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92 Michel Chevalier's Urtheil über die Franzosen. ewige keltische und gallische und athenische Leichtigkeit be wahrt, behält seine Kraft und Klarheit und schießt Blitze. Sentimentalität, Posse, das Jmmerlustigsein; sie tanzen Wal zer mit einander. Da wird plaidirt, da hört man hier An klagen, dort Rechtfertigungen, aber Niemand beachtet sie, Keiner mißt ihnen Glauben bei. Ja, Talent und Genie in eingeschränktem Sinne, die fehlen bei uns nicht; sie treten in den mannichfaltigsten For men auf, werden aber kopflos vergeudet. Niemand schreibt klarer französisch, als der Erzbischof von Orleans, Mon seigneur Dupanloup; Renan's Stil ist rein, fein, überzeu gend; Sarcey hat Logik, gesunden Menschenverstand und einen derben auvergniatischen Witz. Veuillot (— der Ultra montane und Bertheidiger der Jesuiten —) weiß, wie er mit der Bitterkeit seiner erbarmungslosen Feder ganze Heerschaa- ren Ungläubiger in die Flucht jagt. Ja, Polemiker sind sie allesammt; sie zielen mit ihren Kanonen theils gegen Rom, theils gegen Gambetta. Raschheit im Angreifen und im Pariren, bewundernswerth als Fechtmeister; Leichtgläubigkeit über alle Begriffe; biegsame Argumente, Wortschwall, un vernünftiges Raisonniren, — das Alles durchdringt auch die niederen Schichten unserer Gesellschaft. Man werfe z. B. einen Blick in Molinari's „Rothe Clubs". Das Buch ist weder Predigt noch Satyre, keine Kritik und keine Untersuchung, sondern photographisch ge treu. Es enthält alle heroische Beredtsamkeit, welche zum Besten gegeben wurde, und die man angehört und beklatscht hat. Die Tausende von extemporirten Rednern waren keine verächtlichen Rhetoriker; manche donnerten, andere flossen Uber von Honigseim. Sie werfen um sich mit Metaphern, sprechen Epigramme in Menge aus, leider fehlt der gesunde Menschenverstand. Firmin Maillard hat eine Geschichte der in Paris ver öffentlichten Zeitungen drucken lassen; die „Conciliabules de l'Hotel-de-Bille" berichten getreulich, was Pyat, Assi rc. in den Sitzungen der Commune gesprochen haben. Wenn man dazu die Proklamationen der Versailler nimmt, so hat man einen Einblick in die ganze Unsicherheit, in die Mängel und in die Hohlheit der französischen Gesellschaft, man hat die ganze Psychologie des Jahres 1871. Was diese Bücher enthalten, das ist eine schreckenerregende Anklage gegen unsern bisherigen Unterricht und unsere Erziehung, die Art und Weise, wie man bisher die Menschen bei uns abrichtete. Und das gilt nicht etwa vom Straßenpöbel allein, nicht bloß von den armen Leuten, sondern auch von den höchsten aristo kratischen Classen, die für gebildet und aufgeklärt gelten wol len. Hier werden ihre Ränke dargelegt." — Chevalier wirft dann grelle Streiflichter auf die Leute von der französischen Akademie, von welcher Männer wie Descartes, Meliere, Beaumarchais, St. Simon, Paul Louis Courier rc. ausgeschlossen blieben. Die Cliquen, welche auch heute die Akademie beherrschen, seien genau von derselben Art wie jene, welche die Rothen Clubs in den Vorstädten beherrschten. „Die brutale Gewalt und die platte Ignoranz in der Commune folgten nur dem Beispiele, welches die Ritter vom Geist und die Machthaber gegeben. Es ist hier wie dort dasselbe System servilen Nachgebens, der Jntrigue, der Jobberey, des Manövrirens, des Ränke- und Gegen- ränkeschmiedens, der kleinen Kriege einer Partei gegen die andere, der Schmähungen, des Geklatsches, der kindischen Leichtgläubigkeit, der albernen Schwatzhaftigkeit, der wider sinnigen Verfluchungen, der inneren Gehässigkeiten; das Alles ist in dem Schlamme der Clubs, bei den Petroleusen und bei dem — unschuldigen Akademiker zu beobachten. Derselbe Mangel an Willenskraft, dieselbe Schwäche, derselbe Man gel, gute Vorsätze auszuführen, dieselbe Fügsamkeit in mora lische Sklaverei, — Alles dieses, welches wir bei den un gewaschenen Bürgern vom Montmartre und bei den Ama zonen der Barrieren finden, wir sehen es nicht minder bei den eleganten, vornehm erzogenen Bewohnern des Faubourg St. Honors. Wahrhaftig, es ist eine durchgreifende mora lische Reform nöthig, um den Tempel unserer Literatur, Künste und Politik wieder aufzubauen." Die Philippica steigert sich noch; Chevalier fährt fort: „Ein Mann, der sich einer Clique nicht unterwirft, der keine rothe, blaue oder weiße Cocarde trägt, der nicht alle Könige todtschlagen oder alle Rothen zusammenschießen, alle Ver- nunftglüubigen stranguliren will, ein solcher Mann steht, moralisch genommen, gewiß über seinen leidenschaftlich gehäs sigen, im Parteiwesen verrannten Zeitgenossen. Aber für solch einen Mann wäre im heutigen Frankreich kein Platz, er könnte es hier nicht aushalteu. Da er keiner Gruppe angehörte, würde er von Allen geschmäht werden. Herr A. würde von ihm sagen, er sei nicht orleanistisch genug; Herr B.: er ist nicht französisch und nicht klassisch genug; Herr C.: nicht hinlänglich imperialistisch; Herr D.: er ist nicht klerikal und papistisch genug. Ein vorurtheilsloser Denker, ein unabhängiger Humorist, ein nicht im System verrannter Mann, ein Schriftsteller, dem Alles auf die Wahrheit an kommt, ein Coleridge oder Lessing, der hat hier keine andere Aussicht, als unbeachtet in irgend einem Winkel der Pro vinz am Hungertuche zu nagen. Und so arg ist unsere ganz miserabele Unduldsamkeit, dieses verhängnißvolle Erbtheil, daß die angeblichen Liberalen, die standfesten Republikaner, die Schüler und Freunde Pierre Leroux's, die kommunisti schen Socialisten, ihm nicht einmal zu Grabe folgten; denn er galt ja für einen Mystiker und glaubte an Gott. Roth war er allerdings, aber nicht roth genug! Er war etwas ungläubig, aber doch lange nicht ungläubig genug. Freilich, die Franzosen hatten andere Dinge im Kopfe, als daß sie dem Todten hätten Ehre erweisen können. Der moralische Zustand unserer „intellektuellsten" Leute und un seres „intellektuellsten" Landes macht uns tagtäglich unin- tellectueller. Es sehlt an Toleranz zwischen Franzosen und Franzosen, an Milde, Nachsicht und Wohlwollen zwischen allen Classen und Parteien. Der Grundfehler dafür liegt nicht etwa in den materiellen Tendenzen unserer Zeit, sondern in unseren alten Gehässigkeiten und Fehden. Wir haben unsere zum Despotismus neigenden und dabei doch sklavischen Gewohnheiten, die wir von unseren Vorfahren ererbt, nicht abgelegt und der Geist der Herrschsucht ist uns geblieben. Wir stecken in einer tiefen Grube moralischer und posi tiver Erbärmlichkeit; ich will hoffen, daß wir uns aus der selben herausarbeitcn können. Aber jetzt noch ist die Partei Alles in Allem. Die Begriffe von einer strengen Gerech tigkeit, von aufrichtiger Moralität, von uneigennütziger Bil ligkeit und Wahrheitsliebe, — die sind nicht vorhanden oder doch znrückgcdrängt, und ein kühner Mann, der seine Stimme für ein Princip, nicht für eine Partei erheben wollte, würde als Feind behandelt werden. Gegenwärtig giebt es nur einen einzigen Winkel, in welchem man eine Zuflucht finden kann: die Partei, mit Parteihaß und Parteivorurtheil; die extreme Partei mit ihren tollen Verleumdungen, feigen Schmähungen und Unduldsamkeit. Die Rhetorik hat unablässig auch inmitten der schwersten Heimsuchungen ihr Feuerwerk zum Besten gegeben. Gene räle, die aufs Haupt geschlagen waren, Commandeure, welche den Kürzern gezogen, Parteiführer, Clubpräsidenten, Confe- renzfabrikanten, übertölpelte Diplomaten, — sie Alle schrie ben ihre Apologien, entwickelten ihre Pläne, saßen scharf zu Gericht über die Fehler ihrer Nebenbuhler, wiesen nach, daß sie unter den oder jenen Umständen Erfolg gehabt haben