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140 für Andere die Leidenschaften, und daß er sich das Recht, um acht Ahr untcrwcges zu scyn, wenn er den Omnibus für -acht Uhr gcmie- tl et, sich eben so wenig nehmen läßt, als Andere das Recht, die Mar seillaise zu singen oder einer Gräfin in die Nase zu rauchen. Eines TageS also, da mein Vetter in dem Omnibus von acht Uhr Platz nimmt, findet es sich, daß, aus die Bitte eines jungen Fremden, der Conducteur sich dazu verstanden, die Abfahrt um einige Minuten zu verzögern, einer Dame zu Gefallen, die der Fremde erwartet. DaS verstimmt meinen Vetter: die ganze Ordnung seines TageS wird dadurch umgcstürzt. Es schlägt ein Viertel; mein Vetter ist außer sich; schon sieht er in der Dame die Veranlassung einer Reihe von Unregelmäßigkeiten, deren eine die andere erzeugt und die zuletzt die Stunde seines Diners, seines Kaffcc's, seiner Siesta ganz aus dem Geleise bringen. Als cS 25 Minuten nach acht war, da kann er sich nicht mehr halten und brummt: „Hol' die Dame der Teufel!" Sogleich giebt ihm der junge Fremde seine Adresse, verlangt von ihm die semige, und man bestellt sich für den anderen Morgen um acht Uhr, um acht Uhr präciS, fügt der Fremde hinzu. Diesmal ließ mein Vetter auf sich warten. Er kam mit Entschuldigungen; mau nahm sic nicht an. Nun besorgten wir Zeugen und Verwandte das Uebrigc, und der Ehre war Genüge geschehen. Ich komme auf den Besuch zurück, den ich meiner Taute im letzten Herbst machte. Sie saß in dem Ehinesischcu Pavillon und laS einigen guten Dame» der Nachbarschaft etwas vor. Der Ge genstand mußte sehr rührend scyn, denn ich fand die ganze Gesell schaft sehr aufgeregt, außer meincm Vetter Ernst, dec seiner Ge wohnheit nach eine Zigarre rauchte, nachlässig auf einer ländlichen Bank hingcstrcclt, im Schatten einer Akazie. Nachdem ich die Ge sellschaft gegrüßt und meine Tante umarmt, bat ich die Damen, sich nicht in ihrer Lektüre stören zu lassen; ich eilte, mich ebenfalls »icder- zulaffen und zu rauchen, im Schatten der Akazie. Meine Tante laS genau so wie eine zärtliche Mutter liest, die in ihrer Jugend Erzieherin war, im didaktischen Ton nach bestimmten Prinzipien und nach den Regeln der strengsten Aussprache, so daß cs eine Lust war, sic zu hören. Nachdem sie die Brille wicdcr auf die Nase ge setzt, fuhr sie fort: „ .... Dieses Mädchen war eine jener weißen Fraucngcstalten, welche eine bläßliche Strahlenkrone von tiefer Melancholie wie mit einem Dämmcrungsschleicr umgicbt. Vcrurthcilt, den Befehlen eines Vaters zu gehorcht», der unfähig war, das gchcimnißvolle Sehnen einer Seele zu verstehen, welche die Tiefen ihres Herzens auSzufüllen sucht, verzehrte sic sich in geheimen Schmerzen und ersticktem Schluchzen. DaS kam daher, daß die Pflanze, welche geschaffen worden, um auf dem strahlenden Naud der Apenninen zu blühen, unter den kalten Abhängen Helvetiens hatte keimen müssen, so daß, als sie auf dem Punkte war, sich , in herrliche Blättcr zu entfalten, der cisigc Wind der Höhen sie zwang, sich in die undankbare Hülle ihres blassen Kelchs zurückzuzichen." „Vetter! wer ist denn diese Pflanze?" so fragte ich den nachge- borencu Hagestolz, der neben mir rauchte. — „ES ist.... cS ist eine köstliche Frauengestalt" (mein Vetter war dazu abgerichtet, die gewählten Ausdrücke seiner Mutter zu wiederholen). — „And dieses Auch, was ist cs?" - „Ein Neisebild." — „Nicht sehr lustig?" — „Nein." — „Traurig?" — „Sehr." Und mein Vetter, den diese Fragen noch mehr als das unterdrückte Schluchzen der weißen Fraue»- gcstalt in seiner Ruhe störten, fing wicdcr an zu rauchen nut einer Äiene, welche andcutctc, daß erf ohne sich darum zum Hören zu verpflichten, von mir ungestört scyn wollte. „.... Während sie daher untcr den unpoetischcn Wesen, die sic umgaben, vergebens denjenigen suchte, der mit scincr Liebe den wüsten Palast ihres Herzens öffnen und ausfüllcn sollte, hatte ihr Vater („Vetter! wer ist dieser Vater?" — „Nun, der ihrige."), eine gemeine Natur und einer von jcncn Menschen, deren ganzes Leben sich in Handels-Operationen bewegt („Ein Kaufmann, nicht wahr?" — „Ja."), hatte ihr Vater, statt ihrer Zärtlichkeit einen jener edlen Verbannten anzutragen, welche am Tage scincr, Erschüttcrungcn das Vulkanische Italien über die Alpen geschleudert („Ciani? Mazzini?" — „Ich wciß nicht."), eine von jenen reichen, feurigen Naturen, wie sie noch Neapel oder die Gondelnstadt („Vcncdig?.... hm?" — „Hum.") hervorbringt, die Augen gcworscn auf einen jungen, massivc» Schweizer, mit frischen, vollen Wangen, blondem Haar, daZ blasse Symbol einer gewöhnlichen, bcgeisterungSloscn Seele. So mußte die blaffe Blume, fortwährend von den eisigen Winden bewegt, statt in ihre» Nachbarblnmcn eine elastische Stütze zu finden, an die raühc Seite dieser beiden Granitfelscn anschlagen, die sie tödtctcn, statt sie zu schützen." Hier konnte meine Tante, die in ihrer Jugcnd Lehrerin war, sich nicht cnthaitc», zu bemerken) wie schön dieses Buch geschrieben sey. Sie sand in dicstm Styl uncnd iche Nuancen, die den tausend Harmonicen einer gefühlvolle» Seele entsprächen, und besonders ge fiel ihr die unerwartete Wiederkehr einer Vergleichung, die so viel Licht auf die traurige Lage der Heldin warf. Die alten Damen, in dem sie diese Mcinüng thciltcn, sprachen auch die cntschievcnste Ver achtung gegen diese zwei armen Granilblöcke aus, und eine von ihnen sympäthisirtc so warm mit den Schmerzen dieser unverstande nen Fran, daß ich daraus schloß, sie selbst müsse von der stupiden Gleichgültigkeit eines gefühllosen Geschlechts viel zu leiden gehabt haben. „Ist diese Dame verheirathct?" fragte ich meinen Vetter ganz leise. — „Nein.",— Obwohl ich noch sehr weit davon entfernt war, zu ahnen, daß die vielgenannte Pflanze meine muntere Gesell- chasterin aus Aosta war und dieser Granitfels der Gastwirts von Hcrausgcgcben von der Ncdaction der Allg. Preuß. StaalS-Zeitung. Chambery, interessirte ich mich doch sehr für eine Lektüre, die, ohne meinen guten Vetter im Geringsten aus seiner Ruhe z» reißen, die Sentimentalität dieser Damen in so hohem Grade rrichüttcrte und ihnen Bemerkungen entlockte, die nicht weniger köstlich waren als der Stil, welcher der Gegenstand derselben war. „AlS ich sie traf", fuhr meine Tante in ihrer Lektüre fort, „reisten sic geradc nach den Ebenen Italiens, in der citlcn Hoffnung, die sanfteren Düfte eines balsamischen Klimas würden bas Verschmachten dieser welkcnvcn Blume aufhalten. Aber ich, dessen Seele die ihrige verstand, ich sah die Jungfrau wie durch eine Cyprcsscn-AUee ihrer schon auSgehöhlten Grube cntgcgenwanken, und die Last eines unge heuren Schmerzes drückte auf meine traucrnve Seele. Ncbcn ihr trug ihr blonder Verlobter im Lichte des Himmels seine ungeschlach ten Formen herum, deren fade Frische und prosaische Bewegungen von keinem inneren Feuer belebt wurden: eine dicke Unempfindlichkeit bedeckte diesen Menschen wie ein Blcipanzcr, und selbst das Nahen einer furchtbaren Lawine (hier horchte ich mit beiden Ohren) ver mochte nicht, ihm die egoistischen Besorgnisse des allcrgcwöhnlichsten Schreckens einzuflößcn." „Jnbcß nahte die Nacht, die schwarzen Spitzen der Gipfel schienen die Äbenvwolkcn zu berühren, und die Schlunde dcs Sankt- Bcrnhard, wie ungeheure Rachcn, die letzten Strahlen dcs AbcndS zu verschlingen. Tue Lawine gähnte uns an, grundlos, weiß wie cin Lcilach, gierig wie das Grab! Auf cinmal bewegt sich eine weiße Erscheinung, fällt und sinkt i» dcn Abgrund.... Es ist Emma! (Emma! rics ich,.... in mir.) Schneller als der Blitz eile ich ihr nach, ich springe, stürze von Abgrund zu Abgrund, dem Lod, der hinter mir herjagc, zuvorzukommeu suchend, bis ich, Sieger in diesem traurigen Kampf, die erblassende, eisige Jungfrau erreicht habe .... Sic hatte in diesem Abgrund das Ziel ihrer Leiden finden wollen. Ich ließ sie merken, daß ich, der Fremde, der Unbekannte, ihre Absicht crrathcu. Zum ersten Male vicllcicht verstanden, öffne ten sich ihre Wunpcrn, um das. Feuer des Entzückens glänzen zu lassen, und ein unaussprechliches Lächeln kehrte auf die „Veilchen" (!!!) ihrer Lippen. Zugleich kamen Vic „Malussen" (!!!) dcs HoSpiz, mit Stricken bepackt, durch ihr Gebell Hülfe und Befreiung verkün dend. Bon der Chaussee reichte man uns cin Tau herab, vie Vätcr kamen uns cntgcgen, ich übergab den Männern des Himmels das Opfer der Well, und nachdem ich cS ihnen übergeben, ging ich mit verzweifelten Schritten davon!" Ich stand laut lachend auf.... Die Damen erhoben sich un willig, mein Vetter sah seine Mutter an, meine Tante sah mich an, ich sah alle diese Leute in Thräncn, und da ich nun nicht mehr im Stande war, eine Heitcrtcit zu unterdrücken, die dieser Anblick noch aufs Höchste steigerte, faßte ich den Entschluß, die Gesellschaft zu grüßen und von ihr Abschied zu nehmen, indem ich um Entschuldi gung bat, daß ich einen solchen Skandal verursacht. Auf dem Wege nach meinem Hotel, erinnerte ich mich wieder des dicken Herrn, der gesagt: „Grabschrift! Alles ist Grabschrift!" 3t. T. Mannigfaltiges. — Grisctten-Namen. Die Heldinnen George Saud'S haben ihre Namen nicht mchr für sich allein; die Lälicn unv Indianen sind bereits aus dem Roman ins Leben übcrgeqangen; es darf nur irgend wo ein schöner poetischer Name auftauchen, so wird die Pariser Grisetlc sich scincr bemächtigen. Obgleich die Grisette niemals liest und so unwissend ist, wie die Leitern, die ihr das Licht gegeben, so entgeht ihr doch nichts; sie weiß sich von Allem so viel anzueignen, als sic braucht, um damit zu kokettircn. Daher hat sie sich denn auch stets die süßcsteu Namen aus der Geschichte des Herzens bcige- lcgt. Im vorigen Jahrhundert nannte sie sich Clarissa unv Heloise; später hieß sie Virginie und Atala; einer ihrer LicblingSnamen war auch Charlotte, zu Ehren Werther'S, wie Atala zu Ehren Cha- tcaubriand's. Jetzt heißt sic Indiana. „Leider", — sagt JuleS Janin, — „hat die Pariser Grisette damit auch Alles gcthan, wenn sie dcn Namcn einer Roman- oder Schauspiel-Heldin angenommen; sie glaubt nun jeder Pflicht gegen sich selbst und gegen Andere quitt zu scyn; Mit dem Namcn ist lür sie Alles abgemacht. Geh nun, mein Kind, geh in die weite Welt und sich zu, wie Du dnrchkömmst mit Deiner Anmuth, Deiner Schönheit und Deinen zwanzig Jahren; behaupte, so gut cs geht, dcn großen Namen, den Du Dir aus dcn schönstcn Dichtungen gewählt; io lange Dn selbst schön und reizend bist, werden die Männer Dich nicht nach Deinem Stammbaum fragen. ES steht Dir srci, untcr den poctischcn Jungsraucn das Herz Dir auszuwählen, das Du am liebsten adoptireu magst, und dann, mein Kind, möge der Gott der Liebe Dich scgncn. Das ist ihr Lebenslauf. Sie fragen nach nichts, sie lassen sich nichts kümmern; nicht eine» Augenblick denken sic daran, was sie dcm angenommenen Namcn schuldig sind. Atala ist Königin bci Musard, wo sie, trotz dem Rachcrarm des Königlichen Prokurators, einen zwcivcutigcn Tanz erfunden; Virginie hat durch ihre seidenen Halbstiesclche» und kurzen Röcke von sich reden gemacht; Charlotte nunmt cS im Champagner mit jedem Trinker auf; Clarissa hat sich Berühmtheit erworben durch die Art, wie sic den abscheulichen Taback raucht, den die Ncgie uns verkauft; Indiana ist die schönste Tänzerin auf dcn Rcnaissance- Bällcn. Wozu wäre sie auch in der Welt, als um zu tanzen? Ist ihre schöne Hand ihr etwa zum Nähen gegeben^ Hat sic ihre Auge» dazu, ui» sic auf grobe Leinwand zu heften? Fort mit der Arbeit Es lebe die Freude, cS lebe die Lust, und je toller, je besser!" Rcdigirl von I. Lchmann. Gedruckt bci A. W. H a Y n.