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Der Handelsverlras wtt Rußland beherrscht gegenwärtig das öffentliche Interesse vollständig. Was für ein politisches Blatt immer man auch zur Hand nehmen mag, — stets wird man spaltenlange Artikel finden, die sich über den Vertrag oder Einzelheiten des selben äußern.» Dabei ist in Betracht zu ziehen, daß erstens««! offiziell noch gar nicht bekannt gegeben worden ist, ans wie lange der Vertrag abgeschlossen werden soll und zweitens auch die Angaben darüber noch vollständig «angeln, welche Gegenzugeständniffe die Vertreter des Reiches haben machen müssen, um verhältnismäßig so günstige Bedingungen seitens der russischen Unterhändler zu erzielen, wie sie der im,Reichs« izeiger' veröffentlichte Tarif aufweist. In bezug auf lestere beiden Punkte muß man sich einstweilen an nichtamtliche Mitteilungen halten, denen zufolge der Vertrag auf zehn Jahre ab geschloffen ist und das hauptsächlichste Zugeständnis deutscherseits im Wegfall dec differentiellen Behandlung des russischen Roggens und Weizens besteht. In der liberalen Presse wird neben der Aufzählung der Vorteile, die der deutschen Industrie erwachsen, mit fast noch größerem Nachdruck der politischen Bedeutung des Vertrages gedacht, dessen Umwertung möglicherweise selbst den Krieg zur Folge haben werde. Die ,National- Zeitung' schreibt in diesem Sinne: „Mindestens ebenso groß, wie die wirtschaftliche, ist die politische Bedeutung des Vertrages: Zum ersten Male ist es, und zwar, wie authentisch bekannt wird, durch den persönlichen Entschluß des Zaren, möglich geworden, einen Handels vertrag zwischen Deutschland und Rußland abzuschließen, somit den Anlaß zu gegenseitiger Erbitterung, den ein- - fettige Zoll - Erhöhungen so oft geliefert, für ein Jahr zehnt auszuschließen. Wer möchte leugnen, daß dies in der heutigen Lage Europas bedeutungsvoll ist? Und da will man — die einen aus frevelhafter parteipolitischer Berechnung, die anderen aus Zwang gegenüber irre geleiteten Wählern — diesen Vertrag verwerfen? Es kann keinen, Zweifel unterliegen, daß die Antwort auf einen derartigen, für die wirtschaftliche', wie für die politischen Interessen Deutschlands gefährlichen Beschluß des Reichstages die sofortige Auflösung desselben und die Einsetzung der gesamten berechtigten Autorität der Regierung gegen jeden Abgeordneten sein müßte, der gegen den Vertrag gestimmt hätte/ Aus parlamentarischen Kreisen wird der ,Tgl. Rdsch.' geschrieben, daß dort naturgemäß der veröffentlichte Zoll tarif den Hauptgegenstand des Gesprächs bilde, zumal es immer augenscheinlicher wird, daß das Schicksal des russischen Handelsvertrages auch das Schicksal des jetzigen Reichstags bestimmen wird. Die Regierung macht kein Hehl daraus, daß sie der Annahme oder Ablehnung des Vertrages einen über die Handelsinteressen hinaus- -ehenden politischen Wert zuspricht. Darin unterscheidet sich der neue Kurs vom alten: Fürst Bismarck hat von einer derartigen Verquickung nichts wissen wollen. Die Stimmenberechnungen, die jetzt mit allem Eiser angestellt werden, sind vorerst noch sehr trügerisch, da die soge nannten imperativen Mandate bei diesem Vertrage ihre Probe zu bestehen haben und ein Herumdrücken ausge schlossen erscheint. Daß der Bund der Landwirte ein- knken werde, glaubt man auch nach den Vorgängen der letzten Tage nicht. Dann ist aber auf ein Durchgehen des Vertrages kaum zu rechnen. Man ist insgemein der Ansicht, daß sich schon vor Beginn der Verhandlungen im Reichstage ein abgeschlossenes Bild der Abstimmung ergeben wird. Die Regierung wird voraussichtlich mit schwerem Geschütz vorfahren; aber ein Umschwung dürfte durch die Debatten kaum herbeigeführt werden. i Anders beurteilt ein Parlamentarier in der ,Schles. Ztg.' die Lage: „Die Annahme des deutsch-russischen Ha delsvertrageS darf nach Lage der Di ge als sicher angesehen werden. Allerdi gs ist wahrscheinlich, daß die Majorität für den Vertrag eine noch erheblich geringere fein wird, als bei den „kleinen" Handelsverträgen. Die Mehrheit des ausschlaggebende , Zentrums wird jedoch — das kann als durchaus zweifellos angesehen werden — ihre Stimmen zu Gunsten des Vertrages in die Wagefchale werfen. Hierfür kommt nach der in Zentrums kreisen herrschenden Stimmung auch die Erwägung in Be tracht, daß eine Ablehnung des Vertrages den Rücktritt des Reichskanzlers oder die Auflösung des Reichstages zur Folge haben würde, was die Politiker des Zentrums unter allen Umständen vermeiden wollen." Bei einem Teile dieser Partei spielt auch die Sorge, daß Fürst Bismarck auf den Gang unserer Politik Einfluß gewinnen könnte, eine gewisse Rolle und jedenfalls eine g ößere Rolle, als dies äußerlich scheint. Die konservative und wahrscheinlich auch die Mehrheit der Reichs-Partei wer den aus bekannten Gründen in ihrem Widerstande auch gegen den deutsch-russischen Handelsvertrag beharren. „An gesichts des zwar langsamen, aber doch immer fühlbarer werdenden Rückganges der deutschen Landwirtschaft be steht auf dieser Seite keine Neigung, die Verantwor tung für eine weitere Verschärfung dieser Lage zu über nehmen." Die Entscheidung des Reichstages dürfte in etwa vier Wochen fallen. Politische Kund schort. Deutschland. Der Kaiser feierte am Freitag (9. d.) im intimsten militärischen Kreise sein eigentliches Militär jubiläum. Datiert das Leutnantspatent auch vom Geburtstage, dem 27. Januar, so trat der Kaiser that- sächlich vor 25 Jahren erst am 9. Februar in sein Regi ment ein. Mit Genehmigung des Kaisers hat der Prinz Friedrich Leopold das Protektorat über die drei altpreußischen Großlogen: „Die große National-Mutter-Loge zu den drei Weltkugeln", „die große Landes-Loge der Freimaurer von Deutschland" und „die große Loge Royal-Dork zur Freundschaft" übernommen. Die städtischen Behörden von Berlin beabsichtigen, den russischen Delegierten, die bei dem Ab schluß des Handelsvertrages thätig gewesen sind, ein Fest zu geben. D och ist Endgültiges darüber noch nicht bestimmt worden. Der deutsch-russische Zolltarif gilt nur für Rußland mit Ausschluß von Finnland, das einen vielfach niedrigeren Zolltarif als das übrige Ruß land hat. Dem Vernehmen nach sollen diese niedrigen Sätze auf 5 Jahre gebunden werden und alsdann all mähliche Erhöhungen erfahren, bis sie dem russischen Tarife gleichstehen. — Wie ferner verlautet, enthält der noch nicht veröffentlichte Text des Handelsvertrages noch wesentliche Zugeständnisse im Interesse des Handels der östlichen Provinzen. Der Bund der Landwirte hält seine dies jährige Generalversammlung am 17. Februar in Berlin ab. Es ist damit wahrscheinlich eine Massenkundgebung gegen den russischen Handelsvertrag verbunden. — Dagegen hat sich ein Komitee von etwa 20V namhaften Industriellen aus allen Teilen Deutschlands gebildet, das beabsichtigt, in nächster Zeit eine Versammlung von Vertretern der gesamten deutschen Industrie und Gewerbethätigkeit nach Berlin zu berufen, um zu dem russischen Handelsvertrags im zustimmen - den Sinne Stellung zu nehmen. Die Mitteilungen über ein bereits erzieltes Ergebnis der Verhandlungen wegen Abgrenzung des Hinter landes von Kamerun sind nach der,Nordd. Nllg. Ztg.' unzutreffend. Bis jetzt ist es zu ei,em formellen Abschluß nicht gekommen, und bis zu diesem halten sich die beiderseitigen Bevollmächtigten zu Stillschweigen ver pflichtet. Es sei zwar ein Einverständnis über die Hauptpunkte erzielt worden. Es sind jedoch zahl reiche Einzelfragen übrig geblieben, zu deren Festsetzung noch eine kurze Prüfung des vorhandenen Materials er forderlich ist. Bis dahin kann von dem Abschluß einer Vereinbarung keine Rede sein. Die durch die letzte Gewerbemduungsnovelle ange ordnete Sonntagsruhe für Industrie und Handwerk Wird voraussichtlich am 1. Jc nuar 1895 in Kraft treten. Wie im Reichstag verlautete, unterzieht die Regierung die Weinsteuer einer gänzlichen Umarbeitung; eS soll eine Flaschenwein-Steuer eintreten. Der Gesetzentwurf über die Aufhebung des Identitätsnachweises für Roggen, Weizen, Gerste und Hafer ist bereits ausgearbeitet. Es sollen sollen bei der Ausfuhr Zollquittungen ausgestellt werden, die bei der Einfuhr derselben Fruchtgattungen als Zoll in Zahlung gegeben werden können. Bei der Beratung des Etats des Kultusministeriums im Preuß. Abgeordnetenhause wird, wie verlautet, auch die Frage des polnischen Sprachunterrichts in den Volksschulen der Landestcile mit polnischer Be völkerung auf das eingehendste erörtert werden. Bis jetzt ist in der Angelegenheit eine endgültige Entscheidung noch nicht getroffen worden. Frankreich. Dem Präsidenten Carnot ist eine große Anzahl von Drohbriefen zugegangen, in denen ihm deutlich gesagt wird, daß die Anarchisten bei der nächsten Ge legenheit den Tod Vaillants rächen würden. Die Sanitäts - Konferenz ist in Paris am Mittwoch vormittag im Ministerium des Auswärtigen zusammengetreten. Ministerpräsident Casimir Perier hielt eine Ansprache, in der er die fremden Delegierten be grüßte und denselben versicherte, daß sie in Frankreich herzliches Entgegenkommen finden würden. Der Minister präsident betonte die Bedeutung der schon abgeschlossenen Konventionen und die Wichtigkeit der Arbeiten der gegen wärtigen Konferenz. England. Die Vermutung, daß die Meldung der,Pall Mall Gazette' über Gladstones bevorstehenden Rück tritt ein von dem letzteren selbst ausgestreckter Fühler sei, wird in vielen politischen Kreisen Londons geteilt. Jedenfalls machen sich die Konservativen auf die Mög lichkeit der Abdankung ihres greisen Gegners gefaßt. In diesem Sinne sprach sich auch der Führer der Opposition im Unterhause, Balfour, aus. „Ich weiß," bemerkte er, „daß meine Freunde auf die Auflösung des Parlaments vorbereitet sind, selbst wenn sie morgen erfolgen sollte. Wir müssen jeden Augenblick gerüstet sein. Schlafen wir aber, so haben wir es nur uns selber vorzuwerfen, wenn der Kampf nicht mit einem Siege für uns endigt." Italien. Der Belagerungszustand in Sizilien soll am 15. d. aufgehoben werden. Dagegen kam die Gährung, die seit langem in der Provinz Mantua bestand, am Dienstag und Mittwoch in größeren Unruhen zum Ausbruch. In Tuizarra schritt eine Kompanie Infanterie ein, wobei viele Verhaftungen vor genommen wurden. Mehrere Aufständische erhielten schwere Verletzungen. Etwa 800 Bauern hatten sich vor dem Rathause versammelt. Wie die,Agenzia Noto' aus Rom meldet, hat der Papst zum Dank für die Herstellung der Gesund heit des Zaren in Rom ein Tedeum singen lassen und ein Glückwunschtelegramm nach Petersburg entsandt. Balkaustaate«. Das serbische Amtsblatt veröffentlicht den Wort- Der sanfte Keinrich. Ivj (Fortsetzung.^ War nicht morgen noch Zett, das Versäumte nachzu holen ? Heinz malte sich aus, wie er vor den Gehaßten treten, ihm seine Verachtung entgegenschleudern würde, und fühlte schon bei dem bloßen Gedanken Erleichterung. Aber die Folge, die notwendige Folge solchen ThunS? Was Wörde die alte Frau sagen, wenn man ihr eines Tages ihr Einziges, ihren Sohn, tot, blutüberströmt Ins Haus bringt? Er hat seit seinem Dienstjahr keine Pistole in der Hand gehabt, Bodo hatte schon als Knabe eine überraschende Fertigkeit im Gebrauch der- selben; doch gleichviel, er muß sich seiner Kugel stellen, er muß sein Leben, das nicht ihm, sondern der alten Frau gehört, hinwerfen. So will es die Ehre. „Ehre?" Er lachte schneidend auf. „Und die eines Bodo Alten ist unantastbar, geht fleckenlos aus dem Kampf hervor: seine Hand ist ja geübter im Senden der totbringenden Kugel wie die meine." Er atmete schwer, 1>ie innere Erregung, die drückend schwüle, von keinem Windhauch bewegte Nachtluft benahm ihm fchst den Atem. Er grübelte weiter. Fortgehen wollte er, sich ein anderes Arbeitsfeld suchen, nicht gänzlich seine Kraft lahmlegen lassen von gramvollem Denken, von verzehrendem Sehnen. Wolle er denn abwarten, bis Anny Meinhardt Altens Weib, wolle er etwa, wie es oft in Romanen so rührend beschrieben steht, au ihrem Hochzeitstage, hinter einem Kirchenpseiler halb verborgen, des Himmels Segen auf ihr Haupt herab flehen? Nein, nei ', das ginge über menschliche Kraft, über menschliches Entsagen! Der junge Mann schlug beide Hände vors Gesicht; , als er sie herabgleiten ließ, waren sie feucht. Er sprang auf, die schlanke Gestalt reckend, ein Zorn gegen sich selbst übermannte ihn. „Pfui, der unmännlichen Schwäche! Bin ich denn ein Weib, verdiene ich denn den Namen, der meine Kindheit vergiftete? Nein, bei dem Allmächtigen, ich will —!" Er zuckte zusammen, ein greller Blitz fuhr hernieder, den Garten tageshell erleuchtend. Aber es war nicht das, was Heinrich Berger wie zu Stein erstarren ließ. Im halben, zuckenden Lichte des Wetterstrahles hatte er soeben ein eng verschlungenes Paar einen der Gartenwege herauikommen sehen: Bodo von Alten und eine schlanke Frauengestalt, deren Kopf und Schultern ein seidener, türkischer Shawl verhüllte. Es war nicht mög lich, nicht denkbar und doch — er kannte diese Hülle, wie oft hatte er Annys reizendes Gesicht darunter Her vorschauen sehen. Er stöhnte laut auf, während der Garten, die Bäume und Büsche sich wild um ihn im Kreise drehten. „Es ist nicht möglich! Ich bin wahnsinnig! Barm herziger Gott, laß' mich das nicht glauben!" Er merkte es kaum, daß Blitz um Blitz aus nacht- schwarzem Gewölk herniederfuhr, daß der Donner immer lauter, immer anhaltender krachte, daß ein Wirbel wind das junge Laub von den Bäumen riß; er ging mechanisch, wie ein Trunkei er, dem Hause zu. Doch schon nach wenigen Minuten stockte sein Fuß, faßte seine Hand taumelnd in die Zweige eines jungen, blütenbedeckten Kirschbaumes. Der Himmel hatte sich gespalten; wie eine lang gestreckte, feurige Schlange zuckte ein greller, bläulicher Blitzstrahl daraus hernieder, prasselnder, krachender, betäu bender Donner folgte ihm. „Allmächtiger, das gab ein Unglück!" stammelten ! Heinrichs entfärbte Lippen, als er nach Minuten die geblendeten Augen zu öffnen im stände war. Sein Blick flog über die Villa ui d — barmherziger Himmel, was ist das? — zuckende Flämmchen brechen aus dem Dache hervor und entzünden bereits mit Windesschnelle die Fähnchen, die Zeichen der Festesfreude. Mit wilden Sätzen stürzte der junge Mann vor wärts, dem Hause zu. Seine Faust schlug an die Scheiben der Fenster, daß sie klirrend zerbrachen, und: „Feuer, Feuer!" schallte es durch die Nacht. Zehn Minuten später zeigte der große, freie Platz vor Villa Adalbertsruh ein Bild der Verwirrung, der Augst und des Schreckens, das jeder Beschreibung spottete. Beleuchtet von dem Schein des rapid um sich greifenden Feuers, drängten sich 50—60 notdürftig be kleidete, angstverwirrte Menschen durcheinander. Frauen riefen nach ihren Gatten, die Eltern nach ihren Andern, hier lag eine Frauengestalt ohnmächtig auf dem Rasen, dort schrie eine andere, die Augen mit der Hand verhüllend, laut auf, wenn wieder ein neuer Blitz blendend hermeder fuhr. Dazwischen wieherten die sich bäumenden Pferde, die man aus den Stallungen abseits führte, heulten Hunde, die von der Kette entfernt sein wollten, schwirrte ein Flug Tauben über den Köpfen, sauste der Wind und rollte der Donner des entfesselten Unwetters. Heinz hatte seine Mutter auf den Armen aus dem Hause getiagen und die Zitternde auf den Rasen gesetzt, jetzt trat er wieder zu ihr, einen Arm voll Bekleidungs stücken vor sie hinlegend. „Hier, Mutter, hülle dich warm ein und fürchte dich nicht. Das leichtgebaute Haus ist zwar unrettbar verloren, aber kein Menschenleben gefährdet." In diesem Augenblick richtete sich Frau Meinhardt, die ohnmächtig in den Armen ihres Gatten gelegen, auf. „Mein Kind," sagte sie schwach. „Wo ist Anny?"