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572 wohl von dem etgenthümlichen, unverwelkll- chen Reiz des Gesanges, als in ihm von mancher frohen Erinnerung an ihre Jugend bewegt. Darum sollte man sich dieses lauten Ausdrucks der Freude nicht schämen, und es nirgend unanständig finden, die Tafelfreuden durch Gesang zu erhöhen und zu veredeln, und es wäre wohl zu wünschen, daß man eine neue Sammlung guter Gesellschaftslieder veran staltete, die, auch wenn sie nicht immer ganz poetisch sind, durch Musik und Melodie ver-' schönt werden. Auch das Gesundheittrinkcn ist aus den meisten geselligen Kreisen verbannt. Es mag human seyn, die bisweilen dadurch bewirkte Zunöthigung zum allzureichlichen Genuß des WeinS aufgegcben zu haben; aber müssen darum die Gesundheiten ganz weggeworsen werden. Mancher Beweis von Achtung oder Theilnahme, manche srohe Erinnerung, die in der Freude sich regte, ward darin ausge sprochen, und die Freude dadurch offener, traulicher. Warum soll das nicht mehr seyn? Warum hat man die Gesundheiten ganz ver scheucht? Man nennt sie einförmig, altmo disch. Altmodisch sind sie freilich, insofern sie längst gewöhnlich waren. Aber ist das ein Grund ihrer Verwerfung? Altmodisch ist Vieles geworden; doch darum nicht min der schön, oft reizender als Neumodisches. Ihre Einförmigkeit anlangend, beruht diese doch nur auf der Gesellschaft, nicht auf der Sache. Hängt es nicht von uns ab, sie auch durch reiche Mannichfaltigkeit anziehend und lieblich zu machen? In geistreichenGe- fellschaften wird man in den Gesundheiten eben so viel echtliebliche, schöne Blüten der Phantasie, des Witzes, der Laune oder des Humors pflegen, dte auch durch der Neuheit süßen Reiz empfehlen., Lesen wir jene alten chronikartigen Turnierbüchcr, in denen außer den Kampfzielen selbst auch die nachfolgenden glänzenden Tafelfreuden geschildert und bei Auszahlung der einzelnen Gange des freude trunkenen Mahles auch selbst die Gespräche und Toasts mit ausgezeichnet sind — welcher bunter, schöner Falbenschmuck, welcher, un srer Zeit fast entflohener, Reiz ist darüber ausgegossen! Durch ihre Anmuth erhielten die Gesundheiten sich bis in die letzten De- cennien des vorigen vielbelobten Jahrhun derts, von Vielen eine goldene, von Andern, vielleicht-mit gleichem Recht, eine eiserne Zeit genannt. Eine heitere Gesundheit brachte oft plötzlich Leben in die Freude und Unter haltung, sie erhob rasch über die Gegenwart, und offenbar ist doch nur die Freude recht tief und mächtig, die sich frei und unabhän gig gemacht hat von den Fesseln der Zeit. So ist es gewiß wünschenswerth, daß wir die Gesundheiten wieder Mode werden lassen, als welches ja nur von u n s abhängt. Denn muß etwa jede neue Mode — und die neueste ist doch meist alt! — aus Paris oder Lon don kommen? Jene poetischen leichten bungen, mit allen poetischen Licenzen und Freiheiten, die man entweder an die Stelle der Gesundheiten gesetzt oder damit verbun den hat, zieren das Gastmahl der Gebildeten und sind deshalb sehr zu empfehlen, daß sie allgemeiner werden. Sie sind eine Erneuer ung der schönen Sitte der Römer und der vollendetem Griechen, in deren geselligen Kreisen, zumal bei Gastmählern, nicht al lein die frischbegränzte Lyra von Gast zu Gast wanderte, daß Jeder durch Gesang die