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Wöchentlich erscheinen drei Nummern. Pränumerationi- Prcii 22 Sqr. Thtr.) vierteljährlich, Z Thlr. für dar ganze Jahr, ohne Er höhung, in allen Theilen der Preußischen Monarchie. Magazin für die Man pränumcrirt auf dieses Beiblatt dcr Allg. Pr. Staats- Aeltung in Berlin in der Erpediticn (Zriedrichs-Ttrasie Nr. 72); in der Provinz so wie im Anslande bei den Wohllöbl. Posl-Aenuern. Literatur des Auslandes. 96. Berlin, Freilag den 10. August 1838. England. Die periodische Literatur unter der Königin Anna, oder Richard Steele nnd seine Zeit. Wie fast in allen neueren Literaturen, hat man steh auch bei der Englischen in den letzten Jahren viel mii den dunkleren Theilen derselben beschäftigt und über das Leben vieler berühm ter Schriftsteller gründliche Forschungen angestellt, um einesthcils die kleinste wenhvolle Reliquie aus der Vergangenheit wieder ans Tageslicht zu bringen, anderemhetls, um auf diesem Wege irgend eine neue Anschauung zu gewinnen, die uns ein richtigeres und klareres Bild von der Zeit und den Menschen geben kann. Dieser Eifer ist meist als ein Zeichen literarischer Thäligken und Wahrheitsliebe anzusehen, wiewohl er mitunter ein unbilliges Mißtrauen gegen alte Darstellungen und Urthcile bekundet und ein übertriebenes Streben, hergebrachte Eindrücke zu zerstören. Schriftsteller, die bisher in dem Andenken der Welt einen unver änderlichen Standpunkt einzunehmcn schienen, sind dadurch aufs neue vor die Schranken des öffentlichen Unheils gebracht worden, als stammle ihr Name erst von gestern, und haben so in den Blättern und in der Eonvcrsation eine Stelle eingenommen, die mehr denjenigen unserer Zeitgenoffen zu gebühren scheint, deren Wenh noch nicht so ausgemacht ist- Die ungünstigen Urthcile über ausgezeichnete Männer, die wir von ihren Zeitgenossen ge erbt, sind dadurch nach und nach gemildert worden, und mancher achtbare Schriftsteller, an dessen Wenh wir bisher minder ge dacht, als wir sollten, da cs uns mc eingefallen ist, ihn zu bc- streiten oder zu vcnheidigrn, Hai für uns bedeutend an Jmereffc gewonnen. Dieses Interesse muß die praktische Folge haben, daß man überhaupt mehr anfängt, Literatur und Schriftsteller in ihren früheren und gegenwärtigen Verhältnissen und nach den verschie denen Einflüssen, denen sic unterworfen sind, zu betrachten, und wenn hier und da im Laufe der Jahre Verkehrtheiten im Denken oder Schreiben einreißen und Produkte von monströser Origina lität den öffentlichen Geist eine Zeit lang beschäftig« haben, so sind wir dann zu der Hoffnung berechtigt, daß ein wiederholtes Studium unserer alten Lieblinge der herrschenden Anomalie und Lxcentrizttä« ein Ende machen und das Maß der Wahrheit wieder zur Herrschaft bringen wird, ohne darum einen gesunden Geist poetischer Kühnheit zu unterdrücken. Zu den bedeutendsten und interessantesten Erscheinungen in der Geschichte der Englischen Literatur gehören gewiß die jour nalistischen Versuche zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, welche die glänzendste und populairste Form der Prosa-Darstellung in jener Zeit aufweisen und von denen Einiges, wie namentlich »er be kannte ..Lpeetutor", nicht nur damals sich der allgemeinsten Ver breitung erfreut hat, sondern auch jetzt noch mit Recht in vieler Beziehung als klassisch geachtet und Engländern wie Fremden, die sich mit der Sprache vertraut machen wollen, als anziehende, in Form und Inhalt lehrreiche Lektüre empfohlen wird. Doch abgesehen von diesem mehr formellen und literarischen Wenh, sind diese Blätter auch historisch besonders merkwürdig. Indem sie nämlich von vorn herein in der Absicht hcrausgegeben wurden, geradezu auf die Gesellschaft selbst und auf die damaligen Menschen zu wirken, vorhandene Uebel und Mängel zu bekämpfen, an das ru erinnern, was der Gegenwart Noth thuc, und eine Reform der Sitten zu Stande zu bringen, so geben sie uns von selbst das vollständigste Sittenbild der Zeit, und wenn wir uns daher nicht eine allgemeine Vorstellung von dem Zustande der damaligen Ge sellschaft machen, sind wir auch nicht im Stande, den Geist und die Bedeutung dieser Blätter vollkommen zu würdigen. Keine Ze« der Englischen Geschichte zeichnet sich so sehr durch einen tiefgreifenden Verfall in socialer, politischer und lite rarischer Beziehung aus, als die ersten fünfzig Jahre nach der Restauration. Wir sprechen von ihr geradezu als einer verderb ten. Man kann diese Eorruplion und ihre ganze Dauer eben so schwer bis auf die Ursachen zurück verfolgen, die ihr Entstehung gaben, als sich bei ihr jene endlichen guten Wirkungen heraue- finden lassen, welche eine höhere Fügung selbst aus dem Bösen entspringen läßt- Ew Englischer Schriftsteller nannte vor kurzem diese ganze Zeit die lasterhafteste, weiche die Welt seil der Züch tigung der Römischen Vcrderbniß durch das Hercindringen der nordischen Barbaren erlebt hätte, und indem er sie mit der unsrigen vergleicht, rühmt er „die Trefflichkeit der jetzt waltenden mora lischen Gesinnung, die es dem gemeinsten Charakter unter den lebenden Englischen Staatsmännern unmöglich machen würde, von einer fremden Macht solche Bestechungen anzunehmen, wie sie ein Ruffell, cm Sidney, ein Marlborough damals ohne die geringste Scheu empfingen." Eben so nennt er als ein Zeichen unserer Besserung „das sittliche Zartgefühl, welches jetzt in weib licher Gegenwart die entfernteste Anspielung auf Gegenstände verbietet, die damals von und mit den Frauen und Schwestern jener großen Männer vertraulich diskutin wurden." Es war bekanmlich auch eine Zeit harter politischer Kämpfe, religiöser Unduldsamkeit und heftiger Kriege mit dem Ausland, die mit den inneren Unruhen eng verbunden waren. Diese bür gerlichen Kämpfe waren nicht von der An, wie wir sie gewöhn lich in freien Gemeinden erwarten, die uns aber nur selten ein Gegenstand der Furcht sind. Diese Spaltungen unter den Menschen, die wir gewöhnlich Parteien nennen, erscheinen uns in solcher Entfernung wie Las Aufstchen ganzer Stände gegen einander. Die Leidenschaften und Interessen jedes Individuums halten da mals einen Gegenstand im Auge, der wesentlich das öffentliche Wohl betraf. Die streitigen Punkte waren nichts Geringeres, als ein Wechsel der Dynastic, eine Reform oder Wiederherstellung der Constitution, ein Umsturz der bestehenden Kirche, die Unter drückung der Andersdenkenden. Die ganze Gesellschaft scheint nur aus Royalisten, Puritanern, Republikanern, Vercheidigern der Kirche und Papisten zu bestehen, die alle zum Kainpf gerüstet stehen für em öffentliches Interesse, alle entweder von dem Ge fühl schmählichen Unrechts erfüllt oder von der Furcht vor einem plötzlichen Sturz von hoher Stellung herab, und vermischt mit den Müßigen und Verzweifelten, die bei solchen Verwirrungen ihre Rechnung finden. Von jenen beschwichtigenden Einflüssen, wie sie z. B- eine elegante, populäre und leicht zugängliche Literatur auszuüben vermag, und die Allen einen Moment der Ruhe und Abspannung für den Geist gewähren, wenn er, müde des Ge schreis auf dem Schlachtfelde der Tagcsdebatten, sich in sich selbst zurückziehen will, sehen wir hier wenig oder fast nichts. — Erwarten wir aber nicht bei einem solchen Zustand der Dinge und bei diesem allgemeinen Mißtrauen der Gemüther wenigstens eine ernste, düstere Stimmung, eine herbe Strenge der Sitten und gerade in der Verwirrung der Zeiten ein tragische» Moment? Und doch sehen wir hier überall nur LuruS, Frivolität, Spott, Skeptizismus oder schlaffe Frömmigkeit, die niederen Klassen au«- genommen, die darauf rechnen konnten, wegen ihrer sonderbaren Tugend auegelacht zu werden. Was die Achtung und den Einfluß der Frauen, natürlich aus den gebildeten Ständen, betrifft, so kann man sich hierüber au» der Satire Pope s und Swift'e und aus den Komödien der Zeit belehren. Selbst die Ari, wie sie in den periodischen Zeitschrif ten selbst angcredcl oder erwähnt werden, sobald die Schriftsteller den Verfall "weiblicher Tugend beklagen und bei der Reform des Staais zuerst auf die Reinigung des häuslichen Heerdes dringen, verrälh mitten in ihrer Höflichkeit und Herzcnsgüie einen Grad der Verachtung, welche Männern, die sich eben so durch Wohl wollen als durch Geist auszeichneien, nur mit Gewalt aufgcdrängt seyn kann, und nichts ist trauriger, als zu sehen, wie sie an die Ehre und den Eigennutz ihres eigenen Geschlechts als den Haupt- schuy des anderen appcllircn und auf die Selbstachtung dec Mütter und Töchter von England so wenig Vertrauen setzen- Wahr ist cs, bei unserer Bcuriheilung der Gesellschaft einer anderen Zeil werden wir nie von Ucbcnrcibung frei scyn. Wir nehmen das Böse oder Gute, was uns zuerst in die Augen fällt, und tadeln oder loben in Masse, ohne zu bedenken, wie viel ver- byrgcnc Tugend in jeder Klaffe da ist und da seyn muß, so lange die Gesellschaft noch nicht ganz zerfallen ist, nnd wie viel raffi- nirtc Bosheit andererseits in den Zeiten, die uns die besten schei nen, sich versteckt oder geduldet wird. Auch vergessen wir bei der Betrachtung verschiedener Perioden, wie sehr sich die For men und äußeren Verhältnisse des Lebens ändern, und daß in erkünsteltem Anstand eben so tiefe Vcrderbniß liegen kann, um so tiefer, da sie mehr verfeinert aussiehi, als in schamloser Ungebundcnhcit. Wir vergessen, daß die Reden und Gemein plätze, die dem einen Zeitalter anstößig scheinen, in dem anderen ganz gewöhnlich und fast unschuldig waren; denn sic sind mehr