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442 höheren Magistrale-Personen unterscheiden sich von den Privat- häusern fast nur durch ihre längere Fronte und ihre großen mit Mauern cingeschlossenen und mit hohen Bäumen bepflanzten Vorhöfe. Einige Straßen fand ich breit und schön, die meisten aber eng und unansehnlich. Ueberall sieht man sogenannte Ehren- Pforten, dem Andenken verdienstvoller Individuen geweiht: diese Denkmäler machen einen angenehmen, aber durchaus nicht groß artigen Eindruck. Obschon die Europäer nur einige Straßen in der Nachbar schaft der Faktoreien besuchen dürfen, so hatte ich doch schon lange vor Anlegung des Chinesischen Kostüms mit Herrn Duma- zel mehrere Male die ganze Vorstadt durchwandert. Lines Ta ges wagten wir uns auch in die östliche Vorstadt, welche von dem Viertel, wo die Faktoreien liegen, abgesondert und ziemlich entfernt liegt. Wir gingen über eine halbe Stunde längs der Stadtmauer und gelangten ohne Hinderniß auf das freie Feld. Von diesem Erfolge crmuthigt, verließen wir die Mauern, um auf den Hügeln und in den Dörfern der Umgegend zu lustwan deln. Alle Hügel fanden wir mit Gräbern bedeckt. Wir begeg neten vielen wohlgekleideten Personen, die zum Theil in Sänften getragen wurden. Anfangs nahm uns dies Wunder, da wir wuß- ren, daß die Chinesen sonst nicht gern spazieren gehen, allein man sagte uns, dieser Tag sei) dem Andenken der Abgeschiedenen gewidmet, und diejenigen, denen wir begegneten, gingen, um den Manen ihrer Aeltern und Vorfahren zu huldigen. Wir hielten uns auf unserem Spaziergang ungefähr eine halbe Meile von der Stadtmauer emserm. An der Nordseile Camon's begegneten wir einem hinkenden jungen Mann, der auf uns zulrat und in gebrochenem Englisch zu uns sagte: ,,Jhr habt den Weg nach den Faktoreien verloren; scyd ohne Furcht, ich will Euch dahin bringen." Er ging neben uns her und wie derholte öfter die Worte: ,,Scyd ohne Furcht." Bald darauf erschien ein anderer junger Mensch, den der Erstere ein paar Augenblicke bei Seite nahm; sie sprachen Etwas mit einander' und folgten dann hinter uns her. Ich argwöhnte eine schlimme Absicht, und dieser Argwohn erwies sich bald als gegründet; denn der neu Angckommene tastete von Zeit zu Zeit an unsere Rock raschen. Wir dachten an Mittel, diese unheimlichen Begleiter los zu werden. Ein kleiner Kompaß, den ich unbemirkt aus meiner Tasche zog, überzeugte mich, daß wir in einer den Fakto reien fast entgegengesetzten Richtung gingen. Gewiß wollten diese Gauner uns nach irgend einem bekannten Hause führen und mit Hülfe einiger Spießgesellen, rein ansplündern — ein Schick sal, das schon mehrere Europäer in der Umgegend von Canwn getroffen Hal. Wir faßten ein Herz und kehrtet, um, wog des Rufens und Gestikulirens unserer unwillkommenen Begleiter. Zum Glücke Hanen diese weder Stöcke noch andere Waffen bei sich, und in ihrer Miene lag zu wenig Entschlossenheit, als daß wir nölhig gehabt hätten, sie zu fürchten, so lange sie nur ihrer zwei waren. Wir schlugen den ersten Scilenpsad ein, der nach der Stadl zu führen schielt; da dieser Pfad aber durch den Hof einer Meierei ging, so eilten die Spitzbuben uns voran, um die Leute zu bereden, daß sie uns nichl passiren ließen. Allein zum Glücke sandelt sie keinen ihres Gleichen. Mgn begnügte sich, uns zuzurufen, daß hier kein Durchgang sey. Wir lhaien, als hörten wir nichl, setzten unseren Weg fort und fanden uns bald in einem recht hübschen und wohlbevölkerten Flecken, dessen letzte Hauser von der nordwestlichen Vorstadt nichl weil ablagen. Oie beiden Taugenichlse wäret, uns bis in den Flecken gefolgl. Da sie ihre Hoffnung geläuschl sahen, so näherie sich Einer von ihnen Herrn Dumazel von hinten, riß ihm seinen Sonnenschirm aus der Hand und suchte dann mit seinem Kameraden eilig das Weile. Wir gelangten bald in die Vorstadt, die wir ganz ruhig durchschrillen, da wir uns in einem bekannlen Stadtviertel befanden. In einer Zeil von sechs Stunden hatten wir die ganze Stadl umgangen. Obschon ich fast alle Sladitheile von Canwn, innerhalb und außerhalb der Mauern, besuch! habe, so kann ich doch die Be völkerung dieser großen Stadl nichl einmal aufs Ungefähr ab« schätzen. Da die Chinesen sehr gedrängt wohnen, so versteht cs sich, daß ein kleiner Raum oft sehr viele Individuen beherbergen muß; aber die Angabe, daß Canwn zwei Millionen Seelen zähle, ist doch, meiner Ueberzeugung nach, sehr übertrieben. Die S'adt innerhalb der Mauern hat keinen bedeutenden Umfang — gewiß könnte man sie in weniger als zwei Stunden bequem umgehen — und in diesem Areale befinden sich noch ein kleiner Berg und ansehnliche Grundstücke. Ich kann ihre Bevölkerung nur höchstens ans 300,009 Menschen anschlagen. Diejenige Vor- siadi, an deren Ende die Europäischen Faktoreien liegen, ist zwar ohne Zweifel bevölkerter, und außerdem dürfen die Tausende von Schiffer- und Fischer-Familien, welche in ihren Kähnen auf dem La-ho leben und sterben, nicht unberücksichtigt bleiben; aber bei allem dem ist cs mir am wahrscheinlichsten, daß Canwn — Land - und Wasser-Bewohner zusammengerechnet — nichl über Eine Million Seelen zählt. Frankreich. Der 27., 28. und 29. Juli 1830 in Paris. lFonsetzung.) In dieser Residenz (St. Cloud) war die frühere Sorglosig keit einer düsteren Ahnung gewichen. Seiner Gewohnheit nach, spielte der König seine Partie Whist; aber der Kanonendonner bewog ihn ösicr, seinen Sitz zu verlassen und fast die ganze Nacht auf einem Balkon zuzubringen, mit schmerzlichem Blicke nach Paris sehend. Frühzeitig zog er sich in sein Zimmer zurück. In der Nacht brachte ein verkleideter Offizier Lem General Talon den Befehl, sich nach den Tuilerieen zu ziehen. Dieser Rückzug war wegen der Artillerie und der sechzig Mann Ver wundeten, die man dem Volke nicht überlassen wollte, mit Schwierigkeiten verbunden. Doch gegen Mitternacht geschah der Rückzug in guter Ordnung; die Verwundeten legte man auf die Schultern ihrer Kameraden. Auf ihrem Marsche fand diese Ko lonne ein Bataillon auf dem Platze des Pantheon, das seine Waffen den Insurgenten überliefert haue. Obwohl äußerst ermüdet, sanden die Truppen im Hauptquar tier keine zubereiteien Speisen. Eine Zufuhr an Lebensmitteln war den Morgen durch die Pariser geraubt worden. Mil Mühe verschafften sich einige Corps unzureichende Rationen an Brod;, die übrigen wartetet, bis zum folgenden Tage. Wein-Vorrälhe, welche sich in den Gewölben des Schlosses fanden, wurden an diese kleine Armee vcrihcili. Einige Chefs versuchten ihre mo ralische Haltung zu stützen, indem sie die baldige Ankunft des Königs und des Dauphins ankündigwn, aber die Täuschung verschwand bald vor einer tiefen Niedergeschlagenheit, die mit energischen Exclamationen sich paarw. Diese Stimmung der Ge- mäihcr hätte der Herzog von Ragusa durch seine Gegenwart wie durch Worte wieder beben können, aber er erschien nicht. Mehrere Generale hatten sich seil dem Morgen zum Marschall begeben, um ihre Dienste für die Sache des Königs anzubiewn; aber sie konnwn bei ihm keinen Zuirill erhalten. Nach einem vollen Tage von Kämpfen und Entbehrungen Halle die Garnison für ihre Ergebenheit noch keinen Lohn empfan gen. Um drei- bis vierhundert Menschen höchstens geschwächt, Hanen sie auf keinem Punkte eine entschiedene Niederlage er litten; aber die Insurgenten hauen ihre Kraft kennen gelernt: auf ihrer Seite war der moralische Vortheil. In diesem bekla- genswerihen Konflikte haue die Französische Bravour auf beiden Seilen ihre Wunder produziri: hier eine gährende Uuer- schrockenheil, die in der Zahl und in Verschanzungen ost ihren Schutz fand, don ein noch seltenerer Heroismus der Geduld und der Langmulh. Außer einigen einzelnen Exzessen wurde die Stimme der Humanität inmitten des Bürgerkrieges nicht ver kannt. Ueberall hauen die Truppen, selbst in den Stadtvier teln, welche in die Insurrection am meisten verwickelt waren, Beweise von Theilnahinc und Wohlwollen erhalten; überall wurden die Truppen mil einer Sorgfalt gepflegt, die sich um das Lager, dem sie angchönen, nicht kümmerte. Ebenfalls zeich nete sich das Volk an diesem Tage durch seine Uneigennützigkeit aus; das Privat-Eigcnihum wie die öffentlichen Kassen wurden heilig respcklin. Ohne Zweifel mochte ein Anflug einer höheren Politik an dieser Stimmung der Gcmüthcr seinen Aniheil haben; aber nichtsdestoweniger biewi sie bei einer Menge, welche ge wissermaßen sich selbst überlassen ist, ein sociales Phänomen, das die Aufmerksamkeit des Historikers verdient. Das Begehren einiger Kaufleute nach der Wiederherstellung der Naiionalgarde hatten der Fürst Polignac und der Herzog van Ragusa einer Hauptstadt abgeschlagen, die im Aufstande sich befand; aber die Weisheit oder die Gewandtheit der Bürger ersetzte.sie auf allen Punkten. Die DeptttirleN waren bis zur Zahl zehn oder zwölf bei Andry de Puiraveau versammelt, dessen Haus gleichsam ein Ceiurum miluairischer Operationen geworden war- Die wachsende Volksaufregung und die Dauer eines immer noch nicht entschie denen Kampfes hatten in vielen Gemächern eine große Unruhe erzeugt. Man sing ernstlich an, einen glücklichen Erfolg der Vvlkssache zu bezweifeln. Mehrere Journalisten, welche die Pro- lestalion vom 26ften unterzeichnet hauen, namentlich Thiers und Mignet, Hanen die Flucht ergriffen. Und jene Stimmung be herrschte die Versammlung. Unter dem Einflüsse einer liefen Niedergeschlagenheit pflegte man der Beralhung. Ein Jeder strebte, sich zurückzuziehen und seine Person in Sicherheit zu brin gen. Zuweilen freilich Höne man noch einige energische Worte von Mauguin, Laborde, Böpard, Puiraveau. Diese schlugen den Deputirien vor, ihr Kostüm anzulegen, die dreifarbige Ko karde aufzustecken und sich unerschrockenen Muches in die Reihen des Volks zu stellen. Nicht minder ungeduldig, am Kampfe un mittelbaren Antheil zu nehmen, zeigte sich der General Lafayette, dessen Muth in dem Maße wuchs, in welchem der seiner Kolle gen abnahm; er erklärte sich bereit, den Posten einzunehmen, welchen man ihm anweisen würde. Aber diese Vorschläge wur den mit einem gewissen Entsetzen zurückgewiesen. Einige Mit glieder der Versanimlung, die mit Recht über das Hinschleppen der Volkssachc unruhig waren, hauen unter den Insurgenten ein Schreiben zirkulircn lassen, in welchem sie empfahlen, kein Zeichen, keine Fahne aufzusteckcn. Laffitte, den das verlängerte Still schweigen des Hofes allmälig zur Partei der Insurrection hin- übergezogen hatte, schalt über das Herumtappen im Finstern, das nur ihre persönliche Sicherheit komprvmilliren könnte, und redete zum ersten Male von der Berufung des Herzogs von Orleans an die Spitze der Regierung. Jedoch diese Insinuation haue, ob wohl mit aller Behutsamkeit ausgesprochen, keinen Erfolg. All mälig fand sich die Versammlung bis auf fünf Mitglieder ver mindert. Aber außerhalb der parlamentarischen Konferenzen haue die rcvolunonnaire Sache an diesem Abend einen wichtigen Schritt vorwärts geihan; denn einige Führer der Rebellion kalten, entweder um den Aufstand zu beschleunigen, oder um dar Volk einer ungewissen Lage zu entreißen, durch Anschläge die Errichtung einer provisorischen Regierung verkündet, welche