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236 Leo Van der Kindere: Betrachtungen über die Ethnologie Frankreichs. Francisco vorziehen werden, ist keineswegs maßgebend für den Welthandel. Die Gewässer des nördlichen Großen Oceans sind, namentlich im Winter, außerordentlich stürmisch, und selbst die zwischen San Francisco und Ostasien fahrenden Schiffe pflegen einen südlichen Cours (bis zum 27. und 25. Breitengrade hinunter) zu nehmen, um in ein ruhigeres Fahrwasser zu gelangen und den Passat der südlicheren Brei ten benutzen zu können. Die Schiffe, welche den Handels verkehr zwischen dem Pugetsund und Japan und China ver mitteln sollen, würden aus demselben Grunde nicht, wie Herr Colfax (Vicepräsident der Vereinigten Staaten, welcher vor einigen Jahren die Pacificküste bereiste) in einem Aufsatze über die nördliche Pacisicbahn behauptet hat, und was ihm von Vielen oft und mit Nachdruck nachgesagt worden ist, auf dem kürzern sogenannten großen Cirkel fahren, sondern wie die von San Francisco segelnden eine südliche Bogen schwenkung machen und schließlich in dasselbe Fahrwasser ge langen, welches die Handelsschiffe auf ihren Reisen zwischen San Francisco und Ostasien einschlagen. Da nun die Bo genschwenkung von dem mehr nördlich als die San-Fran- cisco-Bai gelegenen Pugetsunde bedeutend größer als von jener ist, so muß dieser durch die Seeroute viel von seiner nach Westen vorgeschobenen günstigen geographischen Lage wieder einbüßen, und die Schiffe vom Sunde werden in Wirklichkeit gerade so lange Reisen von und nach Asien wie die von San Francisco fahrenden machen. — Bei einbrechender Dunkelheit passirten wir das am lin ken Stromufer liegende Städtchen St. Helens, wo der Columbia noch die Breite von einer englischen Meile hat. Eine Dampfsägemühle in St. Helens schneidet täglich 40,000 Fuß Bauholz, zu dem die in der Nähe liegenden ausgedehn ten Fichtenwaldungen das trefflichste Material geben. Bald darauf näherten wir uns vorsichtig der Mündung des Willa mette in den Columbia, wo die beiden Flüsse ein Delta bil den, dessen niedrige, theilweise mit Weiden und Gebüsch be wachsene Inseln einen außerordentlich fruchtbaren Boden haben. Doch sind dieselben der Ueberschwemmung ansge setzt und werden, da schützende Dämme auf ihnen noch nicht existiren, nur auf den höheren Stellen, den sogenannten „ftarä baolr riäZss", bebaut. Weizen erzielt dort bis 60 und Hafer bis 90 Scheffel pro Acker. Das niedrige Land ist in reichster Fülle mit nahrhaftem Gras bewachsen, wel ches jahraus jahrein, ohne daß je eine Nachsaat nöthig ist, als vortreffliches Heu eingeerntet wird. Der Nebel und der Rauch von den auf den Gebirgen Oregons theilweise in Brand stehenden Wäldern lagerte sich jetzt immer dichter auf den Fluthen, und nur mit äußerster Vorsicht gelang es unserm Piloten, den Dampfer in den durch Untiefen gefährdeten Willamette zu bringen. Gegen Mitternacht am 14. September landeten wir glücklich vor der Stadt Portland. Betrachtungen über die Ethnologie Frankreichs. Von Leo Van der Kindere. I. Allgemein beschäftigt man sich heutzutage wit ethnogra phischen Fragen und bespricht sie, häufig ohne Kenntniß aller wesentlichen Grundlagen. Daraus entstehen unver meidlich schwere Jrrthümer; darunter leidet namentlich auch die Ethnologie von Frankreich. Man sagt, Frankreich sei keltisch, folglich arisch, und alle Arier haben in höherm oder minderm Grade gewisse gemeinsame Haupteigenschaften. So lautet das Räsonnement des Herrn Potvin in sei nem Buche „I.s Llsnis äs ls, kuix", und das ist auch die Annahme eines politischen Schriftstellers, des Herrn Emil von Laveleye. „Lateiner und Germanen sind Brüder/' sagt er in seinem Artikel „die Rache Frankreichs" („Belgi sche Revue" vom 15. Januar 1872); „sie sind beide von arischem Stamme," und er folgert daraus, daß es nicht erlaubt sei, „der Racenverschiedenheit die Verschiedenheit des Geschickes der verschiedenen europäischen Völker zuzu schreiben." Diese Schlußfolgerung wäre vortrefflich, wenn nur de ren Vordersätze nicht falsch wären. Allerdings sprechen alle westeuropäischen Völker arische Sprachen; aber Jedermann weiß, daß die Sprache keineswegs immer ein Zeugniß der Abstammung, sondern oft nur ein solches der Eroberung ist. Wo aber Eroberer sind, da hat es Besiegte gegeben; diese Besiegten haben sich durch Jahrhunderte erhalten, und mehr als einmal hat sich in ihrer dichten Masse der kleine Kern der Eroberer aufgelöst. Die keltisch redenden Gallier haben später die lateinische Sprache angenommen; aber haben die j „Drei Fünftel Frankreichs sind von einer vor-arijchen Race bewohnt." Gallier selber nicht auf dem Boden Frankreichs bereits eine ältere Bevölkerung, gewissermaßen Ureinwohner, vorgefun den, der sie ihre Sprache mittheilten, die aber allmälig wie der emporgekommen ist und heutzutage fast durchweg das Uebergewicht über ihre Sieger behauptet? So liegt die Frage, und die neuere Wissenschaft steht nicht an, sie in bejahendem Sinne zu beantworten. Quatrefages hat in seinem Merkchen: „Die preußische Race", nachzuweisen versucht, daß die Bewohner von Nord deutschland gar keine Germanen seien, sondern eine Mischung von Slaven und Finnen. Wir wollen hier gleich zugeben, daß die Behauptung einen Gran Wahrheit enthält; in Deutschland wie anderswo giebt es vorhistorische Stämme; es wäre aber nicht sehr schwer nachzuweisen, daß man solche untergeordnete Stämme weit mehr in Süddeutschland als im Norden zu suchen hat, und daß man ganz unmöglich eine Bevölkerung für eine finnische ausgcben kann, welche in sich den reinsten, dem Genius der deutschen Sprache entsprechend sten Dialekt erhalten hat, der auch den alten Formen am verwandtesten ist, und diese sind älter als die großen Be wegungen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Wie dem auch sei, Quatrefages hat sich gewaltig geirrt, indem er aus seiner Theorie eine Waffe gegen die Feinde Frankreichs zu schmieden gedachte; in erster Linie wird diese Waffe ihre Schneide gegen seine Landsleute kehren. In der That hat seit langer Zeit in Frankreich die Thatsache des so häufigen Vorkommens eines dunkelge-