Volltext Seite (XML)
2 aen und Prüfimgcn, während sie ihre Moral hernimmt, wo sie sie bekommen kann, vom Zufall, aus einer Predigt, aus dem Munde eines Weltmannes, von einem Kameraden, der fick Weltmann nennt, aus einem Journal-Aussage, oder endlich gar von der Bühne! Nächst diesen zur Neckten und Linken aufgcgriffencn Prinzipien hat man auch Lehren aus der Erfahrung, Lehren, die oft nur das Bebauern eines unverbesserliche» Fehlers sind, oder der Verdruß, schlecht ohne Glück gewesen zu scvn. Dieses ist der Boden der Moral unserer Zeit. Die Gesellschaft beunruhigt sich wenig um die moralische Er ziehung der jungen Leute; sie scheint zu sagen: „Mein Gott, sie richten fick ein, ihre Sgcke, nickt die meinige ist cs, und wenn sie cs zu nicktö bringen, so lasse ick sic sitzen." Was die Gesellschaft thut, beschränkt sich varauf, daß sie den von ihr Verlassenen das Vergnü gen läßt, im Namen ihres Genie's und ihres verkannten Charakters gegen die Gesellschaft zu protestiren. Die Gcsellsckaft hat den Körperschaften und Ständen das Scep- tcr der Moral aus den Händen genommen und macht ihre Moralgeseyc selbst. Sic macht sic aber nickft wie sie ihre politischen Gesetze macht, das heißt mit Hülfe einer Kammer oder andere Staatsgewalt, nein, sic macht ihre Gesetze ganz allein, nur mit Hülfe individueller An strengungen, ohne Kammern, ohne Wahlurnen, ohne Minister (welches letztere frcilick nickt sehr zu beklagen ist), zu jeder Stunde, ohne jc sich vaS Anschcn dieser Beschäftigung zu geben, ohne jedoch sich darin zu unterbrechen. Hieraus erwächst natürlich für den Einzelnen die strengere Pflicht, die Wirkung seiner Worte und Beispiele zu bc- ivachcn: denn da wie heule Alle über dieses uns Alle beherrschende Moralgcsctz abstimnicn, so sind wir auch Alle dafür verantwortlich. Sic haben nun meine Begriffe, oder vielmehr meine Entschuldi gungen, wenn ick in den vergangenen Jahren unaufhörlich die Moral in die Vorträge der Literatur gemischt habe. Ihre Nach sicht hat mir diese Abschweifungen angenehm gemacht; die jüngeren unter ihnen entschuldigte» mich gern, weil sic glaubte», freilich mit Unrecht glaubten, daß fick bisweilen eine kleine Zugabe von Satire cinmischic, und das mcnschlicke Herz ist für die Aufnahme der Moral geneigter, sobald sie in Begleitung der Lästcrsucht erscheint; die älte ren unter Ihnen entschuldigten aber deshalb meine Abschweifungen, weil sie darin ein wenig Erfahrung zu sehen glaubten. Dieses Jahr wird der Gegenstand unserer Unterhaltung weniger diese Art von Gespräch gestatten; wir werden mehr Gelehrsamkeit als Moral, mehr Geschichte als literarische Kritik haben. Inzwischen entsage ich dock kciueöwcgcS den Gewohnheiten der Vertraulichkeit, die Sie mir ge statteten; >ck. werbe sogar, wenn Sic cs erlauben, heute einige kurze Betrachtungen über einen Gegenstand anstelle», den meine Gedanken oft umfaßten, einen Gegenstand, de» ich täglich mehr mit Unpartei lichkeit und Freiheit behandeln kann; °) ich meine die Vortheilc der Jugend und besonders die für das Studium. Da die Angelegenheiten der Jugend auf einem Boden sind, dessen Sprache ich seit einiger Zeit nicht mehr spreche, so werden Sic nicht crstauncn, wenn ich manchmal das passendste Wort nicht finve, oder gar manchmal zn den Vorzügen der Jugend etwas rechne, waS sonst ein Fehler heißen würbe: z. B. ein vorzügliches Gut für die Jugend, besonders zum Studiren, ist nach meiner Meinung jener Nculings-Zustanb, jene originelle Unerfahrenheit, ich wollte sagen jene Unwissenheit, die sie bei jeder Sache mitbringt. Diese Un wissenheit erzeugt den Feuereifer des Jünglings. Der Jüngling sieht, wenn er die Schuft verläßt, eine neue Welt vor sich. Welche unbekannte Gedanken und Dinge, welche neue Wissenschaften zu ler nen, welcher Eifer und welche lobenswerthc Leidenschaft, Alles be greifen und wisse» zu wolle»! Sie sehen die Unwissenheit des Jüng- lingS ist eine schöne Sacke, nur muß er des Guten nicht -u viel tyun wolle». Man muß nämlich nicht in dieser kindlichen Ignoranz verbleiben wollen. Noch weniger aber darf man zu früh glauben, aus ihr hcrausgetrctc» zu seyn. Das Letztere ist leider häufig in unsrer Zeit, daher gicbt es so viele Erfinder, daher findet man häufig in den Büchern angehender Schriftsteller Phrasen wie die folgende: Niemand wußte bis jetzt, baß...; meine Vorgänger sahen nicht re. ...; durch meine Bemühung wird ein neues Licht auf die alte und neue Geschichte geworfen. Freilich, Leute die nichts wissen, erfinden bei jedem Schritte etwas, und bas beste Mittel, selbst Entdeckungen zu machen, ist, wenn man nicht studirr, was Andere gethan und gesagt haben. Jene Unwissenheit ist eine Eigenschaft des Geistes, ich will jetzt von einer Eigenschaft des Charakters sprechen; ich meine jcncs Selbst gefühl der Jugend, welches man unrichtigcrwcise Anmaßung nennt. Ach, waS ist natürlicher, als jener glückliche und naive Egoismus! Zn 20 Jahren fühlt man sich so kräftig und wohl leben! Das von Gott in unsere Seele gehauchte LedcnSprinzip hat so viele Frische! Die geistigen Säfte kochen so feurig! Um diese Zeit haben wir jene Mitgift von Gedanken noch ungeschmälert, die unser Biatikum für eine lange Reise sepn soll, die wir aber ost mit einem Zuge leeren, den leichtsinnigen Soldaten gleich, welche die ihnen auf acht Tage gereichten LcbciiSmittcl de» ersten Tag aufzchren und die übri gen sieben Tage hungern. Im 20stcn Jahre, wo man so voll Seblst- gesühl ist, wo wir keine Pflichten, keinen Beruf weiter haben, als unsere Scelcnkraft zu entwickeln, also uns bloß mit uuS selbst zu beschäftigen, was Wunder, daß wir da Alles auf unser Selbst zu rückführen?") Die Jugend hat anstatt der Mcnschenkenntniß, wo- Der Redner iß nämlich letzt eia Vierziger "j Der Redner meint liier nicht, daß der lesbstandige Jüngling Alles feiner Selbstsucht und seinem Vortheile opfert: das wäre ein Vorwurf, dessen Grund- Hsiqkeit durch die Geschickte eines jeden Augenblickes bezeugt wird. Gerade kn der Zeit, wo man Berufs- Und Familien-Pstichtcn übernimmt, fängt man an, Alles auf sein eigenes Ich zu beziebcn: man verläßt Freund«, man füblt reinen Weltschmerz mehr, man ist gleichgültig gegen altere Bande der Zärt lichkeit, kurz, man wird Philister, sobald nian unter einem ost nur ungeschickt durch man in einem Vergleiche mit Anderen den richtigen Maßstab für sich selbst findet, nur Hoffnung; diese vergleicht aber niemals. Nun ist es freilich gut, in der Hoffnung viel vöm Leben zu fordern, damit man doch einen genügenden Theil erhält; wer zu wenig hofft, erlangt gar nichts; ich tadle daher die Hoffnungen der Jugend nicht, nnr darf sic auch hier keinen Mißbrauch üben. Weil sie ihre Hitze für Kraft hält, ist sie ehrgeizig und stolz; weil sie nock nicht gegen Hindernisse gekämpft, weil sic den Gegner noch nickt in'S Auge gefaßt, ist es ganz natürlich, daß sie nur Achtung für ihre eigene Gewalt hat und Widerstand und Schwierigkeit für eine Lüge hält. Der Ehrgeiz und das hcrabsehendc Wesen der Jugend ist aber nicht gerade ei» Uebel unserer Zeit, cs war früher eben so. Jetzt wirb nur Vie Jugend von allen Seiten zum Ehrgeize getrieben, statt daß man ihn leiten und beaufsichtigen sollte. Institutionen mit ihren Preis-Kronen und Publizisten mit ihren Redensarten stacheln die Jugend, daß sie Alles erreichen könne, daß eS keine Vorrechte mehr für Ehrenstellen gäbe. Mein Gott ja! Es ist wahr, Jeder mann kann aus jede Stellung Anspruch mache«, aber jede Stellung ist schon von Anderen eingenommen! Kasten, Priviligirte giebt es nicht mehr, die Adels- Aristokratie hat aufgehört, Euch den Weg zu versperre», aber dieser Weg ist von Jedermann besetzt, von einer betriebsamen, bedürftigen Gesellschaft, die vcrtheilt und cingenistet da sitzt, wie im Bienenkorb auch das kleinste Zellchen besetzt ist und für neue Ankömmlinge nichts übrig bleibt. Wir sind doch ein seltsames Völk chen! In jedem Häuft tönen Einem bittere Klagen über die Eitel keit und dc» Ehrgeiz der jetzigen Welt entgegen, und sobald diese Klagende in Vie Oeffenllichkeit kommen, so balv sic zur Jugcuv sprechen, da hört man nichts als Aufreizung des jugcndlickcn Ehr geizes von ihnen; man sagt den Jünglingen, daß eine unabsehbare Laufbahn sich vor ihnen aufthuc, dass weder Geburt noch Rang sie auf dieser Bahn hindern u. dergl. Aber ich frage beunruhigt: „WaS haht Ihr denn dieser aufgcreiztcn Jugend so viel zu geben? Wollt Ihr derselben Europa zum zweite» Mal zu crobcrn geben; habt Ihr eine neueste Revolution für sic?! Nichts habt ihr für sie als ein bischen Kundschaft für den Advvkatcn und Mediziner, die sich täglich wegen ungeheurer Konkurrenz vermindert, und Ihr sprecht von einer unermeßlichen Laufbahn!" Ma» klagt, die Jugend träume nur von Umwälzungsplänen; aber welche Schuld hat sie? von allen Seiten hört sic den Zuruf: „Kommt! Ihr allein ftpd unsere Hoffnung, kommt! Alles steht Euch offen, Alles ist frei!" Sie läuft herbei und fiiivct Alles bcfetzt; was ist zu thun? eine Revolution macht die Plätze wieder vakant, der Würdigsie erreicht dann Alfts, denkt sie. Seltsamer Kontrast »wischen unserer Sprache und Handlungsweise! Beim Sprechen vcrtheilt dic Gesellschaft ihre Preise demjcnigcn, der an» schönsten spricht; man glaubt hier, daß der Geist über Alles verfüge; dagegen ist sie im praktischen Leben Vie größte Feindin der Redensarten, sic ver achtet dasjenige, was sic so eben bewundert und belohnt hat; sie ist Dichterin, wenn sie spricht, nackte Prosa, wenn sie handelt. Was soll die Jugend bei diesem immerwährenden Widerspruch thun? Sie, dic noch keine Profession, noch keine Thätigkeit bat, wodurch sie die Heuchelei der Gesellschaft kennen lernt, muß sich mchr hingezogcn fühlen zur sprechenden als zur handelnden Gesellschaft, und van» ist es kein Wunder, daß man von dem gesäcten Winde keine Stille, von der gcsäetcn Eitelkeit keine Bescheidenheit ärndtet. Vor zehn Jahren batte ich eine Unterredung mit einem meiner Schüler in der Rhetorik, der damals eben den Preis erhielt. Wir sprachen von einem zu wählenden Beruf, wobei der junge Mann ein wenig Selbstvertrauen durchblickcn ließ, was wohl zu entschuldigen ist, wenn man gestern seine» Name» unter Beifall und Paukenschall hat kröne» hören. „Lieber Freund", sagte ich ihm nach einiger Zeit, „wollen Sie von mir einen Rath hören, der mchr wcrth ist, als "alles Griechisch nnd Latein, das Sie bei mir gelernt habe»? Sie trete» jetzt in dic Welt, glauben Sie von dieser wie ein bevor zugtes Kind ausgenommen - zu werde:., weil Sic den Ehrenpreis gewonnen haben? Glauben sie, der Geist allein bestimmt den Werth der Personen? Nein, cS ist vielmehr der Charakter. Die Welt kümmert sich wenig darum, ob sic eine schöne Phrase zu machen vcrstche», sic fragt, ob Sic sich einen Beruf schaffen können. Die Gesellschaft lebt von der regelmäßigen Bewegung des Geschäftes und des Berufes, nicht von Phrasen, obgleich der Schein bisweilen dafür spricht. Um ein Gewerbe oder eine Stelle ausznsüllen, bedarf cS allerdings dcS Talentes und des Verstandes, aber dies reicht nicht auS, die Hauptsache ist Arbeit und Fleiß. Sich eine Stellung zu schaffen, liebt die Gesellschaft am meisten, weil man darin ihr am nützlichsten ist. Dieses Verdienst erhält sic, während andere Ver dienste sie nur angenehm unterhalten. Ich bin jetzt 20 Jahr Pro fessor °) und habe immer das Schicksal meiner Schüler bcobachict. Unter de» io Primanern waren 4 oder 8 glücklich, weil sic mit ihrcm Talcnte auü der Schule guten Sinn und sichere Eigenschaften verbanden; Vie übrigen warfen sich in dc» Hasen vcr mittelmäßigen Schriftsteller. Diese, wenn sic dcn glücklicheren Kameraden sahen, wie er ein tüchtiger Beamte, Offizier, Arzt, Kaufmann und Fabri kant geworden, schrieen fic gleich, daß der Mensch in der Schule geistlos gewesen, viel tiefer als sic gcstanvcn und jetzt ungcrechter- nackgemackten Achselzucken mit wichtiger Miene sagen kann und in der Timt sagen muß: „Ich Kade jetzt andere Pflichten!" Girardin meint nur, daß die Jugend Alles ,ür ihre Leidenschaft, für ibre toSmopollkifchen Anßcklen und Wunsche, ohne ihren praktischen Vortkeil zu dcrecknen, thun möchte. lind freilich iß eS eine gefährliche Selbstsucht, die ganze Welt be glücken zu wollen, bevor man selbst etwas in dieser thut oder hat D. lieber'' -»/Girardi« vergißt hier, daß er das vor »0 Jahren gehaltene Gespräch wiedcraiebt, und sagt deshalb, ru Jahre s-v -r Professor. .Dl« Zahl paßt für den jetzigen Augenblick, damals war er nur IN Jahre Profenor.