Volltext Seite (XML)
Die „kommenden Eventualitäten". Als der Reichskanzler Graf Caprivi am 21. d. zum Stapellauf des „Prinzregent Luitpold" in Danzig war, hat er in einer Tischrede von „kommenden Eventuali täten" und von einem „Zusammenschließen der europäi schen Staaten" gesprochen. Diese Worte haben in der W-esse die verschiedenartigste Auslegung gefunden, die Phantasien der Zeitungsberichterstatter waren unermüdlich in Auslegungen und Unterschiebungen. Ziemlich all gemein war die Ansicht, daß diese Aeußerung gegen den immer mehr um sich greifenden Sozialismus oder richtiger gegen die Sozialdemokratie gemünzt gewesen sei; andrer seits aber sagte man, die europäischen Großmächte seien mit ihren Kriegsrüstungen an der Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt und fühlten nun das Be dürfnis nach Erleichterung, die sich am „einfachsten" durch einen allgemeinen europäischen Friedensbund her beiführen lasse. Es wäre nicht geistreich, wenn man einfache Worte einfach deuten wollte. Tischreden haben zudem häufig das Schicksal, durch die Presse unvollständig oder un richtig wiedergegeben zu werden. Es läßt sich nicht an nehmen, daß der Kanzler in Danzig irgend eine neue Enthüllung habe machen wollen, sondern er hat einfach das mit andern Worten wiederholt, was er in bezug auf die voraussichtlichen Wirkungen des russischen Handelsvertrages schon offiziell im Reichstage ausge sprochen hatte. Bei der ersten Lesung des Handelsver trages mit Rußland hat Graf Caprivi u. a. hervorge hoben, daß Deutschland bei den Handelsverträgen eine fahrende Rolle gespielt habe. Damit könnten wir als Natton zufrieden sein. Denn, fuhr er fort, was wollen wir? Nach kriegerischem Ruhm trachten wir nicht. Wir wollen den Ruhm haben, Külturaufgaben zu lösen, die Kultur Europas zu fördern, das friedliche Zusammenleben der Völker zu erleichtern, die europäischen Kräfte zusammen zuschließen und einen Zusammenschluß vorzubcreiten für spätere Zeiten, wenn cs einmal nötig werden sollte, im Interesse europäischer wirtschaftlicher Politik einen größeren Komplex von Staaten gemeinsam zu um fassen. Diesem Ziele sind wir nachgegangen. In der Wiedergabe deS Trinkspruchs des Grafen Caprivi ist das Wort „wirtschaftlich" anscheinend durch ein Ver sehen weggeblieben, und aus diesem Versehen hat die Auslegungskunst gewiegter Korrespondenten eine bevor stehende Erneuerung der „heiligen Allianz" ankündigen zu dürfen geglaubt. Die Erwägungen, die hier in Frage kommen, sind seit einiger Zeit auch von anderer Seite Gegenstand der Erörterung gewesen. Als besonders geeignet, den Ge danken des Reichskanzlers klarzustellen, erscheint eine Stelle des Vortrages, den Abgeordneter Brömel bereits am 10. Februar in Stettin ebenfalls über den russischen Vertrag gehalten hat. Es heißt darin: „Wir müssen Uns an den Gedanken gewöhnen, daß in dem großen gewaltigen Weltverkehr Europa auch nur ein Glied ist und daß, wenn es mit der jenseits des Ozeans immer gewaltiger anwachsenden Verkehrsmacht, der Kultur Amerkas den Wettkampf bestehen will, es unter den eigenen Staaten die handelspolitischen Zwistigkeiten beseitigen und sich, so viel nur irgend möglich zu gemeinsamem wirtschaftlichen Kampfe vereinen muß. Dgs ist kein Zukunftsbild, ent worfen von einem Theoremer. Ich kann es aus eigenem Wissen, aus Besprechungen, die ich hatte, bekunden, daß diese Gedanken auch gerade bei der Reichsregierung be stimmend gewesen sind, bei ihr ganz wesentlich mitgewirkt haben, dem verhängnisvollen Zustande allgemeiner Han- delsfeindseligkeit vorzubeugen und jene friedliche Handels politik einzuleiten, von der die 1892er Verträge den Anfang, der Vertrag mit Rußland den wichtigen Schluß- stein bildet." Das sind selbstverständlich Blicke in eine nicht ganz nahe Zukunft, die gewiß ihre Berechtigung und Bedeutung haben, die aber zur Zeit zurückstehen müssen hinter der Frage nach den wirtschaftlichen Wir kungen, die der russische Vertrag zunächst für die Be teiligten haben wird. Plan muß berücksichtigen, daß nicht nur durch die Mac Kinley-Bill, sondern mehr noch durch die rapiden Fortschritte, die die nordamerikanische Industrie während der letzten beiden Jahrzehnte gemacht hat, ganz Amerika in absehbarer Zeit vollständig aufhören wird, Absatz markt für europäische Staaten zu sein. Deutschland hat Millionen aufgewendet, um in Chicago würdig vertreten zn sein und über seine Ausstellung daselbst herrscht überall nur eine Stimme des vollsten Lobes. Aber — gestehen wir cs ehrlich.' — die erhofften materiellen Vor teile sind sehr geringe geblieben, die Bestellungen auf deutsche Waren sind im ganzen höchst spärlich eingelaufen. Dagegen ist der Getreidereichtum Nordamerikas und Argentiniens ein drohendes Schreckgespenst für unsere heimische Landwirtschaft. Zerfleischen sich nun die euro päischen Staaten unter sich noch durch Zoll- und Taris- kriege, so kommen wir aus den industriellen und Han delskrisen gar nicht mehr heraus. Aus diesem Grunde ist ein enges wirtschaftliches Zusammenschließen der europäischen Staaten, wie es durch die neue deutsche Zollpolitik angebahnt ist, zur zwingenden Notwendigkeit geworden und nur auf diesen Zusammen schluß, nicht etwa auf die Erneuerung der berüchtigten ! „heiligen Allianz" kann der Reichskanzler in feiner j Danziger Tischrede hingewiesen haben. I Politische Kund scharr. Deutschland. Das Kaiserpaar empfing in Abbazia am ! Donnerstag den Besuch des Kaisers Franz Joseph. Kaiser Wilhelm war dem hohen Gaste bis Mattuglie entgegengefahren. Es fand gemeinsames Frühstück, eine Spazierfahrt auf dem Meere und gegen Abend ein Diner in der „Villa Amelia" statt. Abends um 9 Uhr reiste dann Kaiser Franz Joseph nach Wien zurück. ! Der Bundes rat wird wahrscheinlich schon am ! Donnerstag, den 5. April, also gleichzeitig mit dem ! Reichstag, seine nächste Plenarsitzung abhalten. Die > von Berlin abwesenden Mitglieder des Bundesrats werden sämtlich in der ersten Hälfte der nächsten Woche ! zurückerwartet. Der Ausschuß für Justtzwesen wird sich in allernächster Zeit mit der Beratung des Gesetzentwurfs ! über Abänderung der Strafprozeßordnung und der Ge- ! richtsverfassung beschäftigen. ! i Die gemischte Deputation zur Beratung über die ! Stellung der städtischen Behörden Berlins zur Gewerbe- ! Ausstellung 1896 .beschloß einstimmig, den Magistrat zu . j ersuchen, bei den zuständigen Reichs- und Staatsbehörden > anzufragen, ob dieselben bereit seien, eine in Berlin zu ' veranstaltende deutsch-nationale Gewerbe- Ausstellung in Gemeinschaft mit den städtischen Behörden zu unterstützen. i Unter dem Vorsitz des Oberpräsidenten Goßler findet in Danzig eine Konferenz wegen des Danziger Freihafen-Projektes statt. An der .Konferenz nehmen Vertreter der Regierung, der städtischen Be- ' Hörden und Kommissare aus dem Finanz-, Kriegs- und Arbeitsministerium, sowie aus dem Reichs-Marineamt teil. Dn Konferenz ging eine Besichtigung des Terrains in . Neufahrwasser durch die Vertreter der Behörden, der Kaufmannschaft und die Dezernenten der beteiligten ! Zentral-Inftanzen voraus. . ! Zum Bau von A r b e i t e r w o h n u n g e n hat die i > Jnvaliditäts- und Altersversicherungs-Anstalt Schleswig Holstein in Kiel im ganzen einen Betrag von 312 800 Mk. dargeliehen und zwar ist diese Summe an diesbezügliche Vereine zur Errichtung von Arbeiterwohnungen in Gaarden, Kiel, Neumünster, Altona, Scherrebek gegen mäßige Zinsen überlassen. Die Bestrebungen auf Errichtung von Arbeiter- Wohnungen haben in Schleswig-Holstein unfehlbar durch solche Darlehn an Boden gewonnen. Oesterreich-Ungarn. Die Begrüßung des deutschen Kaiserpaares durch den Kaiser Franz Josephin Abbazia wird von gut unterrichteter Seite als ein rein familiärer A k t bezeichnet, dessen Veranlassung vor aller Welt klar zu Tage liege. Das Wegfallen jeglichen Zeremoniells, die Dauer der Zusammenkunft und das Fernbleiben der leitenden Staatsmänner drückten ebenfalls den intimen Charakter der Begegnung aus. Eine politische Bedeutung komme der Zusammenkunft lediglich insofern zu, als jede Monarchenbegegnung eine solche besitzt und dieser Tag bekundet die wärmste Freundschaft zwischen den ver bündeten Herrschern. Am 24. März, als an dem eigentlichen Tage des hundertjährigen K osciuszko-Jubiläums, wurde auf dem Hauptringe in Krakau an der Stelle, wo Kosciuszko seinen Schwur geleistet, dessen einstweiliges Denkmal in Anwesenheit von Vertretern der §kra- kauer Körperschaften und einer großen Menschenmenge feierlichst enthüllt und vor dem Denkmal Lorbeerffänze niedergelegt. England. Der Beschluß der englischen Staatswerkstätten für Armee und Marine, in ihren Arbeitsbetrieben den Achtstundentag einzuführen, begegnet in den Kreisen der privaten Arbeitsgeber Englands dem schwersten Tadel, da sie befürchten, daß infolgedessen ihre eigenen Arbeiter dasselbe und noch ein mehreres fordern werden. Der Verband der Schiffbauer und Marinetechniker hat daher beschlossen, gegen die Ein führung bei der Regierung unter dem Hinweise vorstellig zu werden, daß jede Verkürzung der jetzigen Arbeitszeit der Lage und den Zukunftsaussichten des britischen Ge werbefleißes, zumal angesichts der überhandnehmenden Auslandskonkurrenz verhängnisvoll werden dürfte. Belgien. Das belgische Amtsblatt veröffentlichte am Mittwoch die königlichen Erlasse, durch die die Entlas s u ngs - ge suche des Ministerpräsidenten und Finanzministers Beernaert und des Justizministers Lejeune ange nommen und die Deputierten Desmet Denayer zum Finanzminister, Begerem zum Justizminister ernannt werden. Damit ist jedoch die Kabinettschwierigkeit für Belgien noch immer nicht völlig gehoben, da mit dem früheren Ministerpräsidenten Beernaert ein erfahrener und ungemein thatkrüftigcr Staatsmann geschieden ist, für den wohl kaum so leicht ein Ersatz gefunden werden dürfte. Italien. In Turin hat am Mittwoch die Leichenfeier für Koss uth stattgefunden; Studenten hielten am Sarge die Ehrenwache, ein protestantischer Prediger die Trauerrede. Den Leichenzug eröffnete ein Zug Karabinieri mit der städtischen Kapelle, die Schnüre hielten der Bürgermeister von Turin, General Türr, der Vize- Bürgermeister von Pest, Markus, und der Abgeordnete Nohoncyn als Vertreter des ungarischen Reichstags. Am Bahnhof angelangt, wurde der Sarg in dem daselbst errichteten Trauerzelt aufgestellt. Der Bürgermeister von Turin übergab mil einer Rede die Reiche dem Vize- Bürgermeister von Budapest, der dieselbe mit einer Ent- gegnungsrede eutgegenuahm. Nach Beendigung dieser Zeremonie ging ein Sonderzug mit den parlamentarischen, stüdttschcn und sonstigen Abordnungen nach Budapest ab, dem einige Niinuten später ein zweiter Sonderzug mit der Leiche, dem Sohn und den Verwandten Kossuths, sowie den Vertretern der Presse folgte. Rustland. Eine Petersburger Depesche der ,Neuen Fr. Presse' Der StcralsLrnwLE. 10s iFornelMttsi. > „Verhaften?" ruft Kramer voll schmerzlichsten Em pfindens. „O mein Gott, als Mörder verhaftet!" Und er bedeckt sein Gesicht mit den Händen und sein Körper ! zuckt krampfhaft zusammen. „Sie dürten es nicht zu schlimm nehmen," fährt der Staatsanwalt, der in seinem Innern vielleicht noch furchtbarere Schmerzen fühlt, gütig fort. „Verlassen Sie sich daraus, sind Sie unschuldig, so werde ich selbst i der erste sein, der Sie ircisprichi. Und was an mir liegt, soll geschehen, daß die Wahrheit an den Tag i kommt." Dann setzte er hinzu: „Ermannen Sie sich! Es soll i kein Aufsehen entstehen. Gehen ^ie mit dem Polizei- i kommissar. Wenn Sic versprechen, nicht entfliehen zu wollen, wird er allein Sie führen. Auch die anderen S Herren bitte ich, vorläufig zu schweigen." § „Ich danke Ihnen," sagte Kramer weich. „Ich werde willig folgen!" Und von dem Polizeikommissar geleitet, macht er sich auf den Weg zum Untersuchungs gefängnis. Der Staatsanwalt trifft die nötigen Anordnungen. Dann begibt auch er sich von der Stätte des Todes hinweg. Es ist spat geworden, die Frühlingssonne steht schon hoch im Mittag und er hat noch viel zu thun, ehe sie sinkt. Er hat einen langen Weg zu gehen. Aber er wird nicht abwcichen, nicht zur Rechten, noch zur Linken, sondern seine Pflicht erfüllen und kostete es auch alles Glück seines Lebens. 7. Der Staatsanwalt ging nicht sogleich zu seinem Bürcau zurück, sondern trat in das Restaurant „Zum Rebstock" ein, das wenige Häuser weiter hinab lag. Er kannte den Wirt, denn er hatte früher dann und wann, als derselbe noch an einer andern Stelle sein Restaurant hatte, bei ihni verkehrt, obgleich nur selten, denn der Staatsanwalt war auf sein Diensteinkommen angewiesen und wenn man Kinder hat, muß man sparsam sein, um auszukvmmen. Der Staatsanwalt trat in den geräumigen Hausflur, zu dem mau zu nächst gelaugt, weun man das Haus betritt. In der Ecke am Fenster steht ein Schränkchen, das wohl zum Aufbewahren von Utensilien dient, die in der Wirtschaft gebraucht werden. Davor stand ein junger Mann, mit einer blauen Schürze bekleidet, und putzte eifrig Messer. Er hatte sich, als er den Staatsanwalt kommen hörte, flüchtig umgcseheu, wendete sich aber sofort wieder der Arbeit zu und schien so eifrig beschäftigt, daß er den Gast nicht beachtete. Auch als jetzt der Staatsanwalt fragte, ob Herr Ehrecke, wie der Wirt heißt, zu sprechen sei, wendete er sich nicht um. Der Staatsanwalt mußte seine Frage wiederholen, um eine Antwort zu erhalten. Jetzt konnte der Hausknecht nicht länger ausweichen und kehrte sich nach ihm um. Es war ein stattlicher Bursche, dem man es ansah, daß er beim Militär ge dient hatte, mit einem listigen Gesicht und unruhigen Augen. Es war, als scheute er sich, dem Staatsanwalt ins Gesicht zu sehen. Er beeilte sich deshalb auch, mit der Bemerkung zu verschwinden, den Wirt rufen zu wollen. Der Wirt erschien mit tiefen Bücklingen und lud den Staatsanwalt ein, doch näher zu treten. Der Staats anwalt lehnte indessen ab. „Ich habe nicht Zeit," sagte er. „Aber, weshalb ich komme: bei Ihnen ist gestern abend eine Kneiperei ^gewesen?" „Ei freilich, Herr Staatsanwalt," erwiderte der Wirr geschmeichelt, „die Korps hatten ja Ferienkueipe. Auch eine Masse alte Herren waren da. Na, ich sage Ihnen, es ging dabei hoch her." „Es scheint etwas sehr hoch hergegangen zu sein," sagte der Staatsanwalt ärgerlich. „Wie lange hat es doch gedauert?" „Na," erwiderte der Wirt, „vier Uhr wird's wohl geworden sein." „Länger nicht?" fragte der andere. „Ich denke, es hat bis in den frühen Morgen gedauert." „Nein, Herr Staatsanwalt," wehrte jener ab, „das ist Verleumdung. Die Allerletzten sind gegen vier Uhr gegangen." „Kaun ich wohl das Zimmer einmal sehen," fragte der Staatsanwalt, „in dem die Kneipe abgehatten wor den ist?" „Ei gewiß," erwiderte der Wirt, „es ist hier gleich auf der anderen Seite. Sehen Sie, ein besonderer Ein gang vom Korridor aus, daß man nicht erst durch das Gastzimmer braucht." Die beiden traten ein. Es war ein hoher und großer Raum, kunstvoll dekoriert, mit gemalter Decke und schönem Kronleuchter. „Was ich sagen wollte," suhr der Staatsanwalt dann solch „mein Sohn war auch hier?" „Ja freilich, Herr Wilhelm war auch da," sagte der Wirt schmunzelnd; „der wird nun auch schon groß. Ja, wie die Zeit vergeht! Und was für ein schmucker Herr das geworden ist!" „Er war Wohl lange hier?" „Er ist wahrscheinlich ein bißchen spät nach Hause gekommen?" fragte der Wirt mit vertraulichem Augen-