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356 Im Weißen Meer und an der Dwina. Folgendes: „Ein mir befreundeter Mann wurde von einem Muschik (Bauer) gefragt, wer Gott werden solle, wenn Gott einmal gestorben sei. Der Engländer entgegnete, daß Gott niemals sterben werde. Der Bauer: So, er wird niemals sterben? Nun weiß ich schon, Du bist ein Ungläubiger und hast keine Religion; ich weiß es besser. Gott wird gewiß einmal sterben, denn er ist ja schon sehr alt. Dann tritt der heilige Nikolaus an seine Stelle." An den Ufern der Deltaarme liegen viele Hüttendörfer; die Häuser sind, nach russischer Weise, von Holz; Kirche und Kloster fehlen natürlich nicht; hin und wieder sieht man eine Windmühle, und Kreuze erblickt man zu Hunderten. Bei drohendem Unwetter geht der Schiffer ans Land, errichtet ein Kreuz, kniet nieder und betet; manchmal rudert auch das ganze Schiffsvolk ans Land, fällt einen Baum, der ein Kreuz erhält, und schneidet Datum und Namen ein. Das hilft. Jedes Kreuz giebt Zeugniß, daß ein Sturm gewüthet hat. Auch Peter der Große hat, als er mit knapper Noth dort einem Schiffbruch entging, mit eigener Hand als erfah rener Zimmermann solch ein Rettungskreuz verfertigt und die Worte eingeschnitten: „Dieses Kreuz hat Capitän Peter gemacht." Wir sagten weiter oben, daß die Dwina während der Schifffahrtszeit ein sehr belobter Strom sei; sie bildet die Fahrbahn, ans welcher die Landesproducte zum Seehafen Archangel geschafft werden. Im Oberlande ist für dieselben der wichtigste Sammelpunkt in der Stadt Weliki Ustjug; dorthin kommen sie aus den Gnbernien Wjatka, Perm und Wologda, namentlich Getreide, Flachs, Hanf, Talg, rohe Häute, Theer, Schiffsbauholz, Mehl, Graupen und Pelz werk. Die Stadt hat nur zwei Heilige, aber sehr tüchtige. Sanct Procopius hat einmal einen ganz entsetzlichen, vom Himmel herabfallenden Steinhagel von Ustjug abgewandt, und die Kaufleute verehren ihn als Schutzpatron. Der hei lige Johannes Duratschog (d. h. der Einfältige) stellte sich sein ganzes Leben hindurch äußerst dumm, nahm alle Belei digungen mit ruhiger Heiterkeit hin, ermahnte das Volk zur Buße und wirkte viele Wunder, ohne welche man überhaupt kein Heiliger sein und werden kann. Bei Weliki Ustjug bricht die Eisdecke gewöhnlich in der ersten Woche des Maimonats, und sobald sie fort ist, fah ren die Schiffe nach Archangel. Während der Wintermonate sind die Waaren auf Schlitten herbeigefahren worden und Alles ist zur Reise bereit. Wir haben Schilderungen sol cher Fahrten auf der Dwina von Rufin Piotrowski, einem nach Sibirien verbannten Polen, dem es 1846 gelang, Uber den Ural nach Ustjug und weiter nach Archangel zu kom men, ohne entdeckt zu werden; er kam dann glücklich über die deutsche Grenze*). Der Flüchtling fand es angemessen, sich ans einem mit Getreide beladenen Fahrzeuge als Schiffs knecht zu verdingen. Diese Boote haben fast alle einerlei Größe und Bauart; sie sind 30 Fuß laug, 25 breit, 10 hoch und haben „weder Nase noch Schwanz", das heißt sie sind vorn und hinten abgestumpft. Das Ganze wird aus behauenen Stämmen zusammengezimmert und man kalfatert die Fugen mit Moos und Theer. In diesem äußern Schiffs körper befindet sich ein zweiter, innerer, der von den Wän den etwas absteht und ganz dicht und mit Binsenmatten aus gelegt ist; er bildet den Laderaum. Das Ganze ist mit Brettern und Schindeln gedeckt. Hinten am Boot ist ge wöhnlich ein ganzer Tannenbaum angebracht, dessen kürzere Hälfte über dem Wasser liegt; derselbe dient als Rul, Meine Erlebnisse in Rußland und Sibirien während meines Aufenthaltes daselbst, meine Gefangenschaft und Flucht. Von R. Piotrowski. Nach dem Polnischen von L. Königk. Posen 1882. Zwei Bände. Vergleiche „Globus" 01, S. 85 ff. Steuerruder; am Vordertheile befindet sich ein ähnliches, aber kleineres Ruder, die Ponosna; jenes wird von sechs bis sieben, dieses von vier bis fünf Leuten regiert. Je nach Größe der Barke und der Ladung werden dreißig bis vierzig Ruder, auf jeder Seite die Hälfte, angewandt; dieselben be stehen aus jungen, an den Enden abgeplatteten Tannen bäumen. Alle Arbeiter befinden sich auf dem Schiffsdache. Solch eine Barke, ein Prahm, ladet zwischen 20,000 und 30,000 Pud Getreide, gleicht einem schwimmenden Speicher und steht unter Leitung eines Nosnick, Lootsen, der sich in der Mitte des Fahrzeuges hält und den Ruderern Weisun gen giebt; er kennt Fahrwasser und Untiefen genau. Im klebrigen hält der Gospodarz Ordnung; er ist Wirth und Proviantmeister. Mit Tagesanbruch ruft der Nosnik dem Schiffsvolke zu: „Setze dich und bete zu Gott!" Alle bekreuzen und verneigen sich. Am ersten Morgen der Fahrt wirft Jeder ein kupfernes Geldstück in die Dwina, um die Gunst des Stromes zu erkaufen. (— Bei den Stromschnellen in der Msta spricht die Mannschaft ein Gebet, der Patron nimmt die Mütze ab, wirft Brot und Salz in den Strom und spricht: „Mütterchen Msta, wir bringen Dir Salz und Brot; sei gnädig gegen uns." Aehnliche Bräuche werden bei den Fahrten auf den meisten Strömen Rußlands beobachtet. —) dann das Ufertau gelöst worden ist, schwimmt die Barke abwärts. Gewöhnlich hat man im Mai auf der Fahrt bald Schneegestöber, bald wieder Frost, dann Thauwetter und hinterher Glatteis; manchmal muß am User angelegt werden und jedesmal, wenn der Prahm wieder ins Fahrwasser geht, wird die Ceremonie mit der Kupfermünze wiederholt. Bei gutem, Hellem Wetter setzen sich die Ruderer, welche Erholungszcit haben, in einen Kreis, singen Lieder, echt russisch, mit Nachdruck, Seele und Lust; im Text waltet jedoch Gedankenarmuth vor. Die Ruderer sind eiserne Leute und zeigen eine „dämonische Kraft und Ausdauer". Außer den Prahmen sieht man viele kleinere Schiffe, Karabassen, auf der Dwina, und dann auch mächtige Flöße. Alle diese Fahrzeuge nehmen Pilger mit, welche die heiligen Inseln im Onegabusen besuchen wollen. Nachdem das Schiff in Solambo la, dem neuen Hafen von Archangel, angelegt und die Ladung gelöscht hat, wird es auseinander geschlagen und als Bau- oder Brennholz verkauft. Sobald das Schiffsvolk die THUrme von Archangel erblickt, wirft es, einem alten Brauche gemäß, den Kuchenkasten mit Allem, was darin ist, in die Dwina. Solambola, die Hafenvor stadt, liegt auf einer morastigen Insel; der zur Ortschaft führende Damm besteht durchweg aus fremder Erde, nämlich aus Ballast, welchen die Schiffe dort auswerfen. Archangel ist, wie Dixon sagt, weder ein Hafen noch eine Stadt in unserm Sinne; man steht dort keineswegs, wie z. B. in Hamburg oder Hull, eine Menge von Docks rc. oder lebhaften Verkehr auf den Straßen und am Strome; es ist vielmehr eine Lagerstätte von Waarenhäusern, die um eine unzählige Menge von Thürmen und Kuppeln umher liegen. Aus der Ferne nimmt es sich mehr wie eine orien talische heilige Stadt, denn als ein Handelsplatz aus. Thürme und Kuppeln spielen überhaupt in Rußland eine wichtige Rolle. In Kargopol, das kaum zweitausend Einwohner hat, zählte der eben genannte Reisende deren zwanzig; Moskau soll vierhundert Kirchen und Capellen haben und Kiew, im Verhältniß zu seiner Bewohnerzahl, nicht viel weniger. Heilige hat man in überschwänglicher Menge, und das ganze Leben des Russen wird mit religiö sen Ceremonien und Formeln ausgefüllt. Es fehlt dabei nicht an großem Pomp, z. B. bei der oftmals geschilderten