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104 Heinrich v. Maltzan: Sittenschilderungen aus Südarabien. Dieses Parialvesen ist in Arabien dem Süden eigenthüm- lich. Im Norden giebt es zwar auch verachtete Erbclasscn von Menschen, Parias, wenn man will, aber ihre Entstehung und ihre heutige Stellung sind sehr verschieden von dem, was wir im Süden sehen. Im Norden sind die Verachte ten die Reste einst mächtiger Stämme, welche durch Krieg, Raub oder irgend eine Katastrophe ihr Gut, namentlich ihre Reitthiere, vielleicht auch ihre Waffen verloren haben. So lebt bei Damaskus ein Stamm, die Beni Sleb, der eine sehr tiefe Stellung einnimmt. Die Beni Sleb haben nur Esel. Fast ihr einziger Erwerb ist, in den Steppen nach Trüffeln zu suchen und diese in Damaskus zu verkaufen. Aber alle solche gefallenen Stämme leben denn doch noch als Stämme beisammen und erhalten dadurch immer noch eine gewisse Widerstandskraft. So tief wie die südarabischen Parias können sie nicht sinken. Die sUdarabischen Parias sind nicht die Auswürflinge von Stämmen, sondern sind schon in urdenklicher Vorzeit aus dem städtischen, dem civilen Element hervorgegangen. Dergleichen finden wir nur in solchen asiatischen Ländern, welche im Alterthum eine gewisse Cultur besaßen. In den altasiatischen Culturstaaten war die Gesellschaft fast überall in Erbclassen eingetheilt. In Ostindien hat sich dies Ka stenwesen bis in die größten Einzelnheiten entwickelt. Aber auch in Heinen muß es tief ins Volksleben eingedrungen sein, so tief, daß es selbst dem befreienden Einfluß des Mo- hammcdanismus widerstand. Dieser predigte überall Gleich heit für alle Rechtgläubigen, aber in Hemen vermochte er cs nicht, sie durchzusetzen. Wer als Heide Paria gewesen war, der blieb auch als Moslim Paria. Denn merkwür digerweise hat die Kaste hier durchaus keine religiöse Be deutung. Ueberall sonst, wo wir Parias finden, unterschei den sich diese entweder durch eigentliche Heterodoxie oder doch durch ein sectirerisches Abweichen von der herrschenden Re ligion oder endlich durch Laxheit im Glauben, durch weniger strenges Beobachten der Reinigungsvorschriften, der Speise regeln, der Unvermischtheit des Blutes. Die Parias von Heinen dagegen sind Moslims, wie die Stämme, in deren Mitte sie leben. Wo diese orthodoxe Sunniten sind, da sind es auch die Parias. Wo die Con- fession der Zaidi vorherrscht, da bekennen sich gleichfalls die Parias zu dieser. Die Schumr bilden die tiefste Classe. Obgleich Mos lims, sind sie doch vom Besuch der Moscheen ausgeschlossen. Niemand geht mit ihnen um. Die Achdam, die andere Pa riakaste, Verhalten sich ihnen gegenüber eben so exclusiv, wie die höheren Classen den Achdam gegenüber. Dafür, daß die Schumr cs nicht wagen, eine Moschee zu besuchen, sorgen die Achdam. Diese sind nämlich nicht vom Besuch derselben ausgeschlossen. Es ist dies ihr wichtigstes Vorrecht vor den Schumr. Letztere würden sich durch Moscheebcsuch bis zu ihnen aufschwingen. Sie wachen deshalb mit der größten Eifersucht darüber, daß ein solcher Siltenverstoß nicht vor- komme. Die Schumr werden beschuldigt, Aas zu genießen. Einige von ihnen sind allerdings Abdecker und als solche unrein. Aber bei Weitem die meisten leben vom Musiciren, Aufspie len bei Hochzeiten, Singen, Tanzen u. s. w. Kurz, sie sind ein lustiges Zigeunervölkchen. Zuweilen hört man wohl auch die Schumrweiber der Prostitution beschuldigen. Dies ist vollkommen unsinnig. Denn die Classe ist ja so verach tet, daß jeder Araber, der sich mit einer Schumrfrau einläßt, sich verunreinigt. Es ist darin ganz wie in Ostindien, wo auch eine Paria durch ihre Stellung selbst verhindert wird, aus der Prostitution Erwerb zu ziehen. Die oben genannten Gewerbe, wie Musikanten, Sän ger u. s. w., bringen freilich die Stellung von Auswürflin gen mit sich, aber doch an und für sich eben keine tiefere, als die der Achdam. Daß die Schumr trotzdem noch tiefer stehen als jene, beruht eben lediglich auf der Erblichkeit, die sie aus uns unbekannten Gründen von Alters her so ganz ausnahmsweise tief stellt. Das Institut der Schumr ist übrigens von merkwürdi ger, aber recht bezeichnender localer Begrenzung. Während nämlich Achdam in ganz Südarabien, vom Rothen Meere bis zum Persischen Golf Vorkommen, giebt cs Schumr nur im eigentlichen Hemen. Dieser Umstand giebt uns fast die Entstehungsgeschichte der Schumr an die Hand, über welche wir die Geschichte umsonst befragen. Denn da gerade He- men das eigentliche Culturland Arabiens im Alterthum war, so wird uns der Ursprung seines Kastenwesens als ein staat lich politischer und bürgerlich socialer von selbst klar. Hemen hatte im Alterthum, wie uns die himyarischcn Inschriften zeigen, auch in den höheren Clasfen vielsache Gliederungen. Wir unterscheiden da eine Menge Titel, Erbrang, fast einen Adel. Wo die aristokratischen Begriffe so entwickelt waren, da wirkten sie auch stets auf schärfere Gliederung in den unteren Volksschichten ein. So entstan den hier zwei Classen von Auswürflingen, in den anderen sUdarabischen Staaten nur eine, weil eben dort der aristo kratisch-hierarchische asiatische Culturstaat nicht in dem Grade zur Entwickelung gelangt war, wie im eigentlichen Hemen. Heutzutage wäre die Entstehung solcher bürgerlicher Pa riakasten in Südarabien undenkbar. Der Culturstaat hat aufgehört. Die patriarchalischen Stammesbegriffe haben allein Geltung. Nach diesen könnte sich allenfalls ein Pa riastamm, wie die oben erwähnten Beni Sleb, bilden, oder, sollte nur ein Mann sich absondern, etwa weil er ein bür gerliches Gewerbe (denn alle diese Gewerbe gelten als eines freien Mannes unwürdig) erwählt, so könnte eine einzelne Ausstoßung stattsinden. Dieselbe würde indeß doch keine tiefere Stellung mit sich bringen, als die der Raye. Nein, heutzutage entstehen keine bürgerlichen Parias mehr. Paria wird man nur durch die Geburt. Paria bleibt aber der als solcher Geborene sein Leben lang. Es giebt keine Möglichkeit für ihn, sich auszuschwingen. Für den Pariastamm (wie er aber nur im Norden, nir gends im Süden besteht) ist dagegen ein solcher Ausschwung durch kriegerische Ermannung sehr leicht möglich. Schumr und Achdam indeß werden sich nie kriegerisch ermannen, weil sie eben gar keine Einheit bilden, sondern, wie bürgerliche Elemente, im Lande zerstreut sind, aller Stammestraditionen entbehren und dem Waffendienst abhold sind. Die Schumr wohnen, stets abseits von den Dörfern in eigenen Ouartieren. In freien Stammesgebieten kommen sie nicht vor. Dadurch erinnern sie uns lebhaft an die tiefste ostindische Pariakaste, welche merkwürdigerweise auch fast den selben Namen führt. Sie heißt nämlich „Tschamar", ein Wort, von dem „Schumr" ganz wie eine semitische Entstel lung klingt, denn dem Semitismus ist fast überall der Laut „tsch" fremd. Die ostindischen Tschamar wohnen ganz eben so abseits von Dörfern und Städten, verrichten auch nur die niedersten Dienste und sind tief verachtet. Sollte man hieraus auf eine Verwandtschaft zwischen Tschamar und Schumr schließen? Genealogisch, glaube ich, ist eine solche nicht zu rechtfertigen, denn die Schumr haben doch gar nichts vom Ostindischcn und viel mehr vom Arabischen in ihren Physiognomien, in ihrem Typus. Möglich aber wohl, daß das Wort aus Ostindien stammt. Der Verkehr mit diesem Lande war ja schon im Alterthum in Arabien lebhaft. Die Stellung der Achdam ist eine andere. Moscheen dürfen sie besuchen, nicht aber die Privathäuser der Araber