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Michel Chevalier's Urtheil über die Franzosen. Mach' auf die mit Eisen beschlagene Lade, Nimm von dem Gelde so viel als nöihig ist Und kaufe los den guten Jüngling, Den guten Jüngling aus dunkler Kerkernacht, Aus dunkler Kerkernacht und aus der Kerkerwacht. Unter dem Loskauf ist die Bestechung der Beamten zu verstehen, wie das unter Anderm in folgendem, auch sonst bemerkenswertheu Anfänge eines Liedes ausgesprochen ist: 3. Ach, Du Wanderin, Du, mein Täubchen, Blaugeflügeltes Turteltäubchen, Warum, Wanderin, kehrst Du bei mir nicht ein, Sollte mein Häuschen Dir bekannt nicht sein? Mein Haus ist prachtvoll — nicht Thüre noch Fenster dran, Ein thönerner Ofen nur — mit rauchendem Ofenrohr. Wie aus dem Rohre der Rauch verweht, Meiner Geliebten das Herz vergeht. „Ach, Du Wärterin — Mütterchen, Nimm hier den Schlüssel, den goldnen, Mach auf das Schloß, das gewundene, Nimm heraus den Schmuck, den kostbaren, Geh zu den Beamten und bitte sie, Entlaßt ihn, Freunde, aus der Gefangenschaft. In vielen Liedern klagen die Gefangenen darüber, daß sie, auf einige Tage eingesperrt, Jahre lang sitzen. Die Mutter eines solchen Gefangenen, der über siebenjährige Um tersuchungshaft klagt, spricht ihrerseits: Sieben, ja sieben Mal hab ich Dich losgekauft Und sieben, ja sieben Tausend verloren, Das achte, ja achte Tausend hab' ich nicht. 4. Vania'sKlage um den vertrocknenden Garten. Ach, du Frühlinglein, unser Frühling, Nein, zur Lust nicht kamst Frühling du, Zur Lust nicht, Frühling, und nicht geseiert, Mit großer mächtiger Trockenheit. Ach, mein Garten du, o mein Gärtchen, Garten, grüner Rebengarten, Warum bist du, Gärtchen, vertrocknet ganz? Im Garten sonst Vanuschka — Vania ging, Jedes Unkraut Vanuschka zertrat, Und die Blumen alle brach Vania ab, Dem schönen Mädchen er die Blumen gab, Ins Gesängniß führte man Vania ab. Im Gesängnißlein jetzt Vania sitzt, Durch das Fensterlein hinab er blickt. Sein gutes Roß er unten sieht, Zum Nößlein er die Worte spricht: „Warum, Rößlein, du mein Roß, Gutes Rößlein, du mein Pserd, Warum führst du von hier mich nicht Aus dem weißen steinernen Kerkerthurm?" Michel Chevaliers Nrtheil über die Franzosen. Es bleibt in der That eine merkwürdige Erscheinung, daß die Franzosen platterdings nicht über sich selbst ins Klare kommen wollen, daß auch die allerbitterste Erfahrung sie keine Selbsterkcnntniß lehrt. Sie halten keine Einkehr in sich selbst, sie kleben fest an den langgehegten Jrrthümern und legen keinen einzigen ihrer Fehler ab, trotzdem dieselben sich an ihnen selber so schwer gerächt haben. Es ist immer die allbekannte Ruhmredigkeit, die Selbstüberschätzung, der Mangel an Wahrheitsliebe und der Größenwahnsinn, durch welche sie doch so schwer zu Falle gekommen sind. Statt an ihre Brust zu schlagen und zu sagen: Wir wollen die Fehler so viel als möglich ablegen, das alte Geschrei nach Gloire nicht mehr erheben und redlich an unserer Umwande lung zum Bessern arbeiten, — toben sie sich in Rachewuth hinein. An Allem, was sie betroffen hat, ist ja, wie sie meinen, lediglich das „Unglück" schuld; das nächste Mal werde ihnen das Glück wieder günstig sein. Im Herbst 1870 betonte Thomas Carlyle, daß sie sich keine Lehre aus den schlimmen Erfahrungen nehmen würden; er erklärte sie für „unverbesserlich"; sie würden Europa nicht zu Ruhe kommen lassen und müßten dann eine zweite und dritte „Lcc- tion" erhalten, weil die erste nichts gefruchtet habe. Es ist zu bedauern, daß eine mit Talent und manchen glänzenden Eigenschaften begabte Nation den Ruhm und das „Prestige" auf ganz falschen Bahnen sucht. Sie sollte viel mehr an ethischer Durchdringung, an sittlicher Besserung arbeiten; nur dann ständen ihr erfreuliche Resultate in Aus sicht. Jetzt geberden sie sich im Allgemeinen, als ob ein Tarantelwirbel sie gefaßt hätte, aber während sie immer und immer wieder nach Rache und Wiedervergeltung rufen, ver gessen sie, einmal, daß sie es waren, welche, um Land zu rauben, den Krieg begannen, und ferner, daß die staatlichen Verhältnisse Europas eine gründliche Umgestaltung erfahren haben. Das deutsche Kaiserreich ist wieder erstanden und bildet eine gewaltige Macht, welche jeden Friedensstörer zu züchtigen Gewalt in Hülle und Fülle hat. Zu den wenigen Notabilitäten 'm Frankreich, welche den Muth haben, der Wahrheit die Ehre zu geben und über die Fehler ihrer Landsleute strenges Gericht zu halten, gehört der berühmte Volkswirth Michel Chevalier. Die Ueber- sicht, in welcher er die literarischen Erscheinungen Frankreichs im Jahre 1871 mustert („Athenäum" 30. December), bil det gleichsam einen Dithyrambus der Verzweiflung. Wir wollen Einiges aus demselben hervorhebeu. — Während der Krieg seinen Fortgang nahm, Städte be schossen, ganze Provinzen verheert, Menschen zu vielen Tausend zu Krüppel oder zu Tode geschossen wurden, war die Drucker- prefse fortwährend in Thätigkeit. Sie lieferte Gesänge, Novellen, Zeitungsblätter, Jnvectiven, Lobreden, Lügen, Humbugs; dann und wann, aber nur selten, gab sie einen guten Rath, an Jrrthümern und Fehlern war sie überreich: vooi äi ckolor, aeosnti ck'ira, wie Dante sagt. Und ach! es war in der That eine Hölle! Und für ein französisches Herz, das am rechten Flecke sitzt, und für einen französischen Geist ist es kein erfreulicher Anblick, rückwärts in den Ab grund zu schauen, — malockoits dolZs! — in ein Chaos von Thränen und Blut, von Leichtfertigkeit und Blague, von vergeudetem Heroismus und vergeudetem Leben; — die Na tionalehre in Gefahr, — griechische Jntriguen, byzantinische Manöver, Verleumdung überall. Hochherzige Bestrebungen und edle Thaten bleiben unbeachtet inmitten der allgemeinen Verwirrung. Auch Gelehrte und Mitglieder des Instituts werden von einer Art Irrsinn und Tollheit befallen. Aber der allzeit fertige und sprudelnde französische Witz, der seine 12*