle des Verbrechens, gerade den Tigern gegenüber, um ibncn ihre Beute streitig zu machen zu suchen. Die Schreckens-Regierung sah ihn daher in dem Parquet des Revo lutions-Tribunals, wo er als Vertheidigcr aller Angeklagten austrat, die seine Hülfe verlangten. Sein Eiser war nicht immer fruchtlos; viele Opfer entgingen dem Beile; Marat, der darauf aufmerksam ward, bezeichnete ihn in seinem Tagcbuche der Rache des Volkes als denjenigen, der die Schuldigen befreit habe. Diese scheußliche Kreatur, diese wilde Bestie, vor welcher damals Alles zitterte, kann diesen cdclmüthigcn Muth nicht cinschüchtcrn, und Chauvcau-Lagarde seinerseits denunzirt Marat als denjenigen, welcher Verleumdungen begünstige und Mordthaten befördere. Die Unschuld der Angeklag ten, welche er dem Schaffet entrissen hat, zu beweisen, ist seine erste Sorge; er verficht ihre Sache vor dem Volke, wie er sic vor dem Tribunal verfochten hat; dies war ein wesentlicher Punkt, weil Marat alle Köpsc forderte. Hier hörte seine Rolle als Verthcidiger aus; dann machte er plötzlich den Angreifer und Beschuldiger; er reißt dem Ungeheuer die Maske ab und schüttet seinen ganzen Zorn auf ihn, daß er sich den edlen Titel „Freund des Volkes" unedel dcigelegt habe: „Wie könnte er", rief er aus, „der Freund eines gerechten und großmüthigen Volkes seyn, dieser feige Lügner, der nur nach Blut bürstet, dieses Ungeheuer, welches überall Verbrechen sieht, weil daS Verbrechen ihn überall begleitet!" Diese kräftige , Beschuldigung wurde an allcn Häusern in Paris und sogar an der Thür dieses bestialischen Tribuns angehestet, der, als er sich ksm- promittirt sah, Stillschweigen beobachtete. Die Fergen verfolgen uur die Feigen; man behandelt ihn als Lügner, und er schweigt; man beschuldigt ihn des Blutdurstes, und er schweigt; man sagt ihm, daß man ihn verachte, und er schweigt; aber aus dem Winkel seiner Höhle, worin er sich verborgen hält, beobachtet er seinen Feind und wartet auf die Gelegenheit, ihn zu stürzen. In der Ueberzcugung, daß sein Untergang beschlossen war, zeigte sich Chauvcau in der Verthcidigung der Angeklagten nur noch muthiger und eifriger. Er wollte wenigstens kämpfend sterben. DaS damalige Leben war ein Leben des Ringens, der Angst, der Auf opferung und Verzweiflung, und die Gerichts-Annalen der ganzen Welt haben kein zweites Beispiel aufzuweisen. Die Opfer des Ver brechens vermchrten sich mit einer Schrecken erregenden Schnelligkeit. Eifer von Seiten der Henker, Todesverachtung von Seiten der Opfer unv oft unnütze Kühnheit von Seiten des Advokaten. So verthei- digte er nach und nach die Girondisten, den Herzog von Chatelet, Mademoiselle Dcsilleü, die Jungfrauen von Verdun, die siebenund zwanzig Angeklagten von Tonnerre und den General Miranda, der sein Freund war und den er den blutigen Händen Marat's entriß. Madame Rolland wollte keinen Vcrtheibiger, aber sie wählte ihn zu ihrem Rathgeber und schenkte ihm, im Sterben, ibren Trauring. Er war auch der Rathgeber des großmüthigen Bailly. Es ist un möglich, Alles wieder zu erzählen, was ich aus dem Munde des Chauveau-Lagarde gehört habe; er war unerschöpflich in der Auf zählung von Beispielen der Zärtlichkeit, des Muthes, des Abels und der Aufopferung so vieler zarter und reizender Frauen, welche alle wie Helden, wie Märtyrer zu sterben wußten. Eine einzige schrie kläglich, als sie auf das Schaffst geführt wurve, nur eine einzige; aber diese einzige hieß Dubarry! (Schluß folgt.) Mannigfaltiges. — Zweck der Kunst, nach Lamennais. In der zweiten Abtheilung des Lamennaisschcn „Grundrisses einer Philosophie""), welche von dem Menschen, als organischem und intelligentem Wesen, in seinen Beziehungen zum göttlichen Geiste handelt, giebt der Ver- faffcr auch eine vollständige Theorie der Kunst, die eben so durch tief cindringenden Scharfblick wie durch geistvolle Darstellung sich aus zeichnet. Wir behalten uns vor, auf diese interessanten Kapitel des Buches ausführlicher zurückzukommen, indem wir hier aus der Ein leitung zu denselben eine Bemerkung über Prinzip und Zweck der Kunst mittheilen: „Einige haben das Prinzip'der Kunst in der Nach ahmung gesucht. Augenscheinlich ist die Nachahmung eines ihrer Elemente, aber sie ist nicht ihr Prinzip. Die Kunst ist nur eine Seite der Entwickelung des Menschen, seiner thätigen Kräfte. Sie entsteht aus einer Ordnung neuer Bedürfnisse, welche die Entwicke lung seiner höheren Fähigkeit in ihm erzeugt; sic bezeichnet eine Stufe seines Wachsthumes. Anfänglich in das rein physiologische Leben verschlungen, hat seine erste Thätigkcit, durch blinde, auf den Körper bezügliche Appetite bestimmt, zuin einzigen Zweck, dieselben zu befriedigen. Er strebt ausschließlich nach dem Nützlichen und ist hierin dem Thiere ähnlich, das der Intelligenz, der Erschauung des Wahren und eben dadurch des Gefühles des Schönen beraubt ist. Sobald dieses Gefühl in dem Menschen hervortritt, manifestirt eS sich in seinen Werken, aus denen das neue Licht, das ihn innerlich erleuchtet, zu schimmern beginnt. Wie die durch die Atmosphäre gebrochenen Strahlen allmälig bas Dunkel der Nacht zerstreuen und den Aufgang des noch unter dem Horizonte verborgenen Gestirnes verkündigen, so kündigt die Kunst den Ausgang der Wissenschaft an, deren glänzende Morgenröthe sie ist. Denn Alles hält sich, Alles kettet sich a» einander: kein Fortschritt geschieht jählings, geht in einer isolirten Sphäre von Statten. Was der Kunst vorangegangen, waS ihr nachfolgt, ist von ihr unzertrennlich. Das Schöne, welches das Gute mit emschlicßt, schließt auch das Nützliche mit cin; es ver einigt sich mit demselben, verkörpert sich mit demselben. Ihre Ge setze, obgleich verschieden, umschlingt ein Band, i» Folge einer Grund harmonie, welche dieselben auf die Einheit zurücksührt. Die in ihrer Beziehung auf das Schöne vollkommensten Maßverhältnisse sind zu gleich die vollkommensten in ihrer Beziehung auf das Nützliche. In einem lebenden Organismus sind die schönsten Formen zu gleicher Zeit die für ihre Functionen passendsten. Keine Kunst stammt von sich selbst ab, besteht durch sich selbst, so zu sagen, einzeln für sich. Die Kunst um der Kunst willen ist also eine Abgeschmacktheit. Ihr Zweck ist die Vervollkommnung des Wesens, deren Fort schritte sie äußert. Sie ist gleichsam der Punkt des Zusammen treffens seiner physischen und seiner intellektuellen und moralischen Bedürfnisse, und die Künste können in der That nach ihrer Bezie hung auf diese verschiedenen Bedürfnisse klassifizirt werden. AuS dem Bedürfniß, sich cin Obdach, mehr und mehr bequeme Woh nungen zu verschaffen, aus dem Verlangen, dieselben zu schmücken, aus dem Bedürfnisse, sich zu versammeln, um religiöse oder bürger liche Akte zu vollziehen, ist die Baukunst entstanden, mit ihren An hängseln, der Bildhauerkunst, der Malerei, die sich unter dem Ein- fiuffe mehrerer anderer der höheren Natur des Menschen inwohnender Bedürfnisse entwickeln. Eine Schwester der Poesie, bewerkstelligt die Musik die Verbindung der Künste, die sich direkt an die Sinne wen den, mit den eigcnthümlichen Künsten des Geistes, und ihr gemein samer Gegenstand ist der, Vie Bedürfnisse der moralischen Ordnung zu befriedigen, die Anstrengungen der Menschheit zu unterstützen, damit sie ihre Bestimmung erreiche, sic von der Erde empor zu Heden und in ihr eine beständige Bewegung nach oben anzurcgen. Kann man sich eine Kunst vorstellen, die zu nichts taugte? eine Kunst, zu bauen, ohne Zweck praktischer Nützlichkeit? eine Redekunst, unab hängig von der Wirkung, die das Wort hervorbringen kann, und eine Wirkung dieser Art, die, gut oder böse, nicht in sich und in demjenigen, der sie gesucht, gewollt hat, einen moralischen Charakter hätte? Die Kunst hat also nicht nur ihre Wurzel in den ange- geborenen, radikalen, wesentlichen Kräften des Menschen, ist ihre Uebung, ihre Manifestation unter einem gewissen Modus; sondern sie lenkt auch, indem sie die Gesetze des Organismus mit den Ge setzen der Intelligenz und der Liebe verbindet, dieselben zu dem gleichen Ziele, der Vollendung des Wesens in dem, waS seine Natur Erhabenstes umfaßt; eine wundervolle Verkettung, die durch das, was in uns vorgcht, uns die Harmonie aller Ordnungen von Wesen, ihre wechselseitigen Beziehungen, ihre gemeinsame Tendenz und die Einheit der Schöpfung, das Bild und der Abglanz der Ein heit Gottes selbst, begreiflich macht." ') Lxqttisne ä'uue Philosophie Uyd nickt kssai, — Wie es durch einen Schreibfehler in der Einleitung deS Artikels in unserem letzten Blatte beißt. Hcrausgegeben von der Expedition der Allg. Preuß. StaatS-Zeitung. Redigirt von I. Lehmann. Gedruckt bei A. W. Hayn.