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298 Zur Kennzeichnung der alten Friesen. damit er sein Schicksal im Sinne des moslemischen Fana tismus entscheide. Von Neuem wurde er nun auf dem Leibe durchsucht. Da man aber keine anderen Papiere bei ihm fand (er hatte sie, wie gesagt, versteckt), so wurden seine Richter etwas milder gegen ihn gestimmt. Ein seltsamer Zug dieser im Grunde nicht schlechten, aber durch den reli giösen Fanatismus irregeleiteten Menschen; derselbe Fana tiker, der eben noch den Rädelsführer seiner Feinde gemacht hatte, schien nun wie von einem Gewissensbiß bewegt, und lud den Reisenden in zuvorkommendster Weise bei sich zum Frühstück ein! Nach beendigter Mahlzeit übergab man den Delinquen ten einem Araber aus Habaab, der sich nach Sana begab, indem man ihm empfahl, denselben nie aus den Augen zu lasten und ihn richtig in die Hände des Kadi von Sana zu überliefern. Aber dieser Mann hatte gar kein Interesse an der Sache. Er wünschte vielmehr, erst die Seinigen auf zusuchen, die in der Nähe wohnten, und ließ sich vom Rei senden, der ihn durch eine kleine Summe bestach, gern be reden, ihn ungestört allein ziehen zu lassen. Endlich war Halsvy frei. Er benutzte seine Freiheit, um schnell zu seinem Versteck zu eilen und die dort verborgenen Papiere hervor zuholen. Dann machte er einen eiligen Marsch, um aus dem Bereich seiner Verfolger zu kommen. Die gerade Sana- Straße mußte er jetzt vermeiden, der Karawanen wegen. Er wandte sich deshalb südlich, vermied sogar die beduini- schen Lagerplätze und brachte die Nächte im Freien, im Schutze der Felsen zu. Unglücklicherweise verirrte er sich am Morgen in das DorfHarib, das auf einem Felsen liegt, der die eigenthümliche Form einer an einander gefestigten Säulenreihe annimmt. Von Harib nach dem steilen Berg- Paß Negiil Schegaa fiel er abermals in die Karawane von Sana und gewahrte an deren Spitze zu seinem Schreck sei nen Todfeind, den Antiquar Musellil, der ihn gleich erkannte und seine unausstehlichen Quälereien von Neuem anfing. Halsvy wurde gezwungen, inmitten dieser Karawanengesell schaft vier Stunden lang zu bleiben. Man unterwarf ihn nie enden wollenden Kreuzverhören. Das Ende vom Liede war immer: »Du bist ein Europäer, ein Spion, ins Land gekommen, um es den Christenhunden zu überliefern; Du bist ein Ungläubiger, dessen Zweck es ist, die Heiligthümer des Islam zu profaniren" u. s. w. Diese brutalen Menschen zwangen ihn, mit ihrer Kara wane weiter zu reisen, um ihn in Sana dem Kadi zu über-- liefern. Aber sie rechneten ohne den Wirth. Auf dem höch sten Punkte des steilen Bergsteiges Negiil Schegaa gelang es Halsvy, der als Fußgänger leichter beweglich war, zu entschlüpfen, und nach einigen Stunden einsamer Wande rung in ein von Juden bewohntes Dorf des Wadi Sche- raafa zu entkommen. Hier versteckte er sich, bis die Gefahr vorbei war, Musellil und seinen Helfershelfern zu begegnen. Nun, von den Israeliten in Bezug auf den Weg orien- tirt, vermied er streng den Wadi Siee, die directe Straße nach Sana, sondern wandte sich jetzt entschieden südlich nach dem Beled Chaulaan, wo er nach fünfstündiger Wanderung die alte, jetzt sehr verfallene und ruinenhafte Stadt Ti na am erreichte. Früher war hier der Hauptsitz der kriege rischen Juden von Jemen, welche den Moslems die Spitze boten und sogar Sana bedrohten. Aber jetzt ist die Ge meinde wenig zahlreich und eine der unwissendsten von Je men. In der Nähe, auf einem Hügel, liegt die Ruine der Stadt Sabal, die früher ausschließlich von Juden bewohnt gewesen sein soll. Das Gebiet von Chaulaan ist, trotz seines gebirgigen Erdreichs, doch einer der am besten bebauten Landstriche von Südarabien. Dörfern begegnet man fast auf jedem Schritt. An Cerealien, Obst, Trauben ist Ueberfluß. Auch an Ueberresten antiker Städte scheint das Land reich zu sein. Die Bewohner aber huldigen einem finstern Fanatismus, der durch die unzähligen Scherife in seiner ganzen Schroff heit erhalten wird. Was noch diesen Fanatismus vermehrt, ist der Umstand, daß hier sich die Pilgerkarawanen nach Mekka versammeln. Auch war der Reisende in seiner jüdi schen Tracht hier in jedem Dorfe Beschimpfungen und Miß handlungen preisgegeben. So kam er unter beständigen Verunglimpfungen endlich in das Städtchen Dan Salan, wo er sich bei Juden ver steckte, den Moment abwartend, wann er unbemerkt die Stadt Sana betreten konnte. Dort erwarteten ihn die Verfol gungen des indischen Renegaten und Musellil's. Leider aber konnte er sich ihnen nicht durch die Flucht entziehen, denn nicht eher durfte er Sana verlassen, als bis seine stationenweise vertheilten Papiere alle dort angekommen wa ren. Dies dauerte sehr lange, viele Monate, während wel cher Zeit er einige traurige Episoden zu bestehen hatte, im mer durch Verfolgung seiner unerbittlichen Feinde. Endlich aber hatte er die Freude, alle seine Papiere wieder einmal in seiner Hand zu sehen, und nun verließ er schleunigst den Schauplatz seiner Leiden und kehrte erst nach Hodaida und von da nach Aden zurück, wo seine Reise bei allen Kennern das höchste Aufsehen und Erstaunen erregte. Halsvy's Rückkehr nach Europa siel gerade in eine er- eignißschwere Zeit, als Krieg, Commune, Politik alle Auf merksamkeit in Anspruch nahmen. Dadurch kam es wohl, daß seine für Geographie und Epigraphik epochemachende Reise keineswegs die verdiente Beachtung fand. Die fast übergroße Bescheidenheit des Reisenden trug auch dazu bei, daß sein Licht unter den Scheffel gestellt wurde. Jndeß, Halsvy ist eine zu gediegene Natur, der es nicht auf den eiteln Ruhm des Zeitungslobes und der „Aufpuffung" an kommt, wie so vielen Anderen. Die wahren Freunde der Forschung über Arabien und die Kenner seiner Geographie und Epigraphik werden trotzdem nicht ermangeln, den Na men des Reisenden an den des großen Forschers des vorigen Jahrhunderts, Niebuhr's, würdig anzureihen. Zur Kennzeichnung der alten Friesen. QL. Es ist wohl nicht unstatthaft, die Leser des „Glo- bus" dann und wann auf das Leben, die Sitten und die Gebräuche unserer Altvorderen hinzuweisen. Ein Vergleich mit der Gegenwart drängt sich dabei ganz von selbst auf; man sieht, welche radicalen Umwandelungen im Laufe eines Jahrtausends stattgefunden haben. Die nachstehenden An gaben über die Blutrache und das Wergeld bei den alten Friesen sind auch ein Beitrag zur Völkerkunde. War bei denselben ein Mord verübt, so hatte der nächste Blutsverwandte des Erschlagenen das Recht oder