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57 nach trachten noch wagen, Missethaten, wie sich's gebührt, zu bestrafen. Wir lassen uns führwahr vom wohlwollenden Gedanken leiten, daß die Gerechtigkeit dem Verbrechen vorbeugen, es nicht rächen müsse. Wir bilden uns ein, daß wir nicht aus Ingrimm, sondern weil es zweckdienlich sei, bestrafen müssen; nicht, um ihn, der es verdient, sein Unrecht fühlen zu lassen, sondern um andere abzuschrecken, damit sie nicht gleiche Verbrechen begehen. Die schöne Theorie dieser nicht rachsüchtigen Gerechtigkeit ist die, daß, nach dem wir einen Menschen eines todeswürdigen Ver brechens halber verdammt haben, wir dem Verbrecher ganz und gar verzeihen, für ihn wieder Sympathie und Achtung hegen und ihn alsdann nicht als einen Bösewicht, sondern als eine Vogelscheuche hängen .. . . Alle wahre Gerechtigkeit rächt ebensosehr das Laster, wie es die Tugend belohnt. Hierin nur unterscheidet sie sich von persönlicher Rache, daß sie das gethane, nicht das uns zugefügte Unrecht rächt. Sie ist der nationale Ausdruck des wohldurchdachten Zornes wie der wohldurchdachten Dankbarkeit. Sie will nicht warnen oder verbessern, sondern zunächst vergelten: sie ist die vollkommene Kunst der vertheilenden, wohl erwogenen Vergeltung; sie gibt Ehre dem Ehre, Schande dem Schande, Freude dem Freude und Leid dem Leid gebührt. Sie ist weder ein Erziehungs mittel, denn Menschen müssen durch heilsame Ge-