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195 das Englische Theater, ohne cs zu wissen, verehrt. Seine Sen timentalität, seine zerfahrene und rührende Träumerei, seine Betrachtungen über die Schmerzen des gewöhnlichen Lebens sind in die Sphäre des Drama'S gedrungen und haben das gesunde Leben vertrieben. Der Wechsel der Dekorationen und die Pracht derselben, die Parlaments-Edikte, alle Untersuchungen über den Zustand des Theaters vermögen nicht, diesem schwachen und kränkelnden Greise die frische Jugendkraft wicdcrzugcbcn. Mau kann ihn reich, philosophisch, thcänenübcrqucllcnd machen, ihn zu galvanischen Zuckungen treiben, der kranke Greis richtet sich doch nicht wieder auf. Eine Geschichte des Englischen Theaters ist noch nicht ge schrieben. Es müßte eine sehr interessante Geschichte werden. Sie zerfällt in drei Epochen und entspricht den drei Hauplzm ständen der Englischen Gesellschaft. Die erste Epoche des Eng lischen Theaters, die Shakespeare's, Hai allein Bedeutung. Unter Elisabeth brach die wilde Gluth des Englischen Geistes zuerst hervor. Es war eine cingedrungene Kraft, tiefsinnig, nach haltig; an die Leidenschaft wendeie sie sich nur durch das Me dium des Gedankens. Es giug eine neue Welt auf; menschliche Charaktere mußten dargestellt werden, der ganze Reichthum menschlicher Schicksale und Verhältnisse, der Kampf des Indivi duums gegen das Geschick. Shakespeare herrscht; um ihn, vor ihm, nach ihm Prokonsuln, Minister. Marlowe, Green, Webster, Beaumont, Fleichcr, Massinger haben auf mehr Achtung An spruch, als man ihnen gewöhnlich zu Theil werden läßt. Im Drama erschienen damals feine Beobachtungsgabe und Scharf blick, welche oft bis nahe an die Gränzen des Genies streiften. Dieses schöne Erwachen des Geistes und diese ungemeine dramatische Fruchtbarkeit wurden vom Puritanismus und den bürgerlichen Kriegen beeinträchtigt. Die zweite Epoche des Englischen Drama'S knüpft sich an Frankreich. Dryden ahime Arlamöne und Cyrus nach; Wycherley, Farquhar, Vanbrugh und Rochester trieben Moliere's komische Laune auf die Spitze und übertrafen die Ausgelassenheit des George Dandin und des Loeu imsginiure. Die Sillen Karl's II. erschienen auf der Scene ne ben der Gczierlheit und Gespreiziheil, die den Romanen der Scudery entlehn! war- Kein einziges Werk dieser Zeit genügte den Ansprüchen des Drama. Das Talent prasselte in sprühen dem Feuerregen auf und zerfloß in Dunst. Drydcn'S Almanzsr und Orondaies sind steinerne und hölzerne Helden, hohl und leer; Congcöve's und Farquhar'« mauvais «uzew sind Maschinen voller Witze, die ihr ganzes geistiges Vermögen in kindischen Einfällen verausgaben. Die unvollständigen Denkmäler, welche uns aus dieser Zeit bleiben, sind zwei oder drei Werke, welche sich durch verschiedene Eigenschaften auszeichnen: Rochester'« vortreffliche Posse, thv kekvartial; Wycherley's munteres Jmriguenstück, tlw nrovokeil oviko, und die sprudelnden Dialoge in Congreve's Double Dealer. Aber auch diese Werke werden durch Unnatur und Lüge entstellt. Man sieht zu deutlich, daß ihre Verfasser kei nen Begriff von Sittlichkeit oder Wahrheil Haxen, daß sie Qnecr- köpse oder ausschweifende Menschen waren. Shakespeare's un befangenen Blick und seinen Instinkt der Wahrheit sucht man vergeblich. Unter Jakob II. und Wilhelm erlitten die Sitten des Volkes eine Umwandlung und neigten sich mehr zum Ernste. Man ver suchte sich im ernsthaften und pathetischen Drama, wie Otway und Lillo; in diesen strömte die Beredsamkeit der Leidenschaft in ihrer ganzen Fülle über; aber die Feinheit fehlt, die Dar stellung der verschiedenen tragischen und komischen Wechselfälle des Lebens. Mit Otway beginnt die dritte Epoche des Eng lischen Drama'S, welches sich mit Lillo dem bürgerlichen Leben zuwendeie, durch Cuinbcrland und Colman einen satirischen An strich erhielt; immer aber ivar es überladen und aufgedunsen, zuweilen quäkerhafl und puritanisch, langweilig in den Tragödien von Rowe, Walpole und Jonson. Das Bedürfniß und die Ge wohnheit des Theaters hauen länger gedauert, als die drama tische Kraft. Das bemerkten die besten Köpfe nicht, und man fuhr fort, Fehlgeburten zu schaffen, welche ihr kümmerliches Le ben kaum einige Stunden fristen konnten- Addison's kalter Cato er regte Voltaire s Bewunderung. Jonson's schwülstige Irene gefiel, und Aaron Hill ahmie die Zaire auf eine ganz ungeschickte Weise nach. Das Englische Theater schleppte sich mühsam hin, bis ein spöttischer Geist das Grundlaster entdeckte, auf dem die ganze damalige Gesellschaft gegründet war, das der Heuchelei. Dieser Mann war Sheridan. Der Kompromiß, der Pakt von 1688, zwang die Menschen, zu lügen und eine anscheinende äußere Strenge des Denkens und Benehmens zu erheucheln. Die Regierung log so gut wie die Gesellschaft, indem sie eine nicht vorhandene Einheit der Staats gewalten voraussetzte. Die scheinheilige Miene war in die Sa lons gedrungen. Auf dem .bhealer herrschte eine weinerliche Moral und das ernste Drama. Eine ganze Nation spielte die Rolle des Tariuffe- Welch' herrlicher Stoff zur Satire! Sheri dan beutele ihn aus. Er warf die Komödie und Satire zusam men. Eine neue Zeil regte sich, und Sheridan verkündete sie. t be 8cbuol vk 8eanäal ist eine Ausnahme, ein Phänomen, eine abänderliche Erscheinung, ein einziges, aber herrliches Produkt. Umerdeß ertönte die Sturmglocke der Französischen Revvlu- twn, und die Völker kamen in Bewegung. Der öffentliche Rcichlhum war im Wachsen begriffen; die Poesie entfaltete ihre Schwingen, und die Nationalkcaft nahm einen neuen Aufschwung. Diese Epoche der literarischen Wiedergeburt, welche durch Lewis, Crabbe und Cowper eingeleiiet, durch Walter Scott und Byron forlgefühlt wurde, vecsuchie, ihr Drama nach dem Muster der großen Dichter des sechzehnten Jahrhunderts zu bilden. Spuren dramatischen Genies finden sich bei Byron, Walter Scott, Cole ridge, Lamb, Lewis, aber der cingeschlummene Genius des Drama'S erwacht nicht aus seinem Schlafe. Maiurin's Bertram ist ein Melodrama; alle Stücke Dyron's haben nur eine Person, ihn selbst, und schweben zwischen dem Dithyrambus und der Elegie. In Milman's Faciv und in seiner Zerstörung von Jeru salem findet man schöne Stellen. Mistreß Baillie Hai Tragödien geschrieben, denen es an Bewegung fehlt, die aber voller Be redsamkeit sind. Jndeß geht dieser ganzen Galtung die höhere Realität, das Leben, ab. Der Werch des Sardanapal von By ron und der Rache von Coleridge können nur beim Lesen empfun den werden. Die Englische Gesellschaft hat sich aus mannigfachen und zum Theil sonderbaren Gründen vom Theater zurückgezogen. Aus den Foyers der Schauspielhäuser, welche lange Zeit der Sammelplatz des Lasters und der Vcrderbniß waren, blieben die anständigen Leute, die Familienväter und diejenigen, welche we nigstens den Schein der Lugend annehmcn müssen', ausgeschlossen. Die Stunde des Mittagsmahls erlaubte den höheren Ständen nicht, die ersten Stücke anzuschcn. Während ernste und fromme Gemüther gegen die Sündhaftigkeit der Theater zu Felde zogen und jeden Besucher derselben in den moralischen Bann thaien, blickte die Aristokratie mit Verachtung auf die Beweglichkeit de« Parterre und das wüchende Geschrei der Galerie. Man suchte andere Genüsse- Der Roman bot mannigfache und wechselnde Scenen, welche man von seinem Sopha aus beschauen konnte- Dec Politiker, der Kaufmann, der Offizier, der Spieler besuchten ihre Klubs. Die Soireen, Thees und Ronis zogen die Frauen an und boten ihnen ein nicht so übel berüchtigtes Feld für ihre Koketterie. Zu einer gewissen Zeit sprach man vom Besuche des Schauspiels wie von einer Unanständigkeit, und dennoch herrschte damals Mistreß O'Neill auf der Bühne. Freilich glaubte man sich damals, wenn man Covcnl-Garden oder Drury-Lane be trat, in den Tempel der Melitta versetzt. Die Untersuchungen des Parlaments konnten dagegen nichts helfen. Besucht man jetzt da« Theater, aus dem der Schauspieler Macready die feilen Schönheiten verjagt Hal, so wird man von der Stille und der Oede, die in demselben herrscht, überrascht. Nimmt man Platz, so sieh« man die Vorstellung einer sentimentalen bürgerlichen Tra gödie ohne Wahrscheinlichkeit der Erfindung, ohne Gedrungenheit des Dialogs, voller schmachtender Erklärungen und weinerlicher Phrasen. Die« ist der Entwickelungsgang des Englischen Theaters- Lebensfrisch, jugendkräftig umer Shakespeare, überreizt, närrisch, ausschweifend unter Karl II-, weinerlich und predigend umer Georg 11-, dann nach einer neuen literarischen Form suchend, ist es jetzt auf dem äußersten Gipfel der sentimentalen Metaphysik an gelangt und in das letzte Stadium seines Verfalls eingelreten. Nach Bertram'« Maturin haben die Stücke von Sheridan Knowles den meisten Erfolg gehabt. Maturin ist eigentlich kein Sluck, sondern eine Sammlung von Harnischen, Schwertern, Geistern, Monden, Kelten, Thürmen und Verließen. Und dennoch Hal dieses abgeschmackte Stück allgemeinen Beifall gefunden. Sheridan Knowles hängt nicht mit Anna Radkliffe und Lewis, sondern mit Wordsworth zusammen. Seine Dramen haben weni ger poetischen, mehr dramatischen Wcrih. Soll man nun sagen, daß es dem Englischen Drama an Leben fehle? Es hat ein ro hes, materielles Leben; cs ist eine verfehlte Parodie des Spani schen; dec Zufall heccschl, und cs ist weder Lehre noch Vernunft darin. Der Stoff ist,cin knochiges Gerippe, das eine ungeschickte Hand zussmmcngezimmen hat, eine Sammlung von Zufälligkei ten und Seltsamkeiten, aber nicht die Realisation einer Idee. Uebcckleidct wird dieses Gerippe mit leerem Pathos und hohlen Declamationen. Man höre die bälinlnwgk kevievv: „Unser Thea ter", sagt sie, „liegt im Todeskampsc. Einer oder zwei Rollen, in denen der Modeschauspieler auftrilt, werden alle andere Rück sichten geopfert, und in den Stücken, welche Glück machen, findet man nur eine lächerliche Gespreiztheit, sentimentale Uebenreibun- gen, ewiges Seufzen, abgeschmackte Wuth: von Wahrscheinlichkeit und Konsequenz in der Zeichnung der Charaktere keine Spur. Die gewöhnlichen Lieferanten begnügen sich mit der Zubereitung von Französische» Possen und Vaudevilles. Die bekannten Schrift steller loben sich gegenseitig und verdanken diesem Austausche ihre Berühmtheit. Die Begeisterung holen sie au« den Cou- lissen, nicht au« der Natur; einen neuen oder energischen Gedan ken findet man bei ihnen nicht." Die Dramen sind nichts, als besser oder schlechter versifizirle Romane. Die Wahrheit wird der Analyse, die Situation dem Theater-Coup geopfert. Ein Stück, welches Paracelsus betitelt ist, enthält nichts als eine fünfaktige Faselei über die geheimen Wissenschaften und das Streben dec Seele nach dem Ideal. Talsourd, in seinem Jon, den die Kritiker in den Himmel erho ben haben und dessen Fabel der dec Athalie emspcicht, suchte die Einfachheit des Griechischen Drama'S wiederherzustellen. Ver lorene Mühe! Taylor'« Artevclde, ein fleißiges und schäßcns- werthes Werk, cmbchrt des Bühne» - Interesses. Sheridan Knowles, der selbst Schauspieler war, Hai seine Erfahrung be nutzt und dadurch ein Interesse zu erregen gewußt, daß er sich an die Schmerzen und Leidenschaften des gewöhnlichen Lebens wendete. Vicginius, die Mantuanerin, der Bucklige haben einiges Glück gemach«. Die ganze Lebenskraft des Englischen Drama'S konzcnlsicl sich in diesem einen Schriftsteller, dessen Ausdruck eine