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stellung aufzubewahren. Vielleicht würde ihnen dann der Eigen- thümer, wenn man den Rückstand einiger Tage bezahlte, noch eine kleine Frist gewahren, und sie könnten: „Auf allgemeines Verlangen" eine zweite Vorstellung, „zum letzten Male" eine dritte und „zum allerletzten Male" eine vierte veranstalten. Ein Jeder legte willig die Hand ans Werk, und die Bühne sah der Werkstatt eines Tischlers, Oecorationsmalers und Themerschnci- Vers nicht unähnlich. Man nähre, mahlte, besserte aus und repc- line zugleich die Rollen. Eine alte Decoration, welche ursprüng lich einen Wald vorstellte, schien, vermöge ihres Alters, wun derbar geeignet, eine Anschauung de» Meeres zu geben; ver mittelst einiger Pfähle, welche in gewissen Zwischenräumen ein geschlagen wurden, suchte man den Schein der Wellen hervorzu- bringcn: das Schiss wurde durch ein braun angestrichcnes Breit rcpräscmirt, drei Reisbündcl dienten als Masten, und sämmtliche Taschentücher der Gesellschaft wurden zu Segeln gepreßt. End lich bst man die äußersten Kräfte auf und machte fast das Un mögliche möglich, um einen riesenhaften Anschlagzettel zu Stande zu bringen; auf demselben erblickte man das Ungeheuer, welches ein Kino verschlang. Ganz umen las man in kolossalen Buch staben die Worte: „Herr Rosambo, ehemaliger erster tragischer und komischer Liebhaber am l'liöütro und am Odöon, wird in der Rolle des Ungeheuers aufircien." Der große Tag brach endlich an; die Rollen waren einstu- dirl, die Dccoraiioncn hcrbeigcschafft und die Kostüme zusam- mcngcslickt, mit Ausnahme jedoch eines einzigen; das des Unge heuers fchlie. Rosambo Hane versprochen, es hcrbcizuschasfen, und man kannte seinen erfinderischen Geist. Line Stunde vor dem Anfänge der Vorstellung erschien ein Anstreicher, dessen Bekanntschaft er beim Billard gemacht halte- Vor diesem em< blösne er sich bis zum Gürtel und fragte: „Mein Werther, was muß ich Ihnen bezahlen, wenn Sie mich vom Kopf bis zu den Füßen anstreichcn k" — „Drei Francs", erwicderie der Anstreicher. — „Indeß", fuhr Rosambo fort, „fehlt mir noch eine Perrücke, und wenn sich nicht eine der Damen entschließ«, mir ihren Haar schmuck abzulrelen, so weiß ich in der Thai mchi, was ich machen soll. Ich opfere mich für das allgemeine Beste, und mein Beispiel muß zur Nacheiferung entflammen." — Er zielte mit diesem Vorschlag auf die ehrwürdige Duenna, welche den selben indeß unbedingt ablehme. Da er cinsah, daß sic von ih ren grauen Locken nicht lasten würde, so mußte er sich mii einem Bündel Flachs begnügen, dem man durch eine Gummiauflösung etwas Haltung gab. Oer Anstreicher strich also frisch aus das Gesicht und den Körper Rosambo's los, nicht anders, als wenn er ein Garlcngilicr umcr Händen hätte, trat dann einige Schritte zurück, nm den Effekt seiner Arbeit zu beobachten und sagte: „So sind Sie wunderschön; Sic sollicn immer so gehen." — Da indeß nach einigen Minuten die Farbe pbfloß und nur noch auf den hcrvorspnngcnden Theilen seines Körpers, auf der Na senspitze, den Ohren und Fingern, wie schimmernde Smaragd tropfen erglänzte, so schien er eher lälowut als angestrichen zu seyn. Oer Maler mußte ihn dahcr noch einmal anstrcichen und der Farbe durch die Beimischung von etwas Firniß mehr Kon sistenz geben. Am Abend versprach er wiedcrzukvmmen. Rosambo sah wirklich schrecklich aus; allmälig trocknete der Firniß und lähmte die Bewegung seiner Muskeln. Eine schreck liche Grimasse, die er i.n Augenblicke des Trocknens versucht hatte, war stereotyp geworden und schien der bleibende Ausdruck seines Gesichts zu seyn. Hierzu kamen noch zwei Orangeschalen, welche er zwischen den Lippen eingeklemmt haue, und die, da sie den Maud offen hielten, ein schreckliches Gebiß hervorireien ließen. Er hätte unmöglich ein Won hervorbringen können; da indeß seine Rolle stumm war, so «hat dies nichts zur Sache. Er brauchte bloß ein schreckliches Geheul auszustoßen, und der Schmerz, den er empfand, machte ihn dazu sehr geeignet. Die Ankündigung verfehlte ihre Wirkung nicht, und die Einnahme war sehr bedemend; sic betrug IAN» Francs. Zur Deckung der Schulden, die des Direktors mit einbegriffen, waren nur 80« Francs erforderlich, und somit verblieb diesen armen Teufeln, welche seit vierzehn Tagen rein von Kartoffeln lebten, immer noch eine Summe von 4<!l) Francs. Es ging auch Alles gut bis zur Erscheinung des U-geheuers; als dieses aber in seiner schreck lichen Mißgestalt aufiauchie, als man diese fürchterliche GesichtS- verzcrrung sah und das Geheul desselben vernahm, wurde die ganze Versammlung von einem panischen Schrecken er griffen, und die Weiber und Kinder stürzten aus dem Theater- Jetzt gcrieih Alles ins Stocken; ein Siraßcnbube, der das Kind vorstcllen sollte, das dein Ungeheuer zum Fräße bestimmt war, halte in den Proben viel Kaltblütigkeit und Unerschrocken heit gezeigt; als er aber Rosambo im Kostüm erblickte,, wurde auch er von dem allgemeinen Schrecken ergriffen und machte sich aus dem Staube; der Feuerregen endlich, der das Stück beenden sollte, mißglückte und hätte beinahe noch das Theater in Brand gesteckt. Umcr Pfeifen, Pochen und Ver wünschungen ging ein Abend zu Ende, der so schön zu werden versprochen hätte. Die Schauspieler trösteten sich indeß über dies Mißgeschick; sie hatten ja eine Einnahme- Vor dem Publikum von Saim- Omer konnten sie freilich nicht mehr ausireien, aber die Welt ist ja groß, und die Stadt halte sich ihnen so ungastlich gezeigt. Aber die Einnahme! die hatte man freilich noch nicht in Hän den, aber die Liebhaberin, die, weil sie im Stücke nicht beschäf tigt gewesen, an der Kaffe gesessen, mußte sie ja bringen. Man wanele, warme, und sie erschien nicht. Rosambo saß indeß auf der Folier, denn der Maler, der ihn von seiner Kruste zu befreien versprochen Hane, erschien nicht. Nach Verlaus einer Stunde war die traurige Wahrheit offenbar. Der Maler, die Liebhabe rin und die Kasse waren denselben Weg gegangen. Man stieß Flüche und Verwünschungen aus, aber diese brachten die Ent flohenen nicht zurück. Vor Allem mußte man Rosambo jetzt zu Hülfe kommen, denn dieser war am schlimmsten daran. Sämnilr Uche Schauspieler machten sich über ihn her, aber eher, hätten sie einen Mohren weiß waschen können; das Wasser floß'an sei nem Körper wie an geölter Leinwand herunter, und je mehr sie wuschen, desto fe/tcr wurde die Farbe. Ale das Mißgeschick der Schauspieler in der Stadl bekannt wurde, erwachte die Theilnahme für sie in allen Herzen; inan gewährte ihnen zwar keine Hülfe, aber man ließ sic ungehindert ziehen. Wie hätte man sic auch daran hindern wollen, ohne ihre Haut als Pfand zurückzubehalien? Die Truppe begab sich nach Valenciennes, und Rosambo, der immer bereit war, sich für das Allgemeine zu opfern, schlug seinen Kameraden vor, ihn in allen Dörfern als ein Naturwunder zu zeigen. Denjenigen, der nicht wußte, wie cs damit zuging, mußte er freilich al» ein Wunder tier erscheinen. Zuerst mußte er für cinen „wirklichen wilden Südsee-Insulaner gelten; als indeß der Firniß allmälig zer bröckelte und kleine Schuppen bildete, wurde er in den „Fisch- menschen" umgcwandeli. Unter dem letzten Namen fand er viel Zulauf, und die guten Einnahmen erlaubten ihm endlich, sich wieder cmfirniffcn zu lassen. Rosambo ist jetzt sechzig Jahre alt; die Generalion der Schauspieler, mit denen er zusammen gespielt Hal, wird immer dünner; bei den jungen Leuten findet er nicht mehr dieselbe Sym pathie- Bald wird i,hm nur noch eine Hülfsguclle übrig bleiben, er wird Professor der Declamatio» werde» müssen. sOarette H-öäcre!..) Mannigfaltiges- — Zur Sitten-Statistik. Eine Visitation, die kürzlich in zehn kleinen Londoner Leihbibliotheken (oireulutinx libruriox) stattgefundcn, hat folgendes Resultat ergeben: Umer je hundert Büchern befanden sich immer: Erzählungen von religiöser und moralischer Tendenz (wie die von Miß Edgewvrih) zwei; ältere Werke von guter Ari (von vr Johnson, Goldsmith ic) eins; ältere humoristische Erzählungen (von Fielding, Sinollet, Le sage -c.) zwei; historische Romane (von Malier Scott und sei nen Nachahmern) acht; Wunder- und Ritter-Romane vier; mo derne Darstellungen von gutem Geschmack (von Bulwcr, Theodor Hook rc.) zwei; Reisen und geschichtliche Werke sechs; See- Romane (von Cap. Marryat, Cooper ic ) fünf; bekannte fashio- nablc Skandalös» (von Lady Charlotte Bury ic.) zwanzig; un sittliche Darstellungen, schlechte Nachahmungen der fashionablen Skandalösst und Lektüre für den großen Haufen sechsundvicr- zig; alte Schmöker (Newgale-Kalender ic.) vier. — Man sieht hieraus, wie sehr das Verhälmiß steigt, je mehr sich der Inhalt der Bücher von gmcn Tendenzen entfernt. Ulsclcwuvst'!. sagt in dieser Beziehung: „Der Menschenfreund stellt sich unsere Handwerker gern vor, wie sie noch in der Mitternacht bei der Ocllampe emsig ihr Werk vollenden, oder er denkt sich cinen von der Tages-Arbeit müden Hausvater, der in den Feierstunde» sei ner Familie aus Bibel und Postille vorliest; aber wie ist es in der Wirklichkeit? Wir erblicken unseren Handwerker mit lüder- lichen Genossen im Wirihshause, wo er sich das Getränk durch die Ergüsse radikaler Blätter noch schmackhaficr zu machen sucht, oder wir finden die bleichen Fabrik-Arbeiterinnen Sonntags in ihrem Stübchen bei der Lektüre skandalöser Romane; am Wochentage aber sitzen die zanen Nähmamselle vierzehn Stunden Himer einander im engen Zimmer beisammen, wo sie bei ihrer Arbeit sich von einer Freundin aus einem schlechten Buche verlesen lassen, bei welcher Ge legenheit sic dann alle Laster des müßigen Lebens mitten in ihrem Flciße kennen lernen. Ist es nun wohl ein Wunder, wenn wir nach wenigen Jahren einen Theil dieser Mädchen in den Straßen von London unter jenen Verworfenen wiederfindcn, deren Zahl sich leider mit jedem Tage vermehrt?" — Der Journalist fragt sich hierauf, ob es umcr solchen Umständen wohl recht sey, die Kenmniß des Lesens und Schreibens unter den niederen Klaffen so emsig zu verbreiten? Doch er ist weit entfernt, diese Frage zu verneine»; er erkennt vielmehr an, daß doch »och immer mehr Gutes als Schlechtes aus dem auch umcr dcn niederen Volks- klaffen verbreiteten Unterricht entspringe, aber er verlangt die Beaufsichtigung, die Regulirung dieser Kräfte durch eine sittliche Macht. Wer wird, fügt er hinzu, das Wohlchmige jener neueren Erfindungen, der Dampfmaschinen »>'d Lokoinoiivcn, leugnen? Und doch ist die menschliche Gesellschaft, d. h. der Staat, ver pflichtet, dafür zu sorgen, daß die rohe Elememarkraft keinen nn- geschickien Händen anvertram werde, daß der Dorihcil des Zeit gewinns, den sie uns verschaffen, nicht aus Kosten der Gesundheit und des Lebens herbeigezwungen und übertrieben werde. He-auSgegcben Von der Redaktion der Allg. Preuß. StaatS-Zeitung. Redigirt von Z. Lehmann. Gedruckt bei A. W. Hahn.