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210 LH. Zorn: Land und Volk von Appenzell. Dies Hochland, mit Ausnahme der äußersten westlichen und nördlichen Ränder, umfaßt der kleine Canton Appenzell, der auf 6 Quadratmeilen etwa 57,000 Einwohner ernährt. Sehr ungleich ist diese Menschenzahl zwischen dem vbern Bergkessel des Sentis und dem anliegenden Plateau ver theilt. Während das weidereiche Quellgebiet der Sitter eine zerstreut wohnende Hirtenbevölkerung von noch nicht 12,000 Bewohnern zählt, leben in dem fabrik- und industriereichen, an Flächeninhalt nur wenig größern Plateau fast viermal so viel Menschen dicht bei einander. Der geographischen Zweitheilung des Cantons entspricht auch eine politische und religiöse. Als zu Ende des sechszehnten Jahrhunderts die Reformation in diese Bergthäler drang, entbrannte auch hier der stets sich vollziehende Conflict zwischen den Anhängern des Alten und Neuen. Doch weiser und glücklicher als die meisten Völker Europas, die sich in langen, blutigen Reli gionskriegen zerfleischten, vollzogen die Appenzeller schon 1597 eine friedliche Trennung in Katholiken und Refor- mirte. Die conservativen Bewohner des inneru Gebirgskerns am Sentis, die inneren Rotten, wie sie nach alter militäri scher Eintheilung genannt werden, bildeten das katholische Inner-Rhoden, welches zwei Nebenbäche der Sitter, der Röthibach im Osten und der kkrnäsch im Westen, begrenzen. Die fortschreitenden Bewohner der äußern niedriger» Landschaft, die äußeren Rotten, constituirten das reformirte Außer-Rhoden. Rauh und arm ist das ganze Ländchen. Seine hohe Lage über dem Meere und die strengen Nord- und Westwinde, welche vom Bodensee und den weiten Flä chen der ebenen Schweiz herwehen, halten den Winter über fast acht Monate in diesen Hochthälern gefangen. Ein we nig Getreide und Obst in den niedrigeren Landestheilen, Der Oeschiner See in den Berner Centralalpen wird von Lauterbrunnen aus besucht. Derselbe liegt an der untern Oeschinen - Alp einsam und hoch romantisch und ist von senkrechten Felsenwänden eingeschlossen, über welche sich viele kleine Katarakten in sein Bett Hinabstürzen. Bon ihm aus hat man einen Blick auf die Doldenhörner, die, vielfach zerrissen, fast senkrecht emporsteigen. Kartoffeln und etwas Gemüse in den höheren ist Alles, was dem Boden durch Ackerbau sich abgewinnen läßt. Aber in den Thalgründen und bis auf die Gipfel der Berge hinauf liegen grüne Matten und Almen, die mit saf tigem Grase und würzigen Kräutern die nahrhafteste Weide für die zahlreichen Herden von Kühen gewähren, welche ein Hauptbesitzthum des Landes, namentlich Inner-Rhodens, ausmachen. Man meint in ein Hirtenparadies zu blicken, wenn man an einem sonnigen Julitage vom Stoß oder Kaien, oder sonst einem Höhenpunkte aus ins Appenzell lugt. Ueberall, so weit das Auge reicht, deckt sammtner, sonncnbcschicnencr Rasen die Thäler und sanft gerundeten Berge, deren Gipfel nur hin und wieder mit einem Kranze dunkeln Tannenholzes gekrönt sind. Ueber diesen weiten, grünen Grund und die Berglehnen zerstreut liegen meist einzeln, oder zu wenigen Ortschaften geeinigt, die zahllosen Häuser der „Appenzeller Mannen". Mit ihren Hellen, schindelbedcckten Dächern und Wänden und der Fülle cngstehender Fenster beleben sie das Hochthal aufs Freundlichste. Auf den höheren Matten zeigt sich zuweilen eine Schaar munterer Kühe, geführt von dem kurzhalsigen Muni, dem Stiere der Herde. Wer diese Thiere nur in den Städten gesehen hat, macht sich keine Vorstellung, welcher Munterkeit und Beweglichkeit sie in der Freiheit auf der grünen Alp fähig sind. Der Schall ihrer Trinkeln, wie hier zu Lande die Halsglocken genannt werden, klingt dabei anmuthig zum Ohre herüber. Den Hintergrund dieser Hirtenlandschaft bildet der zweigipfeligc Sentis, der König des kleinen Ländchens, mit seinen tan- nenbestandenen Abhängen, schroffen Flühen und Wänden, bläulich-dunkeln Schluchten, grünen Almen und dem Schnee- und Gletscherfelde, das, zwischen Sentis- und Geyerspitze