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310 Leiden, damit ihr selig werdet wie ich. Hat Jesus denn jemals gelitten? Das wäre ja ein Beweis gewesen, daß er nicht das Rechte that! Er that aber das Rechte, und deshalb leidete er nicht, sondern die Vorstellung der Anderen ging dahin: das, was er von seinen Quälern zu erdulden hatte, mässe ihn leiden lassen. Hat er aber nicht ausdrücklich ge sagt: „Weinet nicht über mich, sondern über euch und eure Kinder?" Jesus war stets resigniert zufrieden, war stets in Ruhe und glückseliger Gelassenheit ergeben in das, was ihm Gott sandte, betete stets: „Herr, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe." Und ebenso irrig faßt man das Wort auf: „Habt nicht lieb die Welt und was in der Welt ist, sondern trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, dann wird euch alles andre zufallen." Dies heißt doch ja nicht etwa: Verachtet alles Weltliche, damit euch das Gött liche zufalle!? Wer das so auffaßt, und in diesem Sinne glaubt die Welt verachten zu müssen, in die ihn Gott gesetzt hat, der irrt gewaltig und übersieht, was die Schrift unmittel bar zum besseren Verständnis hinzufügt, nämlich die Worte „sondern trachtet am ersten nach dem Reich (Willen) Gottes u. s. w." In diesem Zusammenhänge besagt dies Wort: habt die Welt nicht so lieb, daß ihr darüber das Trachten nach dem Willen resp. nach der Erkenntnis des Willens Gottes und den göttlichen Früchten vergeßt, sondern trachtet zuerst hiernach, dann wird euch das Uebrige, das Glück, das ihr in der Welt sucht, von selbst zufallen. Aber es heißt nicht: verachtet die Welt, das große Werk Gottes, entsprossen seiner huld reichen Liebe. In der That, das Streben nach dem Reiche Gottes, nach der göttlichen Glückseligkeit muß ein ernstes, aufrichtiges, gewaltiges sein, wenn die rechte Erkenntnis und die Liebe zu Gott erwachen und damit alles Andre erblühen soll; das Streben nach den göttlichen Früchten muß so ge waltig sein, daß alles Andere daneben nebensächlich erscheint