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19 „In der freien Loyalität meines Gewissens und um des Friedens meiner Seele willen, glaube ich Ew. Eminenz erklären zu müssen, daß ich nicht mehr zur römischen Geistlichkeit und Kirche gehöre." — „Wir wissen auch," hieß es hierzu im Otirötisn lUnyais, „daß sein Bei spiel schon eine gute Zahl priesterlicher Gewissen bedenklich gemacht hat, und daß ihm bald andere stolze Verbannte Nachfolgen werden, denn wie er es selbst gesagt hat: „In unserer modernen Zeit schließen sich die Wege nicht mehr, die von der Autorität zur Freiheit führen." Gleichzeitig erschien der Abdruck der Austrittserklärung des Abbo Albin Vidalot, in der u. a. zu lesen ist: „Zehn Amtsjahre haben genügt, alle Illusionen und alle Hoffnungen meiner klerikalen Jugend zu zerstören ... In der römischen Kirche haben weltliche Ansprüche die göttliche Aufgabe zurückgedrängt ... Ich ersticke in dieser Kirche, welche nichts ist als Andachtsübung und Formelwesen." Die Seele dieser ganzen, hoch bedeutsamen Bewegung aber ist der schon erwähnte begeisterte Abb« Bourrier geworden, der auch die Redaktion des „Otträtwn IHanvais" übernommen hat. Im Jahre 1875 vom Kardinal Place in der Kathedrale zu Marseille zum katholischen Priester geweiht, that er sich hervor durch sein tadelloses Leben und den glühenden Eifer, mit dem er sich besonders der katholischen Vereinigungen annahm . . „Den Ruhm meiner Kirche mit Gottes Ruhm verwechselnd, habe ich diesen Ruhm überall gesucht, wo ich ihn zu finden glaubte", erklärt er selber. Aufsteigende Ziveifel führten den Marseiller Abb^ zur Lektüre des Evangeliums. „Ich schlug es auf, dies Evangelium. Die römische Kirche hatte mich gelehrt, es zu verehren als ein göttliches Buch und so göttlich, daß der schlichte menschliche Verstand sein Geheimnis nicht durchdringen kann. „Und ich, ich habe geglaubt, daß dieses Buch nicht geschrieben sei allein für die Päpste, die Orakel spenden. Ain Eingang jeder dieser Schriften habe ich gesehen, daß sie an Menschen adressiert waren, an Sünder wie mich, an Unwissende wie mich, an Juden und Heiden, an freie Menschen und Sklaven. „Und ich habe mir gesagt, daß, wenn die Christen der ersten Jahrhunderte hier das Licht und den Weg gefunden haben, auch ich meinerseits hier den Frieden finden könnte, nach dem meine geängstigte Seele dürstete. „Da habe ich dieses Evangelium geöffnet und wieder und wieder gelesen, wie vielmall Ich habe es noch ein Mal geöffnet, aber dies Mal ohne Parteinahme, ohne Theologie, ohne Vorurteil mit der Demut eines kleinen Kindes, welches seinen Vater bittet, es zu unterrichten. „Und unter vielen Worten, die für mich eine Offenbarung waren, war es eins, welches die Leuchte meines Heils wurde, dieses: „„Ein einziger Mittler zwischen Gott und den Menschen: Jesus Christus, — ein einziger Heiland — kein anderer Name, der „den Menschen gegeben wäre, um selig zu werden, als der Name Christi." „O welches Licht und welche Kraft an dem Tage, wo ich dies Wort be- griff! Zwischen dem himmlischen Vater und mir sah ich nur noch eine einzige Mittelsperson: Jesus Christus. »Jesus Christus allein, uin zu beten. Jesus Christus allein, um sich zum Himmel zu erheben: Jesus Christus allein, um den Frieden herabsteigen zu lassen; Jesus Christus allein als Retter. „Und nun kein Priester mehr, keine Messen, keine verdienstlichen Werke, kein Ablaß, keine Reliquien, keine Skapuliere, keine Rosenkränze, keine wun derbaren Jungfrauen, kein heiliger Antonius von Padua ... ja, auch nicht mehr das heilige Herz. 2