Volltext Seite (XML)
Amttien und Marokko haben miteinander Frieden geschlossen — einen faulen Frieden für Spanien. Das ohnehin finanziell zerrüttete Land hat für die Spedition nach Melilla etwa 40 Millionen Frank aufwenden müssen und nur die Hälfte davon hat Sultan Muley Hassan zu erstatten sich bereit erklärt. Aber selbst damit sieht es noch windig genug aus; der Sultan will diese Summe erst den Riff- kabylen abpressen und es dürfte einige Zeit vergehen, ehe dies geschieht; ja es ist überhaupt fraglich, ob es dort soviel zu erpressen gibt. In der Nähe von Melilla befindet sich das Grab eines „heiligen Marabuts"; in der Nähe dieses Grabes hatten die Spanier s. Z. den Bau des Forts „Guariach" begonnen; bei weiterem Bau hätten sie die den Mohammedanern heilige Stätte zerstören oder einschließen müssen, und das wollten sich die Riffkabylen nicht ge fallen lassen. Man kann nicht gerade behaupten, daß sie dabei im Unrecht seien. Nicht genug, daß die Spanier überhaupt Punkte ihrer Meeresküste besetzten und ihnen die besten Häfen weggenommen haben, stören sie jetzt auch die früheren Bewohner des Landes in ihren reli giösen Empfindungen. Wer die Geschichte des Moham- medanismus kennt, der weiß, welch' eine mächtige Rolle 'm ihr stets der religiöse Fanattsmus gespielt hat. Indem sich Spanien mit der Erstattung vonnurderHälfte seiner Barauslagen begnügt, bekundet es gewissermaßen seine Schuld an dem Hervorrufen des Streites und diese hat es auch dadurch zugestanden, daß es sich jetzt ver pflichtete, das Grab des Marabuts zu schonen es, mit hohen Mauern zu umgeben und an mohammedanischen Feier tagen Pilgerfahrten dorthin zu gestatten. Somit ist der Ausgangspunkt des Streites nicht im Sinne Spaniens entschieden worden, noch viel weniger hat der Sultan den Spaniern eine Landabtretung zugebilligt, wie sie von den stolzen Granden in Madrid gefordert worden war. Spanien hat nicht nur nichts erreicht, sondern es hat viele Millionen Pesetas und vor allem einen Teil seines Ansehens in Marokko verloren. Für Sagasta ist das aber nicht das einzige Leiden. In den baskischen Provinzen regt sich der Geist des Aufruhrs; Sozialisten und Republikaner sind eifrig an der Arbeit und in den Beamtenkreisen, die dürftig und unregelmäßig bezahlt werden, macht sich eine starke Un zufriedenheit geltend. Dazu kommt, daß in den industrie reicheren Nordostprovinzen die Unzufriedenheit wegen des neuen deutsch-spanischen Handelsvertrages groß ist, weil sich dort die Gewerbetreibenden nicht mehr genügend gegen die deutsche Konkurrenz geschützt glauben. Ver gleichspunkte :nit Italien bieten die spanischen Finanz- schwierigkeiten: in beiden Ländern begegnet man dem rücksichtslosesten, allen Pattiotismus verleugnenden Be mühen der Provinzen, der Städte, der Korporationen, wie der einzelnen Individuen, jede Leistung abzuwälzen auf die anderen, durch List und Lug sich den Pflichten zu entziehen. Jeder Abgeordnete wird von den Wählern für verbunden gehalten, ihre Spezialinteressen zu vertreten. Die Vereinfachung der Verwaltung und Ermäßigung ihrer Kosten, zu welcher in Italien Erispi unbeschränkte Vollmacht auf ein Jahr verlangt hat, ist in Spanien in gewissen Grenzen in den letzten Jahren durchgeführt worden — nicht ohne heftigen Widerstand in Städten und Dörfern und nicht ohne leidenschaftliche Proteste der Generäle, deren hohe Gehälter dadurch beschränkt wor- ! den sind. Es ist eine bedauerliche Fügung, daß die ! Reformen, welche Privatinteressen verletzen, in eine Zeit i des allgemeinen Notstandes fallen, wie es mißlich war, daß die neue Wcinfteuer in Spanien zu einer Zeit ein- ! geführt ward, in welcher Massen von Wein unver käuflich waren, weil Frankreich ihm den Zutritt versagt hatte. Für Spanien trifft so recht das Bibelwort zu: „Wehe dem Lande, dessen König ein Kind ist!" Zwar ist die Königin-Regentin Marie Christine eine ungewöhnlich ver ständige und umsichtige Frau, aber sie steht gänzlich allein, ist eine Fremde und der Argwohn der spanischen Parteien wacht eifersüchtig darüber, daß nicht etwa aus wärtiger Einfluß mitbestimmend in die Geschicke des Landes eingreife. Das Parteiwesen Spaniens ist wo möglich noch unerquicklicher als . . . anderswo und seit der Entthronung Isabellas hat man dort mit einer sehr starken republikanischen Partei zu rechnen, die wohl in freundnachbarlicher Weise von Frankreich unterstützt wird. Ist doch Ruiz Zorilla beständig in Paris und leitet von dort aus die gegen die Monarchie in Spanien gerichteten Zettelungen! Spanien, einst das reichste und mächtigste Land der Welt, dessen Herrscher sagen durste: In seinen Staaten gehe die Sonne nicht unter! — ist heilte so arm und klein, daß eS vor dem halbbarbarischen Raubstaat Marokko die Flagge einziehen mußte. Politische Rundschau. Deutschland. Zur Reise der Kaiserin nach Abbazia wird der ,N. Fr. Pr/ aus Berlin gemeldet: Die deutsche Kaiserin wird mit einem Separat-Hofzuge am 12. d. morgens von Berlin abrcisen und auf der Route über Breslau mit der Nordbahn in Wien eintreffen, von wo aus sie mit der Südbahn den Weg nach Abbazia fort setzen und daselbst am 13. d. um 2 Uhr nachmittags eintreffen wird. Während des Aufenthalts der Kaiserin wird das Schiffsjungenschulschiff „Nloltke" vor der Bucht von Abbazia kreuzen, um jederzeit zur Verfügung der Kaiserin zu sein. Der Steuerausschuß des Reichstages hat seine ! Arbeiten, nachdem er die eigentliche Börsensteuer erledigt ! hat, seit einiger Zeit ganz ausgesetzt und es ist sehr frag lich, ob er mit den andern Bestandteilen der Stempel steuer (Quittungen, Frachtbriefe, Checks) noch vor Ostern fertig wird. Diese Teile müßten alsdann kurzer Hand abgethan werden. Nach Ostern, wenn der Handelsvertrag erledigt ist, wird es nun freilich etwas mehr Raum im Reichstage geben, und man wird erwarten dürfen, daß alsdann eine energischere Thätigkeit in der Verhandlung der Steuervorlagen beginnt. Zum Entwurf eines Gesetzes bett, den Schutz von Brieftauben und den Brieftaubenverkehr im Kriege wurde von Lenzmann der Anttag eingereicht: „Insoweit auf Grund landesgesetzlicher Bestimmungen Sperrzeiten für den Taubenflug bestehen, finden dieselben auf die Reiseflüge von Brieftauben keine Anwendung", — von v. Salisch der Antrag: „Privatpersonen gehörige Militär brieftauben genießen den Schutz diefes Gesetzes erst dann, wenn in ortsüblicher Weise bekannt gemacht worden ist, daß der Züchter seine Tauben der Militärverwaltung zur Verfügung gestellt hat." Entsprechend einer vom Finanzminister bei der Generaldebatte zum Etat gegebenen Anregung hat die Budgetkommisfion des preuß. Abgeordnetenhauses eine gründliche Untersuchung und Klarlegung der gesamten Finanz verhält nisse Preußens beschlossen. Man kann, so wird offiziös geschrieben, diesen Beschluß nur mit Gcnugthmmg bcgrichen. Denn durch diese Dar legung werde an der Hand zweifelsfreien amtlichen Materials der Sachverhalt und die Grundlagen der heutigen Unzulänglichkeit der Einnahmen zur Deckung der Ausgaben klargelegt und ohne Frage die Thatsache, daß ohne erhebliche Einnahmevermehrung das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben dauernd nicht auf recht zu erhalten fei, zweifelsfrei nachgewiesen werden, i Die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten wollen im nächsten sächsischen Landtage den Anttag stellen, sämtliche sächsische Kohlenbergwerke zu verstaatlichen. Irgend welche Aussicht, angenommen zu werden, hat ein derartiger Antrag nicht. — Die säch sischen Hausbesitzer wollen unter der Führung des bekannten Dresdener Baumeisters Hartwieg einen aus Einzelmitgliedem und nicht aus örtlichen Vereinen bestehenden Landesverein gründen. Der früheren Organi sation der sächsischen Hausbesitzer sind durch das sächsische Vereinsgesetz Schwierigkeiten bereitet. Aus Kamerun meldet der Gouverneur Zimmerer vom 6. d.: „Rest der Dahomeyer, 20 Mann mit Ge wehren und Munition, hat sich mir freiwillig gestellt." (Herr Leist hatte bekanntlich den Grundsatz aufgestellt: „Was kommt, wird gehängt!" Ob Herr Zimmerer dieser Parole folgen wird, bleibt abzuwarten.) Frankreich. Aus Paris werden wieder zahlreiche Anarchisten verhaftungen gemeldet. Ein Polizeikommissar, von mehreren Polizeiinspektoren und 40 Polizisten be gleitet, drang in ein Lokal ein, in dem sich der An archist Duprat aushielt. Beim Eintritt der Polizei schrie einre der Anwesenden: „Rette sich, wer kann" und ent floh. Die übrigen Anwesenden, 14 Personen, wurden nach heftiger Gegenwehr verhaftet, ebenso auch die Wirtin des Lokals. Alle vorgefundenen Schriftstücke wurden be schlagnahmt. Die anarchistische Partei in Frankreich umfaßt nach einer Veröffentlichung der Pariser Polizei- Präsektur etwa 8000 Mitglieder, wovon 3000 in Paris und Umgebung sich aufhalten. 1500 französische Mit glieder wohnen in der Schweiz, in Belgien und England. Die Sozialisten der französischen Kammer haben die Aufhebung der Todes st rase beantragt. England. Zwischen Rosebery und den Führern der Unio nisten finden Verhandlungen statt, die den Wieder anschluß der Unionisten an die Liberalen zum Zweck haben. Man glaubt, Rosebery werde den Homeruleplan fallen lassen. Gladstone ist infolge einer Erkältung ge nötigt, das Bett zu hüten. Sein Zustand gibt, wie der Arzt erklärt, keinen Grund zu Befürchtungen. Italien. Die ,Pol. Korr/ meldet Ms Rom, daß bei der Verwerfung der Finanz Vorschläge Sonninos die Kammer bestimmt zur Auflösung kommen soll. Nach Meldungen aus Turin verbrachte Kossuth eine ziemlich unruhige Nacht; am Mittwoch früh war jedoch sein Befinden etwas besser und eine Zunahme der Kräfte bemerkbar. Spanien. In Madrid ist man hocherfreut über die Unterzeich nung des friedlichen Abkommens zwischen Spanien und Marokko. Die ersten Zahlungen der Kriegs entschädigung werden wahrscheinlich 4 bis 5 Millionen betragens während die übrigen viel später und in kleineren Beträgen erfolgen dürften, da die Einnahmen des Sul tans von Marokko nur sehr unsicher sind. Während der Abmessung der neutralen Zone wird der Sultan Truppen nach Melilla schicken, um etwaige bewaffnete Feindselig keiten der Kabylen zu verhindern. Ruhland. Wie erinnerlich, hatte das russische Ministerium des Innern im vorigen Jahre beschlossen, von den in den Fabriken und Werkstätten Rußlands beschäftigten deutschen Arbeitern eine entsprechende Kenntnis der russischen Sprache zu fordem. Zu diesem Behufe mußten sie sich einer Prüfung in der russischen Sprache unterziehen, und denjenigen deutschen Arbeitern, die die Prüfung nicht bestanden oder sich ihr gar nicht unterzogen, wurde ein Jahr Zett gegeben, um ihre Sprachkenntnis zu ergänzen. Diese Frist ist nun zu Der SLaaLsanwatt. 1) Kriminal - Roman von Paul Michaelis.*) 1. Ein wunderschöner Aprilmorgen war über der Stadt aufgegangen. Die Frühlingssonne hatte die Morgen nebel, die sich ihr entgegenballten, siegreich überwunden und lagerten nun glänzend und leuchtend auf den Dächern der hohen Häuser, drang hinab in die breiten Straßen und engen Gassen und spiegelte sich in den zahllosen Fensterscheiben. In den Alleebäumen und den Ge büschen der freien Plätze, die sich bereits mit einem frischen grünen Hauche wie mit einem Schleier bedeckten, regten sich die Vögel und sangen ein jubilierendes Morgcnlied. Und die Arbeiter und die Arbeiterinnen, die durch die Straßen hasteten, um möglichst schnell ihre Arbeitsstelle zu erreichen, schienen von der Heiterkeit des Frühlingsmorgens .gleichfalls angesteckt zu sein und riefen sich fröhliche Worte und Grüße zu. Ueberall war ein neues Leben und Wirken, in der Natur wie im Menschenleben, und alles drängte sich, an dem großen Tagewerke mitzuschaffen, das der Erde aufgettagen ist. In dem Familienzimmer des Staatsanwalts Rettberg ordnete die Magd das Kaffeegeschirr auf dem sauber gedeckten Tische, stellte die große Kanne und den Korb mit den frischen Brötchen in die Mitte und ringsherum die Tassen nach bestimmter Reihenfolge; die große ge blümte mit der Aufschrift „Zum Geburtstag" für den Hausherrn, diese andere, die „Mama" heißt, für die Frau, und diese beiden kleinen für Ema und Wolf- gang. Dann schien sie einen Augenblick zu überlegen, denn da ist noch eine Tasse. Soll sie dieselbe aufstellen *) Unberechtigter Nachdruck wird verfolgt. oder wieder mit hinausnehmen. „Er kommt doch nicht," murmelte sie vor sich hin. Dann aber besann sie sich eines andern und stellte sie mit in die Reihe, woraus sie noch einmal ihr Werk wohlgefällig überschaute. Erna und Wofgang, jene etwa neun, dieser els Jahre alt, machten sich an ihren kleinen Tischen zu schaffen, überlasen schnell noch einmal ihre Aufgabe, memo rierten mit halblauter Stimme einen Liedervers, den sie auswendig zu lernen hatten und packten dann eilfertig ihre Schulbücher in den großen Tornister, denn sie ! mußten früh zur Schule und hatten eS in dieser Morgen- ' stunde vor dem Kaffee immer sehr eilig. Das hinderte indessen die kleine Erna, die für alles offene Augen und Ohren hatte, nicht, zu benierken, wie das Dienst mädchen einen Augenblick bei dem Tassenverteilen gezögert hatte und sie begriff auch sofort den Grund dafür. „Du, Minna," fragte sie geheimnisvoll, „Wilhelm kommt wohl heute wieder nicht „Ach, was weiß ich!" erwiderte Minna kurz. „Damm brauchst du dich nicht zu kümmern." Damit ging sie zur Thür hinaus. „Siehst du, Wolfgang," sagte jetzt die Kleine zum Bmder, „er wird wahrscheinlich wieder bis zum Mittag schlafen. Vorgestern lag er auch noch im Bett, als ich Ms der Schule kam." „Wenn ich dürfte, ich schliefe noch viel länger," erwiderte Wolfgang, der ein Bedürfnis fühlte, den Bruder zu verteidigen und der als neugebackener Quar taner schon 'von der schönen Studentenzeit träumte. „Psui, wie du nur so waS sagen kannst," bemerkte Erna altklug, „der Papa hat doch schon an dem einen Kummer genug." Aber Wolfgang hatte für diese Erwägung keine Ohren. „Wenn ich nur erst einmal Student bin, dann sollst du mal sehen," sagte er stolz. In diesem Augenblick trat die Mutter herein, eine zierliche kleine Frau mit sanften Zügen und guten freund lichen Augen, um die es indessen wie eine beständige Wolke von Kummer und Sorgen zu liegen schien. Die Kinder- liefen ihr entgegen und küßten sie. „Nun, seid ihr auch mit den Schularbeiten fertig?" fragte sie güüg, und als beide mit einem stolzen „Ja, Mama" antworteten und sich um den Kaffeetisch dräng ten, wehrte sie ab: „Ihr wartet! Der Papa wird gleich kommen, und ihr wißt doch, daß ihr nicht vorher anfangen sollt." Worauf dann die beiden sich beschieden, doch mit sichtlicher Ungeduld, und begehrliche Blicke nach den schönduftenden Brötchen warfen. Der Staatsanwalt, der jetzt hereinkam, war ein großer stattlicher Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, aber hager und von der Arbeit etwas gebeugt. Seine Gesichtszüge hatten etwas Strenges, fast Finsteres, und auch in seinem Blicke war eine gewisse Schärfe und Härte. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch den langen und dichten Schnurrbart, der das Gesicht energisch in zwei Hälften teilte; er war ebenso wie das ur sprünglich dunkle Haupthaar bereits von einem weiß lichen Schimmer bedeck. Der ganze Mann erschien als die Verkörperung von stolzem Pflichtbewußtsein, aber auch von unbeugsamer Härte; und es ließ sich schwer unterscheiden, wie viel von diesen Eigenschaften ihm ursprünglich eigen war und wie viel ihm erst durch seinen Beruf vermittelt worden. Die Kinder begrüßten ihn gleichfalls freundlich, doch mehr mit Respekt als mit herzlicher Zuneigung. Wäh rend er beide küßte, schien sich sein Blick aufzuhellen und eS war darin etwas wie Stolz und Freude zu erkennen. Doch trübte sich derselbe sogleich wieder, als er im Zimmer umherscch und bemerkte, daß der fünfte Platz leer sei.