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Johann Wolfgang von Goethe (28. Ang. 1749 bis 22. März 1832) beschäftigte sich mit seiner größestcn Dichtung, dein „Faust", in dem wir neben Wolfram von Eschenbachs „Parcival" das tiefsinnigste und erhabenste Meisterwerk der deutschen Litteratur besitzen, beinahe sechzig Jahre lang, denn schon 1773, als er während der Frankfurter Frühjahrsmesse das Puppenspiel vom Doktor Faust sah, faßte ihn die Gewalt des Stosses, und erst im Jahre 1831 kam das Werk in der uns vorliegenden Gestalt zum Abschluß. (Erster Druck eines „Fragments" 1790 im siebenten Bande von Goethes „Schriften", Leipzig, Göschen. 8 Bde. 1787—99; erster Druck des ersten Teils, Tübingen, Cotta, 1808; des zweiten Teils, Stuttgart und Tübingen, Cotta, 1833.) Da Goethe in seinen Dichtungen sem inneres und äußeres Leben poetisch zu gestalten pflegte, so hat das Werk durch die beispiellos lange Zeitdauer seiner Abfassung aller- dings an Reichtum des Stoffs uäd der Ideen gewonnen, aber auch an Einheit der Auffassung verloren. Während sich der erste Teil in der größcsten Anschaulichkeit und sinnlichen Klarheit bewegt und sogar die Resultate tiefsten menschlichen Denkens, die geheimsten Regungen der Seele zur Handlung gestaltet, so verliert sich der zweite bis zur Unverständlichkeit in Allegorien und Abstraktionen. — Aus dem beschränkten Faust der Sage hat Goethe einen Re präsentanten des Menschen gestaltet, der im ungezügelten Streben nach einer höheren, dem Sterblichen verschlossenen Erkenntnis dem Bösen (Mephistopheles) verfällt. Den Gegensatz zu Faust bildet Gretchen, die den naiven Menschen lebensvoll zur Anschauung bringt, der sogar in der Verwirrung seine Herzensunschuld bewahrt. In der Geivalt des Bösen wünscht Faust am Schluß des ersten Teils „O wär' ich nie geboren!" Der zweite Teil stellt nun Fausts Er lösung aus der Gewalt des Bösen durch thatkräftigcs Wirten und Schaffen (Gegensatz zu dem verzweifelnden: „O wär' ich nie ge-