Volltext Seite (XML)
den sie dadurch wohl wieder zu Verstand und zum rechten Glauben gekommen sein. Auf Andringen des Engländers wird ein Mann herbei geholt, der ein Bündel Schlüssel trägt. Er öffnete eine Zelle nach der andern; — sie alle sind leer. Aber auf einem der langen Gänge im Erdgeschosse wandert ein Wäch ter auf und ab; dort stehen die Pforten der Zellen alle offen, bis auf eine, die verschlossen nnd verriegelt ist. Nach lan gem Bedenken und Zögern wird dieselbe, auf Dixon's drin gendes Ersuchen, geöffnet. Nun erhebt sich ein Mann mit langem, schwarzem Barte vom Lager und wirft rasch eine Decke um. Dixon reicht ihm die Hand und erfährt Folgen des: „Ich heiße Adrian Puschkin und bin seit drei Jahren hier; weshalb? Weil" . . . Hier tritt der Offizier, wel cher die Schlüssel hatte, dazwischen und die Zelle muß ge räumt werden. Auf die weiteren Fragen des Engländers wird geantwortet, man wisse nicht genau, was der Mann verübt habe; er sei auf Befehl des heiligen Synod eingesperrt worden, weil er die Göttlich keit Christi leugne. Im obern Stockwerke geht wieder eine Schildwache auf nnd ab; auch dort sind alle Zellen, bis auf eine, offen und leer. In dieser wird ein hoch bejahrter Mann gefangen ge halten, seit vielen, vielen Jah ren. Dieser Greis ist hart näckig, benimmt sich friedfertig, schwatzt aber ganz ungeheuer viel, und wenn er Leute sieht, überschüttet er sie mit unkirch lichen Redensarten. Mehrere Archimandriten haben vergeb lich sich bemüht, ihnzurNecht- glüubigkeit zu bekehren. Er ist von Haus aus reich und war Offizier in des Kaisers Ar mee. Er ist kein guter Russe, denn er weigert sich, die Au torität unserer heiligen Kirche anzuerkennen. Im Winter, wenn keine Pilger hier sind, denen er mit seinen Irrlehren den Kopf verrücken könnte, darf er ins Freie gehen, er kommt aber niemals zur Messe und Lippen und eine dicke Thräne rann ihm aus dem Auge. Er antwortete auf einige Fragen, daß er schon seit langer Zeit hier sei. „Ich bin ein Diener Gottes; er wird mich be freien, wenn die Zeit gekommen ist." Der Offizier fiel ihm in die Rede ; es sei verboten, mit den Gefangenen zu spre chen. Auch dieser Mann war von religiöser Schwärmerei heimgesucht, gleich einer Nonne, der Schwester Maria, die auch gefangen gehalten wurde. Dixon verschaffte sich eine Photographie derselben; sie saß seit zwölf Jahren in der Zelle, um sich zu kasteien. Das Aufopfern der menschlichen Persönlichkeit spielt in Rußland eine große Rolle; im Grunde genommen ist diese Form des religiösen Wahnes ein Verbrechen an der mensch lichen Natur, welche durch denselben völlig entwürdigt wird; sie ist ein Symptom der Tollheit. Unter den Großrussen findet man mehr Selbstpeiniger, als bei anderen Völkern, welche der durchaus erstarrten griechisch-orthodoxen Kirche angehören. Aber solche Wahn sinnige kommen in den Ge ruch der Heiligkeit, und das schmeichelt ihnen. Im solo- wetzkischen Kloster treibt sich gleichfalls solch ein Irrsinniger umher, eine seltsame Creatur mit Lumpen umhängt und sich gierig und gefräßig vom schlech testen Küchenabfalle nährend. Er schläft in der Gosse; Mönch ist er nicht, aber man duldet ihn. Tagtäglich „opfert" er sich; er geizt förmlich danach, recht gründlich verachtet zu wer den, um an seinem Beispiele und durch Aufopferung alles dessen, was menschlich ist, dar- zuthun, wie durch und durch nichtig alle irdischen Dinge seien. Für die Pilger ist ein so frommer und heiliger Mann ein sehr wichtiges Geschöpf; die ser Pater Nikolaus wird von ih nen hoch verehrt, und sie ver breiten seinen Ruf weit und breit durch das heilige Rußland; er gilt ja für die „wahre Vollen dung des christlichen Lebens". Er ist kaum fünftehalb Fuß hoch, hat düstere, verzerrte Gesichts- Der gefangene Ketzer im solowetzkischen Kloster. behauptet täglich, daß wir Gott nicht auf die rechte Art und Weise verehren; davon verstehe er mehr als der ganze hei lige Synod. War es etwa dieser Greis, welchen der Volksglaube für den Großfürsten Konstantin hielt? Aber noch ein anderer Mann wurde gefangen gehalten, und die Zelle dieses Un glücklichen wurde erst nach manchem Zögern geöffnet. Dixon fand einen Mann in reiferen Jahren, mit hübschem Gesicht, der sehr überrascht war, sich durch einen Europäer Plötzlich gestört zu sehen. Der Hausrath bestand aus einem Tisch, einem Stuhl und einem Bettgestell mit Matratze; das war Alles; vor dem Fenster waren starke Eisengitter angebracht. Der Gefangene bekam Bücher und auch Zeitungen, durfte aber keine Zeile schreiben; er war ohne Tinte, Feder oder Bleistift. Sein Name wurde von dem Mönche, welcher ihm den Fremden vorstellte, verschwiegen; er gab sich aber selbst als Nikolaus Jliyu zu erkennen. Als Dixon ihn deutsch anredete, zuckte ein schmerzliches Lächeln um seine i züge, spärlichen Bart und stechende, aber dabei verschwommene Augen. Wasser und Seife verschmäht er durchaus; es wäre verwerflicher Hochmuth, die Haut zu reinigen; der Gestank ist für Pater Nikolaus ein Wohlgeruch, ein Parfüm für die Pilger und dem Herrn in der Höhe wohlgefällig. Mit Ver achtung blickt er auf die wärmende Bekleidung der Mönche; seine Lumpen hängen in Fetzen um den Leib, und er sucht sie unter denen zusammen, welche von den Pilgern weggeworfeu worden sind. Das Kloster hat ihm eine Zelle zur Verfügung gestellt, aber Pritsche und Strohkissen sind zu verwerfen, der Mensch ist ja nur Staub und Fraß für die Würmer. Nikolaus ißt nie wie andere Leute; er frißt wie ein Hund, was Andere verschmäht haben, und kauet an Knochen herum. In der Kirche verkriecht er sich in einen dunkeln Winkel, legt sich platt aus die Steine, welche er mit seiner Stirn berührt, und es ist ihm sehr angenehm, wenn die Pilger, die ihn in der dunkeln Ecke nicht sehen, ihn mit Füßen treten. Er respectirt keine anderen Menschen, als zerlumpte Bettler; diese erkennt er