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Wöchentlich «scheinen drei Nummern. Pränumerations- PreiS 22j Sgr. Thtr.) vierteljährlich, 3 Thlr. für doS ganze Jahr, ohne Er höhung, i» allen Theilen der Preußischen Monarchie. a g a für die Man oranumerirt an, die,el Beiblatt der LUg. Pr Ltaae», Zeitung in Berlin „i der Expedition (gricdrichö-Srrnnc Nr. 72); in der Provinz >; wie im Auslande dci den Wohllödl. PoÜ-Acnucrn. Literatur des Auslandes. 36. Berlin, Donnerstag den 10. Mai 1838. England. Alice, oder die Geheimnisse, von E. L. Bulwer*). In den modernen Englischen Romanen droht ein gewisses Uebel überhand zu nehmen, das, wenn es ganz ohne Rüge ge lassen wird, zuletzt eine neue poetische Schule erschaffen muß mit noch schlechteren und verkehrteren Productionen, als die gräßlichsten Ausgeburten von Eugi-ne Sue und Michel Raymond. Wir meinen die böse Gewohnheit vieler Schriftsteller, in Erzählungen, die aus dem wirklichen Leben genommen sind, die allerunwahrschcin- lichsten Rvmanverwickelungen einzudrängen. Hier und da sind aus dieser unverzeihlichen Ucbcnrelung der Grundregeln, wonach solche Geschichten abzufaffen sind, Absurditäten hervorgcgangen, die eben so sehr durch den guten Geschmack, wie durch die allge mein menschliche Erfahrung verdammt werden. So fällt es einer Schriftstellerin ein, die ihren Roman in England zur Zeit des Prinz-Regenten spielen läßt, ihren Lesern eine mysteriöse Ge schichte aufzubinden von der Frau eines Lords, die mehrere Jahre in einem finsteren Loch auf dem Schlosse Seiner Herrlichkeit ver borgen gehalten wird, während das einfältige Publikum die ganze Zeil über sich einreden läßt, sie sey todt: als ob es glaublich wäre, daß die Lady gar keine Freunde oder Verwandle habe, die sich für ihr Schicksal inleressinen, oder als wäre es in England so leicht, mir nichts dir nichts eine Frau von vornehmer Geburt aus dem Wege zu schaffen und noch dazu jeder weiteren Nach frage nach ihr durch ein unbestimmtes Gerücht ihres Todes und ein falsches Leichenbegängnis! ein Ende zu machen.") In den vorliegenden Bänden, mögen wir sie nun als einen Roman für sich betrachten oder im Zusammenhang mit Ernst Maltravers, zu dem sie die Fortsetzung bilden, haben wir ein auffallendes Muster dieser neuen Manier in der Roman-Literatur. Alicen'S Geschichte ist vom Anfang bis zu Ende nicht bloß un wahrscheinlich, sondern wesentlich melodramatisch, und noch etwas schlimmer, wie wir gleich sehen werden. Die Leser, welche den Inhalt der in den ersten Theilen dieses kleinen Novellen-Cyklus abgeschlossenen Erzählung kennen'"), werden sich erinnern, daß dort neben dem Haupthelden derselben, den wir unter dem Namen Ernst Maltravers kennen lernen, noch eine Person, Namens Alice, eine bedeutende Rolle spielt, über deren weitere und end liche Schicksale aber, obwohl wir sie aus mehreren Andeutungen errathen sollen, der Verfasser uns zuletzt im Dunkeln läßt. Dieses Dunkel aufzuklären und die Geschichte dieser Alice, wie der übrigen Hauptpersonen, zu einem befriedigenden Schlüsse zu füh ren, dazu ist diese Fortsetzung bestimmt, wie schon ihr Titel zeigt: „Alice oder die Geheimnisse", und wir rekapituliren darum hier kurz die wichtigsten Umstände aus dem früheren Leben der Hel din, um den weiteren Bericht über ihr Schicksal, wie wir ihn aus diesen neuen Bänden entnehmen, daran zu knüpfen. Das Mädchen, welchem wir zuerst in der Hüne ihres bösartigen Vaicrs begegnen, wo sie ohne Erziehung ganz roh und unwissend aufgewachsen ist, warnt den junge» Ernst Maltravers, der, auf der Reise verirrt, im Hause Obdachl sucht und in Gefahr ist, von ihrem Vater beraubt und ermordet zu werden, und hilft ihm auf die Flucht; er, aus reiner Dankbarkeit dafür, daß sie ihm das ^be» gerettet, nimmt sie unter einem falschen Namen in seinen Schutz, fuhrt ein sentimental-poetisches Leben mit ihr, indem er sie bildet und unterrichtet, und — vcrrälh zuletzt ihre Ehre. Um stande zwingen ihn, ihre» damaligen Aufenthalt zu verlassen, und als er zuruckkehrt, ist sie verschwunden, von ihrem Vater, den sein Raubgcwerbe in das Haus führt, sortgcschlcppt. Jahre vergehen, und Ernst Mallravers Hörl von seiner verlorenen Alice nicht mehr. Sie weiß inzwischen ihrem Vater zu entkommen und wandert arm und verlassen mit dem Kinde ihrer sentimentalen Schuld in der Welt umher, bis sie zuletzt' bei einer alten Dame ein Unterkommen findet, wo sie unter dem Ramen Butler — demselben, den Maliravcrs früher angenommen — sich und ihre Tochter durch Musik-Unterricht erhält, und in dieser Stellung zieht sic die Blicke eines reichen Banguicrs auf sich, der ein dem ihrigen in mancher Beziehung ähnliches Mißgeschick erfahren und ') Roman In 3 Bänden, als Fortsetzung von „Ernst Maltravers". ) Die ErzätNerin ist bad» Srevne». "') Man vergleiche Nr- IZU des vorigen Jahrgangs- „Ernst Maltravers", von E. b. BuNver- darum ein großes Interesse an ihren Angelegenheiten nimmt zu Erreichung weiterer Zwecke. Dieser Mann, scheint es, hatte ein Liebesverhältniß mit einer jungen Dame angeknüpft, noch bei Leb zeiten seiner Gattin, die ihm aber durch ihren Tod gerade zur rechten Zeit Freiheit ließ, seine Schuld bei dem jungen Mädchen wieder gut zu machen, indem er sich auf der Stelle heimlich mit ihr trauen ließ, noch ehe sie der Frucht ihrer unglücklichcu Liebe das Leben gab. So weit schien Alles die Erfüllung der Hoff nungen Views bejahrten Herrn zu begünstigen, da starb plötzlich die Frau, welche der Gegenstand derselben war, bald nach der Geburt des Kindes, und er blieb setzt allein mit seinem Säug ling. Unter so mißlichen Umständen schien cs ihm am klügsten — denn die Gebote weltlicher Klugheit beherrschen ihn vor Mem — von seiner geheimen Ehe zu schweigen und sein Kind nicht anzuerkennen. Doch diese Umstände bilden nur das Vorspiel zu den weiteren Schicksalen des Banguiers. Gerührt durch die Sympathieen verbotener Liebe, die Alice mit ihm theilte, und in Betracht des fast gleichen Alters ihrer beiden Töchter, machte er ihr den Vorschlag, ihren Namen zu verändern, heimlich in eine ferne Stadt zu reisen und sich von ihm mit den erforderlichen Geldsummen zur Ausführung dieses Plans versehen zu lassen. Während dein Allen erscheint Alice nicht bloß treu gegen ihre erste Liebe, sondern sie wird uns auch als ein Muster von Tugend beschrieben. Doch aus Rücksicht auf die Krankheit ihrer Tochter, die einen Wechsel der Luft nölhig macht, willigt sie in die Vor schläge des Herrn Templeton, nimmt eine Gelduntcrstützung an, giebt seine Tochter für ihre eigene aus und macht sich ganz von seiner Güte abhängig, wobei sie aber fortwährend ein streng zurück haltendes Betragen gegen ihn behauptet, dessen Wahrscheinlichkeit in diesem Fall zu prüfen uns erlassen ist. .Herr Templeton, der von eben so sonderbarem Temperament zu seyn schein«, wie Alice selbst, tragt ihr endlich die Ehe an, die sic aber ausschlägl- Jetzt macht sich schon der Leser auf den oder jenen außerordentlichen Schritt gefaßt, der einer Frau von so wunderbarer Beschaffenheit zuzutrauen ist, und in der Thal, als Herr Templeton, der nicht so leicht von der Verfolgung seiner Wünsche abzuschrecken ist, seine Bewerbung mit Eifer fonsetzt, wird er endlich erhört, und Alice giebt ihm ihre Hand, aber umer einer Bedingung. Wir lassen sie iclbsi sprechen: — „Wenn ich Sie heirathe, so kann dies nur ru dem Zweck geschehen, Ihrem Kinde eine Muner zu sichern — doch Gattin darf ich Ihnen nur dem Namen nach seyn! So weil «st es nichl mit mir gekommen, daß ich mich selbst nicht mehr achten sollte. Ich weiß es jetzt, wiewohl ich es früher nicht wulste, daß ich eine Sünde begangen; diese Sünde ist durch nichts wieder gut zu machen, als durch unwandelbare Treue gegen ihn! Ja, za, niemals darf und werde ich einen Anderen lieben, als den Vater meiner Kleinen. In allen übrigen Dingen können Sie über mich verfugen, wie Sie wollen." — Und Alice, die in ihrer Un schuld und Einfall dics Alles ohne Lrrölhen ausgesprochen, schlug ihre Hände leidenschaftlich zusammen und verließ Templeton sprachlos vor Erstaunen und Verdruß. Dürfen wir uns wundern, daß der arme Mann die Sprache verlor? Ein solcher Antrag ist wahrscheinlich noch nie früher von einem Weibe gemacht worden, und Alicens Naivetät bei dieser Gelegenheit, mit der sie ohne Erröihen ihre Bedingung nennt, gehört ohne Zweifel mit zu den Mysterien des Buches. Doch dies ist ein Punkt, den wir lieber der Beunheilung des denkenden Lesers überlassen, um uns desto schneller zu der Losung der übrigen Räthsel zu wenden. Nach einem KrankheitSanfall, der offenbar die Wirkung hat, ihm das Blut etwas zu kühlen, entschließt sich Herr Templeton, in die Bedingung der Dame cinzugchen, und verpflichtet sich zur Beobachtung derselben durch einen Lid, den sie mit Strenge von ihm fordert. Sic vermählen sich, Alice'» Töchter stirbt und Evelyn Cameron — so heißt Tcmpleton's Toch ter — erscheint jetzt vor der Welt als Alicens Tochter aus einer früheren Ehe. Diese seltsame Verbindung zeigt sich i» ihren Folgen nicht so glücklich,, als man vielleicht glauben möchte, und Templeton läßt nur zu bald eine sehr natürliche Neigung merken, sein Gelübde zu brechen. Es ist dics cin Bla« aus dem Kapitel von der Ehe, das wir seiner Kuriosität wegen ganz wiedergeben: — „In den ersten zwei Jahren verrielh Templeton ein etwa» bedenkliches Verlangen, den ihn bindenden Eid zu umgehen; doch bei der leisesten Andeutung trat ihm das sonst so unterwürfige Weib mit einer Strenge entgegen, die ihn abschrcckte und cin-