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schäften, die er zu bestellen hatte, an die Adressaten nicht abgeliefert, sondern in seiner Wohnung liegen lassen und weiter vier ihm übergebene Geldbeträge unterschlagen. Zittau. Am Palmsonntage löste sich beim Einläuten zum SonntagSgotteadienste plötzlich der 85 Pfund schwere Klöppel der großen Glocke der JohanneSkirche au» seiner Verbindung und stürzte herab. Wie sich herausftellte, waren die den Klöppel haltenden Riemen schadhaft geworden. Der Glöckner Neumann trug durch den ntederfallenden Klöppel eine Wunde an der Hand davon. Gin Glück war es, daß der Klöppel im Glockenstuhl niederfiel, denn wenn er zu der über dem Kircheneingange befindlichen Schall« tür hinausflog, wäre er mitten unter die gerade im feierlichen Zuge in die Kirche sich begebenden Konfirmanden gefallen. — Der Wirtschaftsbesitzer Ernst Ender in Wilthen fand beim Ausroden eines Baumes in seinem Waldbestande einen Topf mit etwa 300 alten Geldstücken, meistens in Gold und älteren Gepräges. Die Abhärtung des Menschen. Die Bedeutung der Abhärtung für die Gesundheit des einzelnen Menschen und ganzer Völker wird jetzt wieder anerkannt, und ist in der Tat heute vielfach noch größer als im Altertum, da jetzt die Lebensführung für den ganzen Organismus und namentlich für die Nerven anstrengender geworden ist. Trotzdem gibt es in der Abhärtung auch Uebertreibungen, die bereits zu dem Schlag wort des „AbhärtungSfanatiemuS" Veran lassung gegeben haben. Im besonderen richtet sich der Einspruch gegen die rücksichtslose Anwendung von kaltem Wasser Angesichts dieser Widersprüche ist es wertvoll, wenn eine hervorragende Autorität sich zur Belehrung über diese Fragen an möglichst weite Kreise wendet, wie es Professor Hueppe aus Prag in den „Blättern für Volksgesundheitspflege" getan hat. Er weist zunächst die Bedeutung der Abhärtung an dem für jeden erkennbaren Gegensatz zwischen dem empfindlichen Städter und dem wetterharten Landbewohner nach. Sicher trägt unsere Kleidung viel dazu bet, uns die Widerstandsfähigkeit gegen Witterungs wechsel zu benehmen, weil sie die Haut unsere» Körpers zu sehr von der Luft ab schließt. Das ist der springende Punkt, denn die Abhärtung beruht eben darauf, daß unsere Haut sich schnell genug den Aende- ruugen der Temperatur und der Feuchtigkeit anzupaffen vermag. Die gesunde Haut muß sich gegen plötzliche Kälte durch ebenso schnelle Absperrung der Blutzufuhr schützen, der dann eine besonders starke Durchblutung und Erwärmung folgt. Dadurch wird eine plötzliche starke Abkühlung de» Blutes in den Hauptgefäßen verhindert, so daß sich die Kälte in den inneren Organen nicht bemerkbar machen kann, der spätere Zufluß des Blutes schützt dann die Haut vor zunehmender Ab kühlung. Vermag die Haut diese Maßregel nicht durchzuführen, so wird dem Körper zu viel Wärme entzogen, und es tritt das ein, was wir als Erkältung genugsam kennen. Die starke Neigung zur Erkältung hängt noch mit anderen Besonderheiten der Kleidung zusammen. Wir sind gewöhnt, uns im Winter wärmer anzuziehen als im Sommer, damit der Körper in erster Jahreszeit nicht mehr Wärme verliert. Trügen wir uns im Winter ebenso leicht wie im Sommer, ss müßten wir dann «ehr essen. Eine ungleiche Ernährung während der verschiedenen Jahreszeiten aber paßt uns nicht. Die willkürliche Regelung der Körper wärme durch die Kleidung darf aber nicht zu wett getrieben werden, schon deshalb weil sie doch nur mit geringer Genauigkeit er folgen kann, wie wir ja auch im wesentlichen nur zwischen Sommer- und Winterkleidern unterscheiden. Das ist auch sehr gut, weil sonst die Haut noch mehr verweichlicht und der Selbsthilfe entwöhnt werden würde. Ein wichtiges Mittel zu vernünftiger Abhärtung sieht Prof. Hueppe in der Einführung von Luft- und Lichtbädern für da» Volk, die außerdem unbedingt mit Körperübungen Verbundes werden müssen. Daß diese Vor schläge durchführbar sind, ist in einzelnen Großstädten wie in Berlin und Leipzig be reits erwiesen worden. Einen gewissen Ersatz bietet der Aufenthalt in den Schwimmschulen wo die jungen Leute sich außerhalb des Wassers ohne Bekleidung lange umhertummeln. Das Wasser ist als zweites Abhärtungs mittel auch nicht zu entbehren, obgleich immer berücksichtigt werden muß, daß eS durch Ent ziehung von Körperwärme bei unrichtiges Anwendung schaden kann. Eine kalte Brause ist einem erhitzten Körper durchaus nicht zu träglich, ebenso das sofortige Abreiben eines Kindes mit kaltem Wasser, wenn es eben aus seinem warmen Nettchen kommt, nament lich wenn e» bald darauf etwa über die kalte Straße zur Schule laufen muß. Es versteht sich von selbst, daß die Fehler, in der Abhärtung durch Wasser namentlich im Wister gemacht werden, während die An wendung im Sommer weniger Einsicht ver langt. Im Winter sollten deshalb die Kinder in einer genügend warmen Stube und mit stubenwarmen Wasser gründlich gewaschen werden, bei großer Empfindlichkeit sogar nur abends Vermischte Nachrichten. * Ueber die diesjährigen Herbstübungen des XIX. (2. sächsischen Armeekorps) erfährt man: Die Brigade- und Divisionsmanöver der 24. Division finden vom 25. August bis mit 1. September in der Amtshauptmann schaft Glauchau, im westlichen Teile von Rochlitz bis zur Chemnitz-NarSdorfer Eisen bahn, sowie im nordwestlichen Teile von Ehemnitz statt. Die Manöver der 40. Division werden in der Amtshauptmannschaft Borna vom 27. August bis mit 2. September abgehalten. Jeder Division werden eine Pionier- Kompagnie, eine halbe Telegrophenabteilung, zwei Sanitätsabteilungen und eine Abteilung Divisious-Brücken-Train zugeteilt. Die 24. Division giebt an die 40. das Karabinier- Regiment und die Eskadron Jäger zu Pferde Nr. 19 ab. Die Unteroffizierschule wird der 88. Jnfanteriebrigabe überwiesen. Am 3. September wird das ganze 1d. Armeekorps in und bet Leipzig untergebracht und hat dort am 4. und 6. September Rasttag. Am 5. September findet, wie bereits ge meldet, große Parade vor dem Kaiser und König auf dem Lindenthaler Exerzierplätze statt. — Der größere Teil der Infanterie wird durch Eisenbahntransport in das Gelände zu dem Brigade- und DivisionSmanövern gebracht; ebenso finden von dort au» zur Versammlung bei Leipzig zum Teil Eisen bahntransporte statt. * Rückgang be« Vier- ««b Schnaps konsums. L» ist jetzt amtlich nachgewiesen, daß in dem letzten Zeitabschnitt, darüber Erhebungen vorliegen, daß der Vierkonsum in Deutschland einen nicht unerheblichen Rückgang erfahren hat. E» ist die» eben- sowohl im Süden wie im Norden de» Vater lande» der Fall. Früher gemachte Erfahrungen ließen erwarten, e» werde in Folge dessen sich eine Zunahme de» Branntweinkonsum» feststellen lassen. Im Gegenteil, e» hat auch eine, wenn schon nicht beträchtliche, immer hin doch merkbare Verminderung de» Brannt weinkonsum» stattgefunden. * Wa» die Humberts kosten. Die große Therese, der schweigende Frederik, der heitere Romain und die anderen Humberts haben dem französischen Staate schon am 1. Januar die Kleinigkeit von 110849 Frk». 79 Cent, gekostet. Diese Summe hat der Justizminister der Budgetkommission angegeben; es handelt sich um die Ausgaben, die bi» zum Ende de» vorigen Jahre» für das Aufsuchen und Wiederholen der berühmten Schwindlerfamilie gemacht wurden. Jetzt kommen nun die Prozeßkosten hinzu. Man hat begründete Hoffnung, daß die 200000 Frks. sehr bald voll sein werden. — * Hamburg. Der Schwur beim Leben der Mutter. Ein Ehepaar, da» im feinsten Viertel wohnt und in der Hamburg Altonaer Gesellschaft eine Rolle spielt, ist seit kurzem auseinander gegangen. Der Mann hatte seine Gemahlin schon lange im Verdacht, daß sie es mit der ehelichen Treue nicht genau nahm. Häufig war Frau T. abends fort gegangen und erst sehr spät wtedergekommen, stets war sie angeblich bei ihren Eltern, einer Schwester oder irgend einer Freundin ge wesen. Wenn der Gatte seiner Frau Vor würfe über ihr allzuhäufiges Alleinausgehen machte, erhielt er die Antwort, daß die Gattin ja gezwungen sei, stets allein Besuche zu machen, weil er eS nicht mit ihren Ver wandten halte und diese nicht mitbesuche. Herr .L. war mit Bekannten zusammen bei einer kleinen Feier gewesen. Man trennte sich gegen 12 Uhr und Herr L. beschloß den Weg nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Hell schien der Mond. Da fuhr an dem Passanten eine Droschke vorbei, in der zwei Personen saßen. Herr Zk. hatte seine Frau erkannt. Ais er nach Hause kam, erzählte ihm die Gattin aus Vorhalten, daß sie bei ihren Eltern gewesen sei. Mit Entrüstung wie» sie die Beschuldigung, mit einem Herrn zusammen im Taxameter gefahren zu sein, von sich. Der Gatte wollte sich aber nicht überzeugen lassen. Es gab eine Szene, die damit endete, daß Herr L. erklärte vou der Unschuld seiner Frau überzeugt zu sein, wenn sie folgenden Eid leiste: „Ich schwöre beim Leben meiner Mutter, daß ich noch nie die eheliche Treue gebrochen habe." Lächeln den Mundes leistete Frau L. den Eid. Der Friede zwischen den Gatten war wieder her gestellt; wußte Herr L. doch daß seine Frau viel von ihrer Mutter hielt. Am anderen Morgen kam atemlos ein Dienstmädchen und bat Frau F., sofort zur Mutter zu kommen, die erkrankt sei. Flau .k. ging und — — kam nicht wieder. Die Mutter war plötzlich in der Nacht einem Herzschlag erlegen. Die abergläubische Frau sah darin die Strafe für ihren Meineid, denn sie legte ihrem Gatten schriftlich ein Geständnis ab, demzufolge sie schon seit mehreren Monaten mit einem Herrn, dessen Namen sie verschweigt, ein sträfliche» Verhältnis unterhalten habe. Gesundheitspflege. Durch exacte physiologische Versuche ist vor kurzem auf'» neue festgestellt worden, daß die allbekannte Somatose bei ihrer Resorption dem menschlichen Verdauungs apparat weniger Arbeit macht als Fleisch, also al» Kräftigungsmittel für Patienten ganz besonder» geeignet ist. Hierzu tritt noch die am Krankenbett tausendfach festgestellte Tatsache, daß Somatose, wie kein anderes Mittel, im Stande ist, den Appetit auf natürliche Weise anzuregen. Somatose sollte demnach überall dort Verwendung finden, wo e» sich darum handelt, dem Körper leicht verdauliche Nährstoffe in concentrierter und zugleich angenehmer Form zuzuführen, bei Krankheiten aller Art, allgemeiner Körper- schwäche, Blutarmut, Nervosität und in der Rekonvalescenz. Kirchennachrichten. Charfreitag. 10. April. Naunhof. Lorm. '/,N Uhr: Gottesdienst. Nachm. Uhr: Beichtanmeldung in der Sakristei. Nachm. 5 Uhr: Beicht- und Abendmahlsgottesdienst. I. heil. Osterfeiertag. 12. April. Naunhof. Vorm. V,10 Uhr: FestgotteSdienst. H. ?. em. vr. Schenkel. — Kirchenmusik. Nachm L Uhr: Kindergottesdienst. H. Pf. Herbrig. Klinga. Vorm. 8 Uhr: Festgottesdienst. — H. Pfarrer Herbrig. Kirchenmusik. Nachm. 2 Uhr: Betstunde. Aibrechtshain. Vorm. '/,V Uhr: Festgottesdienit. — Gesang des Männergesangvereins. „Siehe das ist Gottes Lamm " Nachm. 2 Uhr: FestgotteSdienst. Erdmannsham. Vorm. */,11 Uhr: Festgottesdienst. II. heil. Osterfeiertag. 13. April. Naunhof. Vorm ^10 Uhr: Festgottesdienst. — H. Pfarrer Herbrig. Kirchenmusik. Nachm. 2 Uhr: Taufen. Klinga. Vorm. 9 Uhr: FestgotteSdienst. — H. ?. e. vr. Schenkel. — Kirchenmusik. Albrrchtshain. Vorm. V,11 Uhr: FestgotteSdienst. ErdmannShain. Vorm. '/,V Uhr: Festgottesdienst. An beiden Feiertagen Kollekte für die Sächsische Hauptbibelgesellschaft. — Niederlagen derselben im Pfarrhause. Astronomischer Kalender. Freitag, den 10. April 1903. Sonnenauaufgang Sonnenuntergang Mondaufgang Monduntergang 5 Uhr 15 Min. 6 Uhr 38 Min- 3 Uhr 50 Min. 3 Uhr 58 Min. Gedenktage. 7. April 1886. Der volkstümliche Dichter Josef Viktor v Scheffel stirbt zu Karlsruhe. Temperatur in Naunhof. Stand de» Quecksilbers «ach Steaumur. Datum Höchster Stand Kälte § Wärme Tiefster Stand ! Kälte f Wärme 8. April - 1 7V, 9. „ 8 Die Waise. Roman von Willy Sartory. 35 Hedwig sah ihn niit einem Blick an, dem er nicht standhielt, dann nahm sie den Brief hervor und schlenderte ihm denselben vor die Füße, indem sie mit zitternder Stimme rief: „Hier ha ben Sie Ihr Geld znrück." Dunn lachte sie höhnisch und laut auf: „Glauben Sie, damit sei meine verlorene Liebe bezahlt." Dann warf sie sich vor Edmund auf die Knie. „Edmund!" rief sie schmerzlich. „Sage diesen Menschen doch, daß sie mich nicht beschimpfen!" Ihre Kräfte verließen sie, sie brach in sich zusam- men. Clara war, einer Ohnmacht nahe, zurückgesunken, sie ahnte auf einmal alles, sie begriff alles, ein schmerzliches Gefühl preßte ihr die Brust zusammen. Sie wußte jetzt, woher Edmuuds Zu rückhaltung kam. Er liebte sie ja nicht, er liebte dieses arme, schöne Mädchen Edmund stand noch immer starr dort. Ans einmal kam Le ben in ihn. Einen verzweifelten Blick auf Hedwig werfend, wankte er an ihr vorbei aus dem Salon. Sein Gesicht hatte etwas starres und alles Blut war daraus gewichen. Um Hedwig kümmerte sich niemand. Janglo stand finster brü tend und von der Gruppe abgewandt. Frau Janglo saß fassungs los da, und Clara lag, den Kopf zurückgebeugt, mit geschlossenen Augen da. Niemand schien Edmnnds Entfernung gesehen zu haben, nur Hedwig hatte sein Gehen bemerkt, sie hatte den Blick, den er ihr zugeworfen, aufgefangen. Als die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, war sie auf gestanden, um ihm nachzueilen. Eine schreckliche Angst hatte sie gepackt. Sie lief den Flur cntlaug nach seinem Zimmer. Jetzt war sie an der Thür, drückte auf die Klinke, als von innen ein Schuß und gleich daraus ein schwerer Fall ertönte. Hedwig stieß einen herzzerreißenden Schrei au» und warf sich über den am Boden liegenden. „Edmund! Edmund!" schrie sie mit schmerzlicher Stimme, „Du darfst nicht sterben! Edmund, ich will ja zurücktreten .'"Ein krampfhaftes Schluchzen ging durch ihren Körper. Herr Janglo kam bleich und verstörtherein. AIS er Edmund im Blute liegen sah, stöhnte er laut auf und ließ sich schwer aus einen Stuhl fallen. Aber gleich darauf sprang er wieder auf und eilte vor die Tlmr. Johann stand schon wartend da, er hatte auch den Schuß ge hört und war hcrbeigeeilt. „Schnell einen Arzt!" rief ihm Janglo gebrochen zu. Frau Janglo kam über den Flnr. Im ersten Schreck war sie nicht fähig gewesen, ein Glied zn rühren, auch jetzt schien ihr der Schreck die Zunge gelähmt zu haben, mühsam brachte sie nur das eine Wort Herans: „Edmund!" Sie las die Antwort von ihres Mannes verstörten Zügen, sie drängte sich an ihm vorbei, der sie znrückhalten wollte, in das Zimmer. Mit einem schmerzlichen Schrei brach auch sie ne ben Edmund zusammen und rief flehend feinen Namen. Edmund schlug die Augen auf, er versuchte mit der Hand nach Hedwigs Kopf zu fassen, aber schlaff sank sie wieder zurück. „Hedwig," murmelte er mit erblaßten Lippen. Hedwig öffnete die Augen und sah ihn mit einem wirren Blick an. „Zürne mir nicht, Hedwig . . ich . . konnte . . nicht. . an- ders .. in . . meinem . . Schreibtisch . Brief. . . Gott . . sei . . mir . .gnädig." Ein krampfhaftes Zucken ging durch seinen Kör- per, seine Glieder dehnten sich, noch ein letzter Seufzer, er hatte ausaelitten. Janglo saß auf einem Stuhl, in sich zusammengesnnken, das Gesicht mit den Händen bedeckt. In seiner Brust ächzte und stöhnte es. Der starke Mann war gebrochen. Hedwig richtete sich auf. Mit einem letzten wirren Blick streifte sie das Gesicht des Toten Sie schauderte zusammen und wandte ihren Blick weg. Niemand merkte, wie sie sich schluchzend entfernte. Ans dem Gang angekommeu, rannte sie, so schnell sie konnte, aus dem Hause, sich alle Augeublicke ängstlich umsehend, wie in der Angst, verfolgt zu werden. Das Thor stand auf, ungehindert kam sie auf die Straße, sie eilte weiter, immer weiter, wie von Furien gehetzt. * * Fast eine Stunde war Hedwig wie wahnsinnig in der Stadt herumgelausen Sie war in die Straße gekommen, in der Frau Kuhn wohnte, sie wußte eS nicht, sie wußte nicht, wo sie war. Ihre Füße konnten sie nicht mehr tragen, sie ging an die Seite der Straße und ließ sich auf einer Treppenstufe nieder. Die Thür hinter ihr wurde geöffnet. Sie merkte es nicht. Frau Kuhn war herausgetreten. Sie kannte Hedwig nicht gleich wieder, sondern erst als diese auf ihre Anrede hin ihr den Kopf zuwaudte und sie mit einem irren Blick verständnislos ansah. Hedwig stand wieder auf und wollte forteilen. Frau Kuhn hielt sie am Arm fest. „Um Gottes willen, Hed wig, Sie sind s? Was ist passiert?" Wieder dieser verständnislose Blick. Frau Kuhn sah ein, daß Reden hier nichts nützte. Mit Schrecken batte sie gesehen, daß Hedwig sie nicht kannte. War sie wahn sinnig geworden? Sie ließ HedwigS Arm los und faßte sie um die Taille, und zwang sie so mit sanfter Gewalt die Treppe herauf in das Haus. Hedwig folgte, wie im Traume hielt sie die Augen geschlossen, um nicht das schreckliche Bild immer wieder zu sehen. Als Frau Kuhn sie sanft in ihre Wohnstube schieben wollte, fuhr sie mit einem Schrei zurück. „Nicht. . nicht. . da hinein!" rief sie mit ängstlicher Stimme. „Ich kann sein Gesicht nicht mehr sehen, ich bin ia schuld an seinem Tod!" Mit Gewalt drängte sie zurück und war auch auf das sanfte Zureden der Frau Kuhn nicht hineinznbringeu. Diese gab den Bertuch auf und führte sie in ihr Schlafzim mer. Sie iah ein, daß Hedwig Ruhe haben mußte. Wie ein Kind ließ sich diese von Frau Kuhu auskleiden und ins Bett legen, in dem sie alsbald wie leblos dalag. Ihre Lip pen waren schneeweiß. Aenastlich horchte Frau Kuhn auf ihre Atemzüge. Sie schien zu schlafen. Leise verließ sie das Gemach, nm im Wohnzimmer nach der Uhr zu sehen. Es war sechs Uhr, Karl mußte also bald nach Haus kommen. Daun kehrte sie wieder nach dem eben verlasse- nen Schlafzimmer zurück uud nahm auf einem Stuhle neben dem Lager Hedwigs Platz. Was würde Karl sagen? Er hatte Hedwig noch immer nicht vergessen können, sie aber seitdem sie das Haus seiner Mutter verlassen, nicht mehr gesehen. Im Frühjahr^ war es ihm gelungen, einen Posten auf dem Postamte in der Stadt zu erhalten. Seine Mutter freute sich sehr darüber, sic war jetzt wenigstens nicht mehr so allein in ihrem Hause. Das Zimmer, das Hedwig früher inne hatte, wollte sie um keinen Preis mehr vermieten. Sie war ja auch nicht auf die paar Mietsgroschen angewiesen. 99,20