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Gladstone steht im 86. Lebensjahre und da ist eS denn wohl er- klärlich, wenn er Ruhebedürfnis empfindet und sich von dem politischen Leben zurückziehen will. Daß dies der Fall sei, hatte dieser Tage die bekannte Mall Mall Gazette' mit großer Bestimmtheit behauptet und die Ab leugnungen der liberalen Blätter erscheinen in einer Form, die einer Bestätigung sehr ähnlich sieht. Gladstone entstammt einer reichen Kaufmannsfamilie in Liverpool und steht seit vollen sechzig Jahren im politischen Leben; bereits 1834 wurde er Parlaments mitglied und Unterstaatssekretär für die Kolonien in dem konservativen Ministerium Peel. 1843 wurde er Präsi dent des Handelsamtes, zwei Jahre später Schatzsekretär für die Kolonien, 1852 Schatzkanzler und 1858 außer ordentlicher Lord-Kommissar auf den Jonischen Inseln, die England inzwischen an Griechenland abgetreten hat. Um jene Zeit vollzog sich auch seine politische Mauserung; er schwenkte von den Konservativen zu den Liberalen über, deren begabtester Führer er wurde. Siebzehn Jahre lang (bis 1867) war er Schatzkanzler im liberalen Kabinett, 1868—74, 1880—85, 1886 und dann wieder seit dem Sturz Salisburys, war und ist er Premier minister, dem als ebenbürtige Gegner früher Disraeli (Lord Beaconsfield) und nach dessen Tode Lord Salis bury gegenübertraten. Es würde verfehlt fein, wenn man auf englische Verhältnisse die Bezeichnungen „konservativ" und „liberal" in demselben Sinne anwenden wollte, wie dies für Deutschland zutreffend ist. Beide Parteien sind in gewissen Dingen gut konservativ, in gewissen gut liberal — dasselbe Garn, der gleiche Schuß, nur eine andere Nummer. Es hat erst großer Bewegungen be durft, die außerhalb der Parteiprogramme lagen, um neuerlich eine markante Grenzscheilke zwischen beiden Parteien zu ziehen. Neben der von Gladstone 1884 durchgesetzten Wahl reform war es besonders die von ihm in Fluß gebrachte irische Homerulefrage, welche die Geister heftig auf ein anderplatzen ließ. Ja, von Gladstones eigener Partei trennte sich eine beträchtliche Gruppe ab, die gegen Homerule Front machte, im übrigen aber auch ferner mit den Liberalen stimmte: die sogenannten Unionisten, weil sie die jetzt bestehende Union zwischen den drei Königreichen unangetastet lassen wollen. Unter undenk lichen Mühen ist es Gladstone im vergangenen Jahre gelungen, Homerule für Irland im Unterhause durch zudrücken. Aber das Oberhaus erwies sich als fest: es lehnte Homerule ab. Seitdem ruht die Frage wieder und der nächste Wahlkampf soll, wie es heißt, unter der liberalen Parole „Abschaffung des Oberhauses" geführt werden. Bisher ist das noch nicht offen und offiziell, sondern immer nur in versteckten Worten angedroht wor den und es muß auch bezweifelt werden, daß Gladstone ernstlich entschlossen sein sollte, von der Drohung zur That überzugehen. Die Abschaffung des Oberhauses bedeutet den Sturz der englischen Verfassung, auf welche die Briten sich ja sonst so viel zu gute thun. Es würde dabei zu Kämpfen kommen, die sich kaum auf die Rednerbühne beschränken dürften. Gewiß ist anderseits, daß, wenn Gladstone, der sich jetzt zu seiner Erholung in Biarritz aufhält, am Ruder bleibt, er auch alles daran setzen wird, um sein letztes und höchstes Lebensziel, wie er Homerule selber nennt, zu erreichen. Aber wie die Franzosen jahrzehnte lang wie hypnotisiert „auf das Loch in den Vogesen" gestarrt und darüber andere wichtige Aufgaben außer acht gelassen haben, so ergeht es Gladstone mit seinen irischen Plänen, vor denen andere sehr dringliche Auf gaben Englands ganz in den Hintergrund getreten sind. So ist z. B. die auswärtige Politik Großbritanniens von einer Schwäche, die dem Lande den größten Nachteil bringt. Es ist das in der Pamir-Angelegenheit, in Aegypten, vor allem aber in der Siam-Affäre so recht deutlich vor Augen getreten. Wenn neuerdings Lord Roseberry, der eigentliche Leiter des Auswärtigen, dem Vizekönig Abbas gegenüber einen energischen Ton an schlägt, so thut er das sicher nicht im Auftrage Glad stones, sondern auf eigene Faust. Ebenso ist der Erfolg, den die Gesandtschaft nach Afghanistan beim dortigen Emir hatte, sicherlich nicht auf Gladstones Konto zu setzen. Unter Gladstones Regiment hat der englische Einheitsgedanke erheblichen Abbruch gelitten. Wenn der alte Gladdy im eigenen Hause, in Europa, die Einheit des Reiches durch seine Homerulepläne stört, so ist es kein Wunder, daß auch die Kolonien sich unabhängig machen wollen — Bestrebungen, die recht deutlich in Kanada und im Kaplande hervortreten. Derartige Bestrebungen können durch das Sinken des englischen Ansehens nur an KrMt und Umfang gewinnen. Und Gladstone gibt seine Schützlinge wehrlos preis, wie man im Siamfalle gesehen hat. Jetzt ist man daran, das einzige große Machtmittel des Jnfelreiches, zu ver stärken. Es ist die höchste Zeit, wenn nicht das mit Rußland verbündete Frankreich ihm auch auf dem Meere den Rang ablaufen soll. Alles in allem genommen hätte weder England noch das Ausland den Rücktritt, des „großen alten Mannes" allzusehr zu bedauern, dessen hohe Verdienste um sein Vaterland mehr in der Vergangenheit zurückliegen. Politische Urmdscha«. Deutschland. Die Trauung des Großherzogs von Hessen mit der Prinzessin Viktoria Melita von Sachsen-Kob urg soll in der dritten Aprilwoche in Koburg in Gegenwart des deutschen Kaisers, der Königin Viktoria von England, des Prinzen von Wales und anderer Mitglieder des englischen Königshauses stattfinden. Wie von Friedrichsruh aus verbreitet wird, hegt Fürst Bismarck die Absicht, sich in Berlin ein Winterquartier zuzulegen, um in Zukunft mehrere Wintermonate in Berlin zuzubringen. j Der deutsche Botschafter in Wien, Prinz > Reuß, der bekanntlich vor einiger Zeit sein Entlassungs- ! gesuch eingereicht hat, hat nun vorerst einen sechswöchent- ! lichen Urlaub angetreten. Nach seiner Rückkehr nach ! Wien wird er baldigst sein Abberufungsschreibeu über- ! geben. Der wesentliche Grund für den Rücktritt des Botschafters ist ein schweres Blasenleiden desselben, das ! ihm die dauernde Wahrnehmung seiner Obliegenheiten unmöglich macht. Als sein Nachfolger soll der preußische j Gesandte in München, Graf Eulenburg, bestimmt in ! Aussicht genommen sein. ! Der russische Handelsvertrag wird, wie j jetzt bestimmt verlautet, dem Reichstag in der dritten > Februarwoche vorgelegt werden. Vorher schon soll der ! Vertragstarif bekannt gegeben und der Kritik unter- ! breitet werden. ! In der Steuerkommission des ReichSta-S stellt man jetzt Berechnungen an, die den Abschluß der Beratungen doch wenigstens in absehbarer Zeit in Aus sicht stellen. Die Stempelsteuervorlage hofft man jetzt in einigen wenigen Sitzungen erledigen zu können; über ! den Quittungs- und Frachtbriefstempel glaubt man ziem lich rasch hinwegznkommen, da diese Stücke des Entwurfs doch so gut wie keine Aussicht auf eine Verständigung eröffnen. Dann fall die Tabak-, dann die Weinsteuer und endlich das allgemeine Finanzgesetz zur Verhandlung kommen. Es ist möglich, daß die gesamte Beratung in der Kommission wenigstens in der Hauptsache vor Ein tritt der Osterferien beendet fein kann. Wegen der vom Bundesrat zu erlassenden Ausnahme bestimmung von der allgemeinen Regelung der Sonn tagsruhe in Industrie und Handwerk sind bisher Konferenzen mit den Vertretern der Montan industrie und der Metallverarbeitung abgehalten. Wie bekannt, sollen nunmehr zunächst die Entwürfe von Aus nahmebestimmungen für die chemische Industrie und die Glashütten ähnlichen Beratungen unterzogen werden. Darauf soll die Zuckerindustrie an die Reihe kommen. Oesterreich-Ungar«. Wie aus Prag berichtet wird, beabsichtigt der jung tschechische Abgeordnete Slavik im Landtage einen Antrag auf Einführung desallgemeinen Stimm rechts einzubringen. Die Jungtschechen wollen eine Volksbewegung für das allgemeine Stimmrecht für ganz Oe st erreich einleiten und die deutschen Be- völkerungSmassen dafür zu gewinnen suchen. Bei dem scharfen Gegensätze, der in Böhmen zwischen der deutschen und tschechischen Bevölkerung besteht, erscheint der letzte Teil dieser Meldung nicht ganz glaubwürdig. Der ,Budap. Korresp.' zufolge gelangt der Entwurf des ungarischen Zivilehe-Gesetzes jeden falls in der ersten Hälfte des Februar zur Beratung im Abgeordnetenhause. Jedenfalls stehen dann im ungarischen Abgeordnetenhause stürmisch bewegte Tage in Aussicht. Frankreich. Dem Finanzminister Burdeau find so heftige Drohbriefe zugegangen, die ein ehemaliger Marine offizier an ihn, den früheren Marineminister, richtete, daß ein Sicherheitsdienst in seiner Umgebung errichtet werden mußte. Das Signalement dieses Offiziers ist in allen Kanzleien, wo er etwa vorsprechen könnte, sowie den Thürstehern im Palais Luxembourg und im Palais Bourbon mitgeteilt worden. Eine Depesche des General Dodds meldet, das König Behanzin von Dahomey sich am 25. Januar bedingungslos unterworfen hat. Derselbe wird nach dem Senegal gebracht werden. England. Da Gladstone in seiner Antwort auf die An fragen, ob an der Nachricht der Mall Mall Gazette' be züglich seines bevor st ehe n den Rücktritts etwas Wahres sei oder nicht, es vermieden hat, mit ja oder nein zu antworten, so ist es begreiflich, daß in den eng lischen Blättern alle möglichen Deutungen vertreten sind. Die Mall Niall Gazette' selber erklärt triumphierend, sie sei auf alle Ableugnungen Gladstonianischer Blätter ge faßt gewesen, nicht aber auf eine solche Bestätigung Gladstones. Wäre die Nachricht, so sagt das Blatt, grundlos, so hätten einfache Worte genügt, wie: „Die Meldung ist vollständig unwahr!" Belgien. Nach einer Brüsseler Blättermeldung soll die mit der Prüfung der Festungswerke von Lüttich und Namur beauftragte Kommission beschlossen haben, in beiden Festungen Infanterie-Abteilungen kriegsmäßig auf Posten marschieren zu lassen, da eine Schwadron Kavallerie aus Malmey oder Givet genügen würde, um die Panzertürme durch einen Handstreich zu nehmen. Der betreffende Artikel lautet weiter, daß Deutschland in derselben Weise bei Dietz gegen Frankreich seine Sicherheits maßregeln treffe. AuS dem Congostaat kommt abermals eine Unglücksbotschaft. Der congostaatliche Chef Rommel in Kwilu ist bei einem Aufstande der Eingeborenen er mordet worden. Schweiz. Hans Herzog, während deS deutsch-französischen Krieges General der eidgenössischen Grenzbesatzungs- Truppen, ist am Freitag, 74 Jahre alt, an den Folgen der Influenza in Aarau gestorben. Herzog war derjenige schweizerische Befehlshaber, der am 1. Februar 1871 in Verriöres die Konvention betr. den Uebertritt der franzö sischen Ostarmee auf das neutrale Gebiet abs^loß. Der sanfte Keinrich. 8) (Fortsetzung.) Frau Berger seufzte kummervoll und fuhr dann, das Thema ändernd, fort: „Ich finde Anny übrigens recht verändert. Ihr Gesicht scheint mir schmäler geworden und dann die umschatteten Augen. Ist es dir nicht auch aufgefallen?" Das Zeitungsblatt sank nicht, obgleich es leise knisterte. „Ich kann das nicht beurteilen, Mutter, ich habe daS Fräulein seit Monaten immer nur flüchtig gesehen." „Wie fremd du von ihr sprichst, Heinz, und Ihr wäret -och eigentlich immer recht gute Freunde. Es ist doch nichts zwischen euch vorgefallen? Aber daß du dich im vergangenen Winter von allen Festen im Haufe ihrer Eltern fernhieltest, verdenke ich dir keinen Augenblick. Vergnügen kann dir so etwas nicht machen und der Gesundheit ist eS auch nicht zuträglich. Anny hat auch in den letzten Monaten zu viel mitgemacht, das war ja die reine Jagd nach Vergnügungen. Wo soll La das frische Aussehen Herkommen? Auch heute abend feiern sie wieder ein Fest. Bei Major Schwarzes wird die Verlobung der Nettesten gefeiert, mit lebenden Bil dern und solchem Schnickschnack. Anny steht mit dem Leutnant Alten als Schön-Rohtraut und Page." Fnm Doktor unterbrach sich und sah erstaunt auf. Ihr Sohu war bei ihren letzten Worten stürmisch auf gesprungen und hatte das zerknitterte Zeitungsblatt achtlos zur Erde geworfen. „Verzeihe, Mutter, eine Verabredung I" Sie sah ihm kopfschüttelnd nach. Was nur mit ihrem Jungen vorgegangen war? Dieser Winter hatte ihn total verändert, sogar Skatspielen hatte er gelernt. * * DaS war einmal ein Maientag, der gründlich für den guten Ruf des Monats, dem anzugehören er die Ehre hatte, eintrat, der es wert war, von den Dichtern in begeisterten Hymnen gepriesen zu werden. Tiefblauer, wolkenloser Himmel, strahlender Sonnenschein, ein Rau schen und Raunen, Sausen und Summen in den Lüften, Vogelsang und Blumenduft überall, allüberall. Und nicht zum wenigsten um Adalbertsruh, das Menschenhand so keck mitten in all die Frühlingspracht hineingesetzt hatte. Aber es paßte gut dort hinein, be sonders heute, wo der zierliche Bau mit Laubgewinden umlränzt war, wo lustige Fähnlein von seinem Dache flatterten und aus den weit geöffneten Fenstern das Gewirr fröhlicher Stimmen, Lachen und Gläserklang schallte. Jetzt öffneten sich die Glasthüren, die aus dem Speisesaal direkt in den Garten führten, und ein bunter Schwarm lachender, schwatzender, festlich geschmück ter junger Menschenkinder quoll heraus. Das Diner war soeben beendet, die älteren Herren gönnten sich im Rauchzimmer den Genuß einer guten Havanna, die Mütter hatten sich mit etwas müden Augen in die ihnen zugewiesenen Gemächer zurückgezogen; nur die Jugend, der noch Worte wie: Ermüdung und Abspannung ein mitleidig verwundertes Lächeln abgewannen, wollte sich auch nicht eine Stunde des wunderschönen Tages und des damit verbundenen zwanglosen Beieinanderseins ent gehen lassen. Man hatte auch — und das besonders unter der jungen Damenwelt — Betrachtungen auSzutaufchen, Toiletten zu kritisieren, sich diese und jene interessante Beobachtung zuzuflüstern, vor allem aber seine Ver wunderung auszusprechen, daß „die Bombe noch immer nicht geplatzt", daß der Hausherr bei der Tafel aller dings die Gesundheit seiner Gäste, keineswegs aber die eines gewissen Brautpaares ausgebracht, daß der schöne Alten es eigentlich übertreibe mit vertraulichem Flüstern und fascinierenden Blicken, und daß Anny Mein hardt während des Mahles auffallend häufig die Farbe gewechselt und — ebenso oft ihre Laune. „Und ich bin kompetent in dieser Sache," wisperte die lustige Eva Ehrike ihrer Busenfreundin Käte von Bodmer zu. „Ich saß ihnen ja gegenüber und da ich Reichel zum Tischherrn hatte — ich war übrigens entsetzt, als er sich mir als solcher vorstellte — und dieser heute ebenso geistsprühend und amüsant wie gewöhnlich war, hatte ich die schönste Muße, Betrachtungen anzustellen. Ich kann dir fagen, Käte, es war geradezu auffallend. Minuten lang schweigsam ins Leere gestarrt und dann plötzlich aufgeschreckt und dem schönen Bodo zugelächelt: Du der Herrlichste von allen! Na, das nennt man wahrschein lich: himmelhoch jauchzen, zum Tode betrübt, und heute abend beim Souper leeren wir unsere Champagner- kelche auf das Wohl des Brautpaares und seufzen innerlich das Gebet der Jungfrau: „Lieber Gott, gib mir doch auch 'n Mann, auch 'n Mann." Herr Heinrich Berger wäre wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, wenn er die schwatzhafte junge Dame zufällig belauscht hätte. Er hatte von einem Wechsel in Annys Stim mung nichts bemerkt und er hatte doch auch seinen Platz an der Tafel unweit dem ihren gehabt. Immer, wenn sein Blick zu ihr geschwerft — u.d dar war leider trotz deS heute vollständig aufgebotenen Männerstolzes oft genug geschehet, — immer hatte er sie lächelnd, Äug' in Äug' mit ihrem Nachbar, mit Bodo Alten, gesehen. Und dabei, nach einer Sekunde düsteren Hinüberstarreus, war dann auch ihm gewöhnlich seine KavalierSpflicht ein- gefallen und er hatte sich angelegentlich um das hübsch^ blonde Fräulein an feiner Seite bemüht. Wenn sein