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344 Ein strenges Urtheil über Capitän Hall's Polarexpedition. erfahren wie dieser. Hall hatte Eskimos, auf welche er sich verlassen konnte, und in niedrigeren. Breiten sind mit solchen die Schlittenfahrten eine leichte Sache im Vergleich zu jenen, welche er mit den grönländischen Bastardhunden unterneh men muß und bei denen er nur weiße Leute hat, die an solchen Dienst bei überaus hohen Kältegraden nicht gewöhnt sind. In seinem Personale befindet sich außer ihm selber und Morton Niemand, der einen Hundeschlitten geleitet hat. Buddington und Chester — der Segelmeister und der erste Offizier — haben auf Walfischfahrern gedient und sind für die Schifffahrt im Eise geeignet. Aber wir missen, daß solche Baffinsbailcute in der Aufnahme von Positionen ungenau sind und keine zuverlässigen Logbücher führen; wir können also von ihnen keine sicheren geographischen Orts bestimmungen erwarten. Ihr Hauptgeschäft wird darin be stehen, das Fahrzeug sicher in und durch das Eis zu lenken und ihm eine für die Schlittenfahrten günstige Lage zu geben. Die Bestimmung von Längen und Breiten bleibt also dem Astronomen überlassen. Morton ist, unglücklicher Weise, auf Hall's besonderes Andringen, zum zweiten Offizier ernannt worden. Ich habe alle Achtung vor ihm als einem getreuen Anhänger Kane's. Er hat die famose Entdeckung eines offenen Wassers (— das offene Polarmeer, wo er eine große eisfreie Wasserfläche fand —) gemacht; ich achte ihn auch als guten Steward (Schiffsproviantmeister), finde aber nicht, daß er zu der Stellung befähigt sei, welche man ihn jetzt einnehmen läßt. Seeleute merken bald, ob ihre Vorgesetzten tüchtig sind oder nicht, und da man eine Landratte (landsman) zum See fahrer erhoben hat, so sehe ich darin einen Keim zu allerlei Zwietracht. Der wissenschaftliche Stab umfaßt einen Naturfor scher, einen Studenten und einen Soldaten! Dem Natur forscher, Dr. Bessels, zolle ich die höchste Anerkennung; er hat sich während der deutschen Polarexpedition als Mann der Wissenschaft wohlverdienten Ruhm erworben; er ist durchaus tüchtig und feiner Ausgabe gewachsen, hat Er fahrung, ist der Einzige am Bord der „Polaris", der Tiefseemessungen vornehmen und Tiefseetemperaturen bestim men kann. Von ihm dürfen wir in Bezug auf alle Beob achtungen, welche er anstellt, Zuverlässiges erwarten, vor ausgesetzt, daß man ihm in geeigneter Weise hülfreich zur Hand geht, daß man ihm nicht hinderlich in den Weg tritt. Ich sage das Letztere mit Vorbedacht, denn Hall hat sich mir gegenüber in folgender Weise ausgesprochen: „Ich schere mich nicht einen Pfifferling um die Wissenschaft; mir liegt lediglich daran, meinen Fuß auf den Pol zu setzen!" (I äo not oars ono oont kor soisnos; obzsot 1s to xlaos koot npon tüs?olo.) Für Physik und Astronomie ist ein graduirter Student aus dem Lafayette-College, Classe von 1870, angestellt wor den. Seine praktische Erfahrung besteht darin, daß man ihn im Bureau der Küstenvermessung zwei Wochen hin durch, ganz kurz vor Abgang der „Polaris", gedrillt hat, und in diesen vierzehn Tagen ließ man ihn einen Cursus der praktischen Astronomie, des Magnetismus, der Geodäsie und der Hydrographie durchmachen! Vorher wußte dieser Herr Bryan nicht einmal mit einem Nivellirungsinstrument umzugehen. Als Meteorolog fungirt ein Sergeant des Signalcorps; aber er weiß kaum, wie die Instrumente heißen, welche man ihm mitgegeben hat. Was für Ergebnisfe kann ein solcher Mann mitbringen über Niederschlag, Nordlicht, Elektricität, optische Erscheinungen, Ozon, Leitung des Schalles, Ver dunstung rc.? Ich besorge nur allzusehr, daß ich das absolut Richtige treffe, wenn ich behaupte, daß bei dieser „geographischen und wissenschaftlichen Expedition" kein praktischer Astronom be- theiligt ist, kein befähigter Meteorologe, Niemand, der magne tische Beobachtungen anstellen, Keiner, der mit einiger Ge nauigkeit eine Küstenlinie aufnehmen könnte rc. Wenn Hall bis zum Pol kommen sollte, wie kann er wisien, daß er ihn erreicht habe? Wie will er die wissen schaftliche Welt davon überzeugen, daß seine Angaben wahr und zuverlässig seien? Wir verlangen positive Thatsachen und richtige Bestimmungen, nicht etwa Angaben wie jene über den Punkt, von welchem aus Morton sein „offenes Meer" sah, das wir auf hundert Miles weit nicht einmal bestimmen können. Die Tage der Schönfärberei und des Blauendunstvormachens (dnneomds) sind vorüber; die Geo graphen verlangen festgestellte Thatsachen. Dem über die Expedition veröffentlichten Plane gemäß sollen die Schlittenpartien, je näher sie dem Pole kommen, an gewissen Stellen Lebensmittel und Vorräthe niederlegen und die Anzahl der Schlitten soll nach und nach vermindert werden. So dürfen wir annehmen, daß etwa die letzten hundert Miles von Hall und seinem Schlittentreiber allein zurückgelegt werden. Hall aber ist unfähig, irgend eine Po sition mit Genauigkeit zu bestimmen. Wie will er nun wissen können, daß er den Punkt erreicht habe, „wo der Polarstern gerade über meinem Haupte steht und die Erd achse unter meinen Füßen ist?" Und welche Beweise könnte er dafür der wissenschaftlichen Welt liefern? Was die übrigen Mitglieder der Expedition betrifft, so hat keines derselben, so viel ich weiß, mit Ausnahme der Eskimos, irgend welche Erfahrung in Betreff des Reisens in den hohen Polargegenden; auch ist keines mit besonderer Rücksicht auf die hier in Frage stehende Befähigung ausgewählt worden. Ich sagte dem Marinemiuister in Washington mit Rücksicht auf diesen Mangel an richtiger Auswahl, noch be vor die Expedition in See gegangen war: „Binnen einem Monat wird sich Zwiespalt zeigen und binnen sechs Mona ten Meuterei ausbrechen." Seitdem haben wir erfahren, daß der Segelmeister Buddington, unzufrieden mit der gan zen Einrichtung, schon auf Disco seinen Abschied genom men hat. Auf welchem Wege will Hall zum Pole gelan gen? Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Wege durch die Beringsstraße und über Spitzbergen impraktikabel sind. Wrangell, Wilkes und Kellet haben von der sibirischen Küste, respective von der Beringsstraße aus, vergebliche Versuche gemacht, während Parry bei Spitzbergen bis 82" 45' N. kam; die beiden deutschen Expeditionen gelangten nicht ein mal so hoch hinauf. Nun rechnet man auf den Smithsund, welchen Kane versuchte, und nach ihm Hayes, der hier bis 81° 35' N. gelangte; in rohen Umrissen ist die Fortsetzung der Landliuie bis etwa 83" N. eingezeichnet worden. Mor ton und Hayes konnten ihrer Zeit des offenen Wassers wegen nicht weiter Vordringen, aber wie weit dasselbe reichte, weiß Niemand; die Südküste desselben bildete eine Schranke gegen das weitere Vordringen mit Schlitten. Jene beiden Männer hätten höher nach Norden kommen können, wenn ihnen Boote und Lebensmittel zur Verfügung standen; es ist aber durch sie ermittelt worden, daß Land 420 Miles vom Pol vorhanden ist, von welchem aus man versuchen kann, weiter zu gelangen. Ich für meinen Theil meine, daß keine genügenden Gründe für das Vorhandensein eines offenen Po larmeeres beigebracht worden sind. Daß man offene Wasserstellen finden werde, davon bin ich fest überzeugt. Bei rascher Strömung wird das Wasser an der Oberfläche