Volltext Seite (XML)
Dingen Rath, namentlich wenn es sich darum handelte, alt hergebrachte Mißbräuche zu beseitigen. Das Taikunat unterlag in dem Kampfe gegen jene großen Lehnfürsten, welche dem legitimen Erbkaiser, dem Mikado, die volle Souverainetät und die Reichsgewalt wieder verschafften. Matsumoto wurde als Anhänger Stots Baschi's verfolgt, verhaftet und mehr als einmal war sein Leben in Gefahr; indessen gelang es ihm, im Norden Japans eine Zuflucht zu finden. Die neue Regierung wußte die Ver dienste des nun schon berühmten Doctors zu würdigen, und bot ihm die Stelle eines Leibarztes beim Mikado an. Darin lag ein Beweis, daß sie in seine Ehrenhaftigkeit volles Ver trauen setzte; er lehnte jedoch ab, weil er nicht mit Leuten in Berührung kommen wolle, die ihn eingesperrt hätten. Nun konnte er sich wieder frei bewegen und seinen Plan zur Gründung eines Spitals in Addo weiter verfolgen. Die erforderlichen Geldmittel brachte er bei reichen Leuten zu sammen, deren Hausarzt er ist, und bald konnte er in der Vorstadt Waseda ein für seine Zwecke geeignetes Grundstück kaufen. — Am 1. Januar 1871 war das Wetter ganz prächtig, die Kälte sehr gelind, der Himmel blau wie in Italien. Es gewährte einen großen Genuß, auf den prächtigen Straßen in diesem wunderbaren Lande munter dahin zu traben. Was nimmt sich malerischer aus, als diese langen Perspec tiven der Straßen, in welchen die Häuser so bunt sind und uns so fremdartig vorkommen, als diese Burgen mit mas siven Mauern, die großen Wasserbecken, in welchen die Sonne sich spiegelt? Ueberall drängt sich eine geschäftige Menschenmenge; die Bauern bringen Feldfrüchte zur Stadt, Handarbeiter sind thätig und singen dabei ein Lied; vor nehme Leute werden in ihren Sänften (Norimons) getragen, oder bedienen sich wohl auch schon unserer mit Pferden be spannten Kutschen. Die Frauen und Mädchen in den Buden laden zum Kaufe ein, muntere Kinderschaaren gehen oder laufen der Schule zu. Die Landschaft ist entzückend, eine Reihenfolge von kleinen Thälern und Hügeln, die mit Nadelholz bestanden sind, die Hakoneberge, hinter welchen der schneebedeckte heilige Berg Fusi yama emporsteigt und wie ein gigantisches Prisma erglänzt. Waseda liegt etwa neun Viertelstunden vom Tokaido, der großen Straßendurchfahrt der Hauptstadt, entfernt. Der Platz für das Spital ist mit Rücksicht auf gesunde, frische Luft gewählt worden. Ursprünglich hatte dort der Regent Jyi Kamon, welcher 1859 ermordet wurde, ein Lustschlöß chen; dieses ging an den Daimio Takamatru über nnd von diesem kaufte es Matsumoto. Es ist, wie alle Askis (Villen), zweckmäßig und geschmackvoll eingerichtet nnd mit reizenden Gärten umgeben. Matsumoto bewohnt mit seiner Familie die Villa, das Hospital ist ein ganz nen aufgeführ tes Gebäude, an dessen Eingangsthür uns der Doctor empfängt. Die Etikette verlangt, daß man die Schuhe aus ziehe, aber davon wird abgesehen; einige Diener reiben uns den Schmutz von den Sohlen; wir können also getrost auf die sauberen Matten treten und sind nicht in Gefahr, uns zu erkälten. Das Spital kann jetzt schon etwa einhundert Kranke aufnehmen; die Einrichtung der Betten rc. ist in jeder Be ziehung zweckmäßig, die Speisen sind nahrhafter als die in Japan üblichen, die gewöhnlich aus Reis und Fisch be stehen. Eine Wesentliche Reform besteht in der Einfüh rung des Bieres, welches Matsumoto in Europa würdigen lernte. Er hat in Astakusa eine Brauerei eingerichtet, die ein vortreffliches Getränk zu billigem Preise liefert. Der Kranke muß täglich zwei Bus für Wohnung, Speise, Trank und ärztliche Behandlung zahlen, also etwa 16 Silber- ! groschen; dieser Satz ist für Alle gleich, und der reiche Dai- 1 mio wird genau so gepflegt, wie der arme Mann. Aber dem Reichen, der ja auch nur zwei Bus zahlt, wird nach der Heilung zu wissen gethan, daß er ein gutes Werk thue, wenn er das Spital mit einer Gabe bedenke, weil dasselbe vergrößert werden solle. — Nachdem wir Alles besichtigt hatten, wurden wir in den großen Speisesaal geführt, um ein Frühstück einzunehmen. Dort begegneten wir dem Doctor Schiba, einem Japaner, welcher die Oberleitung des Spitals in Addo Arzneischule hat; er unterrichtet seine Zöglinge mit Vor liebe in der deutschen Sprache, in welcher er auch Bücher drucken läßt. Dieser Mann zeigt einen unermüdlichen Fleiß; nicht selten besucht er erst gegen Mitternacht seine ausländischen Freunde, und geht gegen Morgen nach Hause, um dort Druckbogen zu corrigiren; um zehn Uhr ist er schon wieder in der Praxis. Hier an der Tafel saßen Studenten neben ihm, die in verschiedenen Sprachen sich über wissenschaftliche Gegenstände unterhielten. Alle Classen der Gesellschaft, Reich und Arm, hatten ihre Vertreter bei dieser Einweihung. Hier soll ein merkwürdiger Umstand hervorgchoben wer den. An der Tafel saß ein sehr reicher Mann, der einer für unehrlich geltenden Classe angehörte. Er stand in gereiftem Alter, sein Antlitz hatte einen sanften, intelligenten Ausdruck; auf seinen! einfachen Kleide prangte ein hoch adeliges Wappen. Er ist eng mit Matsumoto befreundet und das hat seinen guten Grund. Jener Mann ist König der Bettler. Sein Lebenslauf erscheint geradezu roman haft. Im sechszehnten Jahrhundert wurde Japan durch innere Kriege zerrüttet, bis es dem Kronfeldherrn Jyeyas gelang, die oberste Gewalt an sich zu bringen; er war der erste Taikun aus der erlauchten Familie Tokugawa. Um sein Reich zu befestigen, berief er die hervorragenden Männer aller Stämme und Parteien in seinen Rath; unter ihnen war auch das Oberhaupt des jüngern Zweiges der Familie Aritimo, welcher von einem früher» Krongroßfeldherrn abstammte. Dieser Edelmann wollte sich dem neuen Herrscher und der neuen Ordnung nicht fügen, und als man ihn fragte, in welche Rangclasse er ausgenommen sein wolle, gab er trotzig zur Antwort: „In keine, deren Oberhaupt ich nicht sein kann!" Darob ergimmte Taikun Jyeyas und erließ einen Befehl, demgemäß jener Edelmann erblicher König der Bettler sein solle. Dabei wurde ihm gestattet, das Wappenschild der Aritimofamilie beiznbehaltcn, und er bekam das Privilegium, vou allen Einnahmen, welche die Bettler im ganzen Reiche hatten, den Zehnten zu erheben. Gleichzeitig aber büßte er mit den Seinigen den frühern Rang ein, und die Familie durfte nur mit Bettlern und Bettlerinnen sich verheirathen. Das war freilich ein harter Schlag, aber der Bettlerkönig war und blieb steif bei seinem Sinne. Volle dritthalbhundert Jahre lang häufte diese ge ächtete Familie, welche nun zu den ^Parias gehörte, große Neichthümer auf, und dadurch gewann der jeweilige Bettler könig immerhin Einfluß; im vorigen Jahrhundert wurde eine Bettlerprinzcssin von einem Daimio entführt, aber der Bann doch nicht gelöst. Matsumoto war Arzt des letzten Bettlcrkönigs, der ihm willig Geld für die Gründung des Spitals gab. Der Doctor wußte es bei seinem Freunde Stots Baschi dahin zu bringen, daß der Geächtete in seinen frühern Rang wieder eingesetzt wurde; die Dankbarkeit dessel ben gegen seinen Wohlthäter ist eine aufrichtige. Nach aufgehobener Tafel erschienen die Schauspieler und Musikanten, welche dem Doctor sehr zugethan sind, seitdem I er einem der Ihrigen, der hoffnungslos darnieder lag, das