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Wöchentlich «scheinen drei Nummern. PriinumerationS' Preis 22; Sgr. s^ Thir.) vierteljährlich, Z THIr. für daß ganze Jahr, ohne Er höhung, in aüeu Theilen der Preuslschen Menarchic. für die Man pränumeriri auf diese» Literatur-Blatt in Berlin in der Expedition der Mg. Pr. Staats-Zeitung (Fricdrichsstr- Nr. 72); in der Provinz so wie im Auslande bei de» Wohllöbl. Posi-Aemtern. Literatur des Auslandes. Berlin, Montag den 23. November 1840. 141 Belgien. Belgien und sein Verhältnis; zur Französischen Literatur. Ueber dieses Thema enthält eines der vorzüglichsten Organe der Belgische» Presse, die Kevue nationale sie Ijelgigue, die erst seit l8Zl> erscheint, einen merkwürdigen Artikel. Besonders ist es für uns Deutsche interessant, darin zu sehen, wie das Bcdürfniß, sich von der Knechtschaft des Französischen Geistes zu befreien und sich mehr der Einwirkung des Germanischen hinzugeben, dort immer mehr gefühlt, immer lauter ausgesprochen wirv. Ein Punkt dagegen, der noch einer genaueren Prüfung Stand zu halten hat, ist die neutrale Stellung, die der Verfasser für sein Vaterland in jeder Beziehung in Ampruch nimmt, ohne die Frage zu berücksichtigen, ob eine neutrale Stellung der Art, in der Politik wie im geistigen Leben, für ein so kleines Volk, wie das Belgische, in der Mitte zwischen zwei so mächtigen Nachbarn, auf die Dauer möglich oder haltbar, ja ob sie überhaupt für dasselbe rathsam seh. „Belgien", — beglnut jener Artikel, — „besitzt eine vortreffliche Grundlage der Civilisation in dem gesunden Siim seines Volks. Aber je höher die Schichten dieser Civilisation liegen, desto kleiner werden sie) und zuletzt verschwinden sie oft ganz. In der Verwal tung, in der Armee, in der Industrie, im Unterricht werden die unteren Stellen leicht und passend besetzt; wo dagegen eine mehr als gewöhnliche Kapazität erforderlich ist, wo man Leute braucht, die gute Studien gemacht und viel gedacht haben, da sieht man sich in großer Noth. ES würde zu nichts helfen, diese Lücken verbergen zu wollen; auch werden sic durch den Zustand unserer wissenschaft lichen und literarischen Presse, durch den fast gänzlichen Mangel an Belgischen Bücher», weiche die Wissenschaft weiter bringen oder in der literarische» Welt Epoche machen, nur zu sehr verrathcn. Es ist besser, das Uebel eingcstchcn, so gelingt cs vielleicht eher, die Heilung desselben zu bewirken. Auch liegt ja nichts Entehrendes für das Land in dieser uaiürlichcn Folge geistiger Erschlaffung, in welche die lauge Herrschaft der Fremden cs gebracht hat; es ist ihm noch sehr hoch anzurcchnen, daß es mitten unter so vielen Wechseln und Leiden, denen gar manches andere Volk nicht widerstanden hätte, seinen moralischen Charakter rein erhielt. ES geht hieraus hervor, daß man zwar den Volksunterricht nicht vernachlässigen darf, aber daß es noch nvthwcndiger ist, den mittleren und höheren Unterricht zu heben und überhaupt wieder ein regeres geistiges Leben zu schaffen. Eine solche Entwickelung unter stützen, ist aber nicht genug; die Belgische Civilisation soll nicbt bloß sortschreitcu und wieder miflcben, ihre ersten Fortschritte dürfen sie auch nicht auf Abwege führen, sie muß eine Zukunft haben. Das heißt mit anderen Worten, sic muß dem Charakter des Landes treu blciden, sie muß sich innerhalb jener Moralität und Tüchtigkeit halten, welche die Grundlage des Belgischen Charakters auSmacht. Eine Klippe droht ihr besonders: seit einem halben Jahrhundert hat uujerc enge Verbindung mit Frankreich die Bildung der höheren Klagen »»ter den Einfluß der Französischen Civilisation gestellt, die man mit mehr Recht die Pariser Civilisation nennen möchte. Die Wissenschaft, die Literatur, die Bücher kommen uns aus Paris. Nun giedt es aber zwischen dem Pariser und dem Belgischen Geist so viele Unähnlichkeiten, vast diese zu ausschließliche Abhängigkeit nur gezwungene Früchte, einen geborgten Glanz, eine mehr oder weniger geschickte Nachahmung hervorbringen kann, die aber nichts sehr Tiefes und Großes noch Dauerndes zu Tage fördert. Eine wahre und fruchtbare Civilisation kann nur die seyn, die aus dem natürlichen Charakter eines Volks entspringt. ES wäre eben so lächerlich als barbarisch, zu verlangen, daß Belgien sich von der Französischen Civilisation ganz und gar isolire, daß es die großen Borthcile dieser Berührung nicht benutze. Weit entfernt, dies zu wollen, glauben wir vielmehr, daß diese Vortbcile in gewissen Be ziehungen noch nicht genug ausgebeutct worden.' Aber diese freund- nachbarliche Berührung darf nicht i» Knechtschaft ansartcn. Die neuere Geschichte einer der in Belgien populairsten Künste, der Malerei, gicbt uns hier eine treffliche Lehre. Man vergleiche die niedrige Stufe, auf welche die Belgische Malerei unter dem Joch der Pariser Schule gesunken war, durch welche sie so weit von ihrer natürlichen Entwickelung abgeführt ward, mit dem, was sie wird, seit sie, zur alten Belgischen Malerei zurückkchrend, angcfangen bat, die Französische Schule wie die übrigen mit mehr Unabhängigkeit zu studiren. Dit Schwierigkeit ist, daß, außer in den Künsten, unsere geistige Civilisation kein nationales Vorbild hat, an das sie sich anschließen könnte. Um daher für die Französischen Ideen ein Gegengewicht zu haben, wird ihr nichts Anderes übrig bleiben, als- mit den beiden anderen großen Civiltsationen Europa's, der Eng lischen und der Deutschen, in engeren Verkehr zu treten. In der Civilisation wie in der Politik müssen Unabhängigkeit und Neutrali tät im Vcrhältniß zu seinen mächtigen Nachbarn stets die Devise Belgiens bleiben. Indem wir diese großen Einflüsse einen durch den anderen neutralifiren, indem wir uns auf alle stützen, um von keinem allein beherrscht zu werden, werden wir uns so viel Freiheit erhalten, uni von jedem zu nehmen, was unserer Eigenthümlichkeit. zusagt, und ihnen zu lassen, was auf unserem Boden nicht gedeihen würde und keine Zukunft hätte. So wird sich Belgien mit der Zeit — und vielleicht wird es einer langen Zeit bedürfen, denn ein solcher Prozeß geht nur langsam und allmälig vor sich — eine mittlere, feinen Sitten und seinem Charakter angemessene Civilisation bilden, die mit der Schottlands und dcr Französischen Schweiz mehr als einen Familienzug haben wird, und der man vielleicht von Paris aus eine zu geringe Ausbildung dcr Form, ja selbst etwas Schwer fälligkeit vorwerfcn wird, ohne daß wir auf diesen Vorwurf sehr zu achten hätten. Wenn wir schon jetzt angeben sollten, auf welchen Bahnen die Belgische Kultur einst fähig sepn möchte, nach dem Preisen zu ringen, so möchten wir weder die leichte Literatur, noch selbst die Poesie nennen, dagegen die exakten Wissenschaften, die po litischen und moralischen Wissenschaften und die historische Literatur. Indem es die mühevollen und gewissenhaften Arbeiten unserer alten Gelehrten wieder aufnimmt, aber um sie mit dem Licht der modernen Wissenschaft zu bereichern, würde das neue Belgien bald die erste Basis zu seinen künftigen Fortschritten legen und in der geistigen Welt allmälig wieder zu dem Rang emporsteigen, den es schon ein mal darin eingenommen hat. Dcr hervorstechende Charakter der Französischen Literatur seit mehr als einem Jahrhundert ist der Esprit, dessen Ucbcrmaß sich auf der einen Seite in die Manier wirft, auf der anderen in eine Iro nie, welche die Inspiration tödtet. Die Belgischen Schriftsteller be mühen sich, diesen Esprit nachzuahmcn, aber cs gelingt ihnen nicht. Sie fühlen dies, sie ärgern sich darüber, und doch 'können sie es nicht lassen, fortwährend nachzuahmen. Wir glauben, daß sie auf unrech tem Wege sind, und daß ihre Ohnmacht so lange dauern wird, als sie auf diesem Wege verharren. Der Esprit in der Literatur hat gewiß große Reize, aber wir sehen, daß er den Aufschwung der Phantasie hemmt und die schönsten Inspirationen verdirbt. Für ein ernstes Volk, wie das Belgische, gicbt cs eine viel wünschenswcrthere Eigenschaft: die Naivetät. Diese Eigenschaft, die nichts Anderes als das Gefühl des Natürlichen ist, kann immer da Glück machen, WW der Esprit gescheitert ist. Besonders in den ernsten Werken iß die Naivetät von großer Hülfe. Der Esprit trocknet das Gemüth auS und verkümmert den Gedanken. Das ganze sechzehnte Jahrhundert war naiv, und welche herrliche Sachen hat cs nicht in allen Künsten hcrvorgebracht. Man glaube nicht, daß wir unter der Naivetät jenes Ungeschick und jene etwas einfältige Geradheit der Künstler des Mit- tclaltcrS verstehen, deren phantastische Kühnheiten uns oft lächeln machen. Nein, wir meinen jene schöne Natürlichkeit, die kein Künstler verdirbt, keine Furcht hemmt. Die großen Künstler waren immer in ihren Werken die naivsten Leute von der Welt. Die Jungfrauen Raphacl'ö sind das Ideal dcr Naivetät. Man gestehe, daß Sauzio nicht den geringsten Esprit hat, und daß es dies ist, was uns auf seiner unnachahmlichen Leinwand so entzückt. Im Allgemeinen ist in der modernen Kunst die Naivetät den nördlichen Volkern zuge- fallcn. Die des Südens haben mehr Esprit. Seit Voltaire verdirbt der Esprit die Französische Literatur eben sowohl als die Künste. Diese Nation ist für den Esprit besonders empfänglich; sic ist immer geneigt, sich über die Naivetät lustig zu machen. Wagt cs nun, naiv zu sepn, überlaßt euch der Natürlichkeit und Unbefangenheit eurer Begeisterung vor einer Presse, die immer mit angczündeter Lunte bereit ist, auf alles einfach Schöne den Donner ihrer witzigsten Sarkasmen lvSzulasscn. Die Belgischen schriftsteller haben Unrecht, ihre Natur zu zwingen; sie werden auf diesem Boden mit Gegnern, wie die Französischen Schriftsteller, vergebens um den Preis ringen. Sie mögen sich lieber der Naivetät des nordischen Genius überlassen, daS ist die rura »vi», in den Künsten. Wer hat jetzt nicht Esprit? wer hat Naivetät? die Antwort ist nicht schwer. Die Kunst, zu schreiben, wird b« unS wenig studirt; man lieft zu wenig hie großen Muster der vergangenen Jahrhunderte und selbst