Volltext Seite (XML)
155 Bei der Durchsicht der Neapolitanischen Werke stoßen wir auf einen kleinen Band Gedichte, die 1670 unter dem fingirten Namen Sgruttendio gedruckt wurden. Dieser Dichter, dessen wahren Namen man nicht kennt, gilt für den Petrark Neapels; freilich muß man cs damit nicht so genau nehmen, doch bewundert man die dichterische Gluth seiner bieder, er schrieb mehrere ,VImlin.nc, eine Art von Tänzen, wobei gesungen wurde und die an die pzrrbied» der Alten cruinern. Sicher liegen denselben die Gesänge zum Grunde, die sich noch durch Ucbcrliefcrungen im Munde des Volkes erhalten hatten. Es sind Verse, in denen Geheul, Ausrufungen, Anreden und unübersetzbare Worte auf einander folgen: Alles malt die Aufregung des Tanzes. Diese Poesie zeigt uns den Lazzaroni in seiner ganzen angeborenen Rohheit; er kommt aus der Schenke, ruft mit lärmendem Geschrei alle Mädchen von der Straße heran, macht Sprünge und Pirouetten, besingt seine Geliebte, redet eine nur in der Einbildung bestehende Lucia an, die den Tanz leitet, fordert Wein und ahmr das Gekräh des Hahnes nach. Alle diese Ausschweifungen, die in den Mattinaten des Sgruttendio mit Blitzesschnelle auf einander folgen, setzen den Leser in eine unbe schreibliche Betäubung. Redi, der Verfasser der vorzüglichsten Jta- liänischcn Dithyrambe, hat es nicht verschmäht, den Sgruttendio nachzuahmcn, den» cs giebt kein einziges Volksgedicht in Italiänischer Sprache, welches die ^lacrinsce verdunkeln könnte. Unglücklicher weise besaß Sgruttendio die Sucht, Petrarka nachzuahmen; seine Phantasie war aber leider nur zu gewöhnlicher Art, und die ganze Masse seiner Svnnctte kann nicht dem lyrischen Aufschwung seiner bieder verglichen werden. Nach Basilio, Cortese und Sgruttendio geräth die Neapoli tanische Literatur in Verfall; CrcScimbeni, Gravina, Metastasio und Andere verschaffen der National-Litcratur den Sieg; der Französische Einfluß verbreitet sich über Italien, die Sitten verändern sich, und die Neapolitanische Mundart verliert viel von ihrer Gluth nud Fruchtbarkeit. Kaum tritt sie noch in einigen abgerissenen Stellen, in einigen leichten Zügen mit etwas Glanz hervor. Der berühmteste Vertreter der Neapolitanischen Poesie im achtzehnten Jahrhundert ist Cavasso, der einige Sonnette, Epigramme, eine Satire auf Gravina und eine Uebersetzung von sieben Gesängen der Jliade ver saßt hat. Man versichert, baß er sich des Dialektes auf eine bc- wundernswerthe Weise bedient habe; seine Uebersetzung des Homer's gilt für ein Meisterstück, und seine Landsleute wissen seine Epigramme auswendig; doch kann Capasso nur in Neapel verstanden und beur- theilt werden. In der Wahl seiner Gegenstände ist er unglücklich; er wurde durch die neuen klassischen Einwirkungen irregeleitet und verlor seine drei Vorgänger aus den Augen. Als er nicht mehr wußte, was er mit seiner Dichtcrgluth und seiner Mundart beginnen sollte, übersetzte er den Homer und ereiferte sich gegen Gravina. Kann man sich aber wohl für Parodiccn interessiren, die mit dem Griechischen Tert zur Seite herauögegcben werdens Bei den anderen Dichtern des achtzehnten Jahrhunderts wird die Neapolitanische Poesie immer seichter. Lombardi, der vielleicht der beste von allen ist, schrieb ein Gedicht über „GragnanvS Esel". Gegen das Ende des goldenen Zeitalters flieht der Ueberfluß von der Erde; Unfriede und Krieg dehnen ihr Reich über Menschen und Thicre aus. Gragnano'S Esel, die von anderen Tbieren angegriffen werden, sinnen auf ihre Vertheidigung und Be- schützung, sie bauen sich also eine Stadt; freilich kein schmeichelhafter Ursprung sür die Start Gragnano. Basilio's Zaubereien, Villanrs Verwandlungen tauchen zum letzten Mal in diesem Gedichte des Lombardi auf. Valentino, Pagano und einige Andere verfassen Parodiccn Virgil's, übersetzen den PhädruS und Metastasio, schreiben Satircn gegen den LuruS, die Cicisbci und die Moden; die Poesie versucht sich an den neuen Lächerlichkeiten des Jahrhunderts, aber sie geht nicht über das einfache Epigramm hinaus. Durch den Jtaltänischcu Einfluß gelähmt, wird sie schwerfällig und verliert ihre Helden und ihre Karrikaturen; der Aufschwung der Zeit des Ma- sanicllo verlischt, und während die National-Literatur aufblüht, er stirbt die Neapolitanische Poesie in einer Fabel von den Eseln. Galliani beklagt als guter Neapolitaner den Verfall seines Dialektes; er schrieb eine Broschüre, in der er das schöne Zeitalter Cortcse'ü zurückwünschte und die Fortschritte der Jtaliänischen Sprache be klagte. Diese von einem Anonymus widerlegte Broschüre ist die letzte und einzige Rcaction der Neapolitanischen Mundart. Die Neapolitaner haben der Dnnwüia soll' sme zwei Personen gegeben: den Polichincllj der in gerader Linie vom Maccus abstammt und den Atcllancn der Altcn entnommcn ist, und den Capitano, der immer gespornt nnd gewappnet austritt, nur von Schlachten spricht, aber schon bei dem leisesten Schatten einer Gefahr die Flucht ergreift. Polichinell ist unter allen Veränderungen der altcn und ucucn Wclt immer dersclbc geblieben, der Capitano aber hat sich dreimal ver ändert. Zuerst war cr das Modell des Jtaliänischc» Abenteurers, er mahlte mit den Heeren, die er besiegt, den Zauberern, die cr gefoppt, ja er hatte sogar den Tod selbst gctödlet; er gab sich für sehr reich aus und trug nicht einmal ein Hemd unter seinem gewaltigen Küraß. Zur Zeit der Spanischen Herrschaft verwandelte sich der Capitano ganz natürlicher Weise in einen Spanier; cr sprach Castilianisch, nannte sich Matamoro, Fnego, Mucrto, war etwas weniger furcht sam, dafür aber bösartiger. Gegen Ende des siebzehnten Jahrhun derts verschwanden die Abenteurer mit den Abenteuern, und der Capitano, der sich nun nicht mehr mit Lorbeern schmücken konnte, zog die bürgerliche Tracht an, verwandelte sich in den Scaramuz, wurde Graf oder Marquis und besaß eine Menge eingebildeter Schlösser. Das Repertoir des Neapolitanischen Theatcrs ist ganz ansehnlich; der berühmte Physiologe Porta hat Komödien hinter lassen, und der große Philosoph Bruno hat ein Stück geschrieben. Wir haben mehrere dieser Erzeugnisse durchblättert, können aber keine Rechenschaft darüber ablegen; im Allgemeinen sind alle jämmerlich, und obgleich es noch ein Neapolitanisches Theater giebt, vielleicht das einzige in Italien, wo man im Dialekte improvisirt, so hat doch kein einziges der Stücke dieses Theaters die Improvisation überdauert. Ferrari. England. Die Lenalcnjahrc des Obersten Jack. (Fortsetzung.) Zu diesem Gewerbe war der „gräuliche Jack", wie ich ihn nannte, als wir älter wurden, allerdings qualisizirt; den» er machte sich oft einen boshaften Spaß daraus, einem Kinde so in die Kehle zu kneifen, daß es kaum athmen, geschweige denn schreien konnte. Aber die saubere Gesellschaft, der er sich angcschlosscn hatte, wurde plötzlich vom Ersten bis zum Letzten eingcfangen und nach Newgate gebracht. Wenn ich mich recht entsinne, so hatten sic einen Knaben, der zufällig das Söhnlein irgend eines hochgestellten Mannes war, ent weder gctodtet, oder sehr arg mißhandelt; genug, das Kind wurde wicdcrgefundcn, und so war man dem Gesindel aus die Spur gekommen. Ich weiß nicht mehr, welche Strafe man den erwachsenen Mit gliedern dcr Bande aufcrlegt hat; was den „gräulichen Jack" be trifft, so wurde dieser zu dreimaliger „gründlicher Auspeitschung" in Bridewell vcrurthcilt. Der Lordmayor oder dcr Rccordcr be deutete ihm, man peitsche ihn lediglich aus Mitleid, damit er einst dem Galgen entginge, vergaß nicht, schonungsvoll hinzuzusügen, daß er ein wahres Galgengesicht habe, und ermahnte ihn, schon aus diesem Grunde auf seiner Hut zu seyn. So merkwürdig war die Physiognomie des Capctains schon im dreizehnten Jahre! Ich ging in Gesellschaft des Majors nach Bridewell, um ihn zu besuchen. Gerade an jenem Tage empfing er die „Correction", oder mit einem anderen Kunstausvruck, cr wurde „gründlich ausge- peitschl". Vor diescm feierlichen Akte mußte cr eine kräftige Predigt des Aldermans in Bridewell anhören, der ihm vorstellte, was es für ein Jammer sey, wenn ein so junger Knabe den Weg zum Galgen wandle, wie heilsam und ersprießlich die zu bestehende „Cor- rection", wie gottlos und abscheulich es dagegen sey, arme unschuldige Kinder zu stehlen u. s. w. Darauf peitschte ein Mann in langem blauem Rocke so lange auf den Capitain los, bis der Alderman, mit einem Hämmerchen auf den Tisch schlagend, ihm das Zeichen gab, einzuhaltcn. Der arme „gräuliche Jack" geberdete sich unter der Peitsche, wie ein Besessener, und ich schwebte in wahren Todesängsten. Als ich nachher die Erlaubnis erhielt, ihn zu sprechen, tröstete ich ihn, so gut cs gchcn wollte; allein dies war nur der Anfang seiner Pein; er mußte noch zwei ähnliche Geißelungen bestehen, ehe man ihn ent ließ; und wirklich gerbte man ihn mit solcher Salbung, daß ihm die Lust, Kinder zu stehlen, auf einige Zeit verging. Gleichwohl gcricth er auf die Länge wieder umcr jene Menschcndiebe und setzte das Handwerk in ihrer Gesellschaft noch ein paar Jahre fort, bis sie endlich aus freien Stücken demselben entsagten. Die strenge Züchtigung dcs CapitainS machte auf den Major und mich cinen solchen Eindruck, daß man wohl sagen konnte, wir seycn mit ihm gleichzeitig „korrigirt" worden, obschon wir durchaus keinen Theil an seinem Verbrechen hatten. Dennoch gericth mein jüngerer Milchbrudcr, ein gutmüthiger, sehr umgänglicher Knabe, m>ch ehe das Jahr herum war, in die Schlingen zweier junger Spitzbuben, die unser Asyl in der Glashütte besuchten. Sie berede ten ihn zu einem Spaziergang — wie sie es nannten — auf den St. Bartholomäus-Jahrmarkt.... oder, mit anderen Worten, auf Taschen - Plünderung. Mei» Bruvec verstand die Kunst noch nicht und durste also nicht aktiv wcrdcn; bcmioch versprachen ihm seine Begleiter cincn Antheil am Erwerbe, als wäre er so erfahren gewesen, wie sie selber. Alle drei gingen also mit einander nach dem Markte. Die beiden kleinen Spitzbuben machten so gute Geschäfte, daß sie Abends gegen acht Uhr ganz bestäubt in unser gemeinsames Logis zurückkehrtcn und, in einer Ecke zusammengekauert, beim Scheine des Glashütten-Feuers ihre Beute theilten. Der Major langte sämmtlichc Artikel aus seinen Taschen heraus; denn er allein hatte Alles unter Obhut nehmen müssen. Mein Gedächtniß bewahrt noch folgendes Protokoll über diese Artikel: 1) Das weiße Taschentuch einer jungen Bäuerin, die sich dieses Stück hatte entwenden lassen, während sie mit großem Inter esse eine Strohdeckc betrachtete. In einer Ecke besagten Taschen tuchs waren Z Shilling 6 Pence, dazu ndch ein Päckchen Nadeln eingeknüpft. 2) Ein farbiges Taschentuch, ganz sachte aus dcr Tasche eines jungen Bauern gezogen, als cr eben um eine Orange feilschte. 3) Eine gestrickte Börse mit 11 Shilling 3 Pence und einem sil bernen Fingerhut, aus dcr Tasche einer jungen Frau heraus- gekünstclt, als cben ei» feiner Herr ihr die Hand reichte. kiir. Sie war des Verschwindens ihrer Börse bald inne geworden, da sie aber keinen Dieb sah, so fiel ihr Verdacht auf den seinen Herrn, der ihr seine Hand gereicht. Sie schrie aus voller Kehle: „Halt't den Dieb!" worauf eine Menge Volks den feinen Herrn umringte, dcr nur mit großer Noth sich als ehrlicher Mann lcgitimircn konnte. 4) Ein Messer und eine Gabel, die zwei Kinder gekauft und in ihre Täschchen gesteckt hatten. Beides wanderte schon im nächsten Augenblick wieder aus den Täschchen heraus.