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vielmehr die Pflicht, den Tod desselben zu rächen, indem er Blut mit Blut sühnte. Doch konnte die Blutrache, im Fall der Mörder entkam und der Rächer dadurch befriedigt war, abgekauft werden. Der Thäter bezahlte alsdann das so genannte Wergeld oder den Werth des einzelnen Menschen, wie ihn die Gesetze mit großer Genauigkeit bestimmt hat ten. Wer einen Adaling (Edlen) erschlug, mußte 80 Schild- linge zahlen oder sich durch 11 Eideshelfer frei schwören, wenn die That nicht erwiesen war. Auf den Mord eines Freien standen 53^ Schildlinge und auf einen Leten (Halb freien) 262/g Schildlinge. Die noch niedriger stehenden Sklaven konnten zu keinem Eide zugelassen werden und wa ren frei, ja im friesischen Gesetzbuche heißt es davon also: „Wenn Einer den Sklaven eines Andern erschlägt, so soll er den vollen Werth desselben ersetzen, und ebenso soll es gehalten werden mit dem Pferde, dem Rinde, dem Schafe, der Ziege, dem Schweine und überhaupt mit allen leben den Wesen, welche zum Gebrauche des Menschen dienen." Ebenso heißt es an einer andern Stelle: „Wenn Jemand einen Sklaven oder eine Sklavin, ein Pferd, ein Rind, ein Schaf oder anderes Thier geraubt hat, so soll er es zum vollen Werth bezahlen." Aber nicht für den Todtschlag allein mußte ein Wer geld bezahlt werden, auch für jegliche Körperverletzung war die Buße genau bestimmt. In dem Gesetze heißt es dar über: „Wenn Einer dem Andern ein Ohr abschneidet, so soll er zwölf Schildlinge bezahlen, für die Nase dagegen dop pelt so viel. Wer die obere Stirnrunzel mit einem Hiebe quer durchschlägt, soll für diese That mit zwei Schildlingen büßen; die Strafe für die untere Stirnrnnzel beträgt vier. Das Ausschlagen eines Vorderzahnes ist mitfzwei Schild lingen bedrohet, eines Augenzahnes mit drei und eines Backen zahnes mit vier." Wer Jemand durch einen Hieb auf den Kopf oder an einem andern Theile des Körpers schwer verletzte, so daß ein Stück vom Knochen bloßriß und herausging, so nahm man den Knochensplitter und warf ihn auf einen Schild. Wenn der Splitter alsdann einen so lauten Ton von sich gab, daß man ihn auf zwölf Fuß Entfernung hören konnte, so mußte der Thäter 36 Schildlinge bezahlen. Bei mehre ren Splittern wurde jeder einzelne geprüft und bestraft. War man zweifelhaft, wer den Todtschlag verübt hatte, so war es demjenigen, der das Rächeramt übernommen, und dessen Freunden gestattet, bis zu sieben Männer wegen des Todtschlags vorzufordern, doch mußte er zuvor schwören, nur einen Verdächtigen angeben zu wollen. Diese sieben Män ner konnten sich jedoch durch einen Eid von der Anklage rei nigen. Später, nachdem der Eid geschworen war, gingen sie zusammen in die Kirche, oder wenn keine solche in der Nähe war, so wurden Reliquien zu Zeugen genommen, und nun mußten die sieben Angeklagten das Loos werfen. Die Würfel zu dieser Handlung waren aus Weidenholz geschnit ten, der eine davon trug das Bild des Kreuzes, der andere nicht. Diese warf man auf ein weißes Wolltuch, welches entweder über den Altar oder Uber die Gebeine von Heiligen ausgebreitet war. Die Umstehenden riefen Gott an, daß er die Wahrheit ans Licht bringen möge, während ein Prie ster oder ein schuldloses Kind unbesehen einen der Würfel fortnehmen mußte. Hielt der Priester oder das Kind den gezeichneten Würfel empor, so gab Gott dadurch ein Zeichen, daß der Mörder nicht unter den Angeklagten sei, im andern Falle aber stand es fest, daß einer derselben die That voll bracht habe. Um nun aber den Mörder herauszufinden, mußte Jeder der Angeklagten einen neuen Würfel nehmen und darauf ein eigenes Zeichen machen. Diese wurden wie derum auf das Tuch geworfen, der Priester oder der Knabe nahmen mit verbundenen Augen einen nach dem andern weg, und dessen Würfel zuletzt liegen blieb, war der Schuldige und mußte das Wergeld bezahlen. War durch das Aufheben des mit dem Kreuze bezeichne ten Würfels erwiesen, daß der Mörder nicht unter den sieben Angeklagten zu finden sei, so durfte der Erbe des Erschla genen andere sieben Männer anklagen, mit welchen eben so verfahren wurde; fand sich auch darunter der Schuldige nicht, so konnte er keine neue Anklage erheben. Erschlug ein Sohn seinen Vater, so wurde ihm nur die Erbschaft abgesprochen. Hatte Jemand seinen Bruder er schlagen, so mußte er dem nächsten Erben desselben das volle Wergeld bezahlen, und war kein solcher vorhanden, so wurde es dem Könige entrichtet. Geschah ein Todtschlag am königlichen Hofe, in der Kirche, an einem königlichen Gesandten, oder an einer Gei sel, so wurde das Wergeld neun Mal erhöht, und das war die schwerste Strafe für den freien Mann. Selbst der be gütertste Adelige war nicht im Stande, eine solche Buße zu entrichten, und diese zog daher unbedingt die Sklaverei nach sich. Ohne Wergeld durfte jedoch der Gegner im Kriege getödtet werden, der Ehebrecher, der beim Einbrüche ertappte Dieb, der Mordbrenner, der Heiligthumsschänder und endlich das neugeborene Kind, welches noch nichts genossen hatte. Dieser heidnische Gebrauch blieb selbst noch nach Einführung des Christenthums gesetzlich in Kraft, wovon folgende Sage den Beweis liefert: Einer der eifrigsten Prediger Karl's des Großen war Liudger, den er 791 zum Bischof von Mimigardevort an der Aa ernannte. Liudger's Mutter hieß Liafburch. Als diese geboren wurde, erzürnte sich ihre Großmutter gar sehr darüber, daß sie nur Enkelinnen haben sollte, und gedachte daher, das Kind nach heidnischem Brauche zu tödten. Dar um sandte sie frühzeitig einige Männer aus, welche das Kind holten, noch ehe es etwas genossen, und sich dadurch ein Anrecht auf das Leben erworben hatte. Ein Sklave trug das kleine Wesen zu einem Gefäße mit Wasser und warf es hinein, aber das neugeborene Kind streckte die Aerm- chen aus und hielt sich an dem Rande des Gefäßes. Voll Mitleid sah dies eine Frau, und noch ehe der Sklave ihr Vorhaben hindern konnte, hatte sie das Kind aus dem Was ser gezogen und lief mit demselben in ihr Haus, indem sie die Thür hinter sich zuwarf. Als nun der Sklave kam, es wieder zu holen, da sah er, daß das Kind bereits Honig ge nossen hatte, und ließ es der Frau, nachdem diese ihm das Versprechen gegeben, es Niemandem zu verrathen. Nach dem Tode der Großmutter wurde Liafburch ihrer Mutter wieder zurückgegeben, und sie war es, welche ihren Sohn Liudger aussandte, den Heiden das Christenthum zu predige«.