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6Z9 Horns des Glücks nährt, setzt sie der Gefahr aus, sich selbst zu morden, wenn ihr jener Nahrungsstoff ausgeht, und gesteht laut, daß er nicht aus reiner Liebe zum Guten, sondern um der Anchmlichkeiten des Genusses willen sich eine Zeitlang an die Tugend angeschloffen habe. Ein solcher gleicht der Schmarotzer pflanze, die dahin welkt, wenn sie ihre mor sche Stütze verloren hat. Aber ein Herz, welches durch die Macht der Vernunft, oder Lurch den Einfluß ächter Religiosität die Tu gend nicht um des Genusses, sondern um ih rer selbst willen lieb gewonnen hat, bleibt sich im Guten gleich, und den Pflichten des Wohlwollens und aller übrigen Tugenden treu, bei Stürmen sowohl als bei dem heitern Sonnenblick des Schicksals, das unter der Leitung einer höhern Weisheit, über das schwache Menschengeschlecht gebietet. Einen solchen Menschen — und nur wer die Rechte der Vernunft anerkennt, verdient Mensch zu heißen — kann die Noth nicht verschlimmern. Diese gibt nur thierischen Naturen eine eng herzigere, selbstsüchtigere Richtung, wenn im Gegentheil die Zeit der Noth für den Ver nünftigen einer, des Mondlichts der Freude beraubten, Nacht gleicht, in welcher der Sternenglanz bescheidner Tugenden um so mehr gehoben wird. Aber wie und wenn erwirbt man sich diese Stärke des Gei stes? Schwerlich in den Rosengärten befrie digter Neigungen, die von Entsagungen, Selbstbeherrschung, Ergebung u. s. w. auch nicht die geringste Spur enthalten; wo man vielmehr alle Tage, wenn auch nicht herrlich und in Freuden, doch nach seiner Neigung zu leben wünscht. Die Erfahrung hat es gelehrt, wie ungünstig ein glücklicher Zustand 660 von Mehrern Jahren für die Tugend solcher Herzen war, die nur nach Genuß und Freu den des Wohlseyns geizten. Kam nicht in jenen Zeiten des vermeinten Wohlstandes jene, die Menschen tödtende, Selbstsucht zur Reife, die es beinahe so weit kommen ließ, daß der Arme, vor Theurung, kein Brot mehr essen konnte? Doch diese Schreckensscene ver wandelte sich mit der Annäherung des Schre ckens der Noth, die der Krieg herbeiführte, in ein heiteres Schauspiel der Zufriedenheit des Dürftigen, der unter den Händen selbst süchtiger Wohlthätigkeit, die es an reichen Gaben nicht fehlen ließ, dennoch hätte ver hungern müssen, wenn die Noth nicht wohl- thätiger an ihm gehandelt, und sich semer Dürftigkeit eingreifender angenommen hätte. Welche herrlichen Tugenden hat übrigens die Noth nicht zu allen Zeiten, wo sie herrschte, entwickelt! Wollen wir ihren wohlthätigen Einfluß verkennen, weil wir, traurig genug, bemerken, daß sie an uns nichts zu entwickeln finden möchte? Nimm doch, 0 Mensch! aus der Hand Gottes Alles, selbst das an, was dir boshafte Menschen als Leiden dar- zubieten scheinen, und laß dich in der Schule der Leiden, sowohl als der Freuden, zur Weisheit und Tugend bilden. Mache dich vertrauter mit den ewigen Wahrheiten, die uns in heiligen und profanen Schriften die frühesten Weisen des Alterthums in dieser Rücksicht, mit einem richtigem und unbesang- nern Blick aufgefaßt, hinterlassen haben, und du wirst weniger in Gefahr kommen, deinen, von Neigungen bestochnen, Verstand gegen dich selbst zeugen zu.lassen. Hüte dich also zwar, Jemanden durch Leiben bessern zu wollen, wenn es in deiner Gewalt steht, sein