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80 G. M. Ascher: Lieder und Gesänge aus sibirischen und russischen Gefängnissen. sondern ein Genuß. Denn überall in Rußland, selbst in den Städten, bereiten sich die Leute des niedern Volks, die Dienstboten z. B. nicht ausgenommen, im Sommer ihr Nachtlager unter freiem Himmel. Diese Brodjagi sind auch keineswegs solch wilde, furcht bare Gesellen, wie wir das von Banden der schwersten Ver brecher, darunter viele Mörder, erwarten sollten. Es ist vielmehr eine, wenn auch unglaublich scheinende, so doch un zweifelhafte Thatsache, daß die sibirischen Straßen, auf denen diese Leute der Heimath zuwandern, im Ganzen sicherer sind, als die Landstraßen im Innern Rußlands. Wenn etwa die Noth eine Bande zu einem Raubanfall veranlaßt, so findet derselbe wo möglich gegen Regierungseigenthum statt, und nur äußerst selten kommt es vor, daß einer der langen Waa- renzüge, die zwischen der chinesischen Grenze und dem Ural Monate lang unterwegs sind, von den Brodjagi angefallen wird. Freilich verweigert man nicht leicht einer Brodjagibande ein Almosen. Aber hier ist nicht etwa bloß Furcht im Spiele, sondern der russische Kaufmann und das ganze niedere Volk in Rußland sind äußerst mildthätig gegen den Verbrecher, auch wenn dieser gefesselt unter soldatischer Bewachung ein herzieht. Gerade die Orte, wo man solche Schauspiele am häufigsten sieht, so besonders der Vereinigungspunkt der zum Transport bestimmten Sträflinge, zeichnen sich durch Mild- thätigkeit gegen sie aus. Es ist nichts Seltenes, daß ein einziger Zug in Moskau allein mehrere tausend Rubel er hält, so daß mehr als 50 Rubel auf jeden Sträfling kom men. Auch in den ärmsten sibirischen Dörfern, die regel mäßig die Trupps vorbeiziehen sehen, wird ein jeder der selben durch milde Gaben unterstützt. Ein eigenes zur Er- bittung derselben bestimmtes Bettellied findet sich in unserer Sammlung. * * * Nach Vorausschickung obiger Thatsachen werden nur wenige beigefügte Anmerkungen nöthig sein, um die demnächst wiederzugebenden Lieder verständlich zu machen. Doch müs sen wir noch einige Worte über Answahl und Wiedergabe derselben vorausschicken. Wir gruppiren die Lieder nach dem Inhalt so: I. Kla gen über die Gefangenschaft. II. Knutenstrafe. III. Land streicherlieder. IV. Bettellied. V. Balladen. Diese fünf Classen erschöpfen auch die Lieder der ganzen Maximow'schen Sammlung; und die von uns ausgewählten Beispiele enthalten sogar den größten Theil der poetischen Motive, die sich in der Gesammtheit vorfinden, denn wie sich leicht denken läßt, kehren die Motive mannichfach wieder. Man kann sogar behaupten, daß das ganze höchst eigenthümliche Literaturgebiet, in das unser Sammler uns einen Einblick verschafft, in sich zusammenhängt. Wir werden an einem demnächst zu gebenden Beispiele sehen, wie die Gesänge in den Gesängniffen variirt und umgebildet werden, pnd mit unter begegnen wir Einflüssen dbr Lieder auf einander, wo wir sie nicht erwartet hätten. Der Gegenstand wäre in der That wohl einer eingehen dem Untersuchung werth, als derjenige, die unser Sammler, der kein Literarhistoriker von Fach ist, ihr angedeihen lassen konnte. In unseren Uebersetzungen haben wir es uns zur Regel gemacht, Zeile für Zeile wiederzugeben, und so weit es an geht, Wort für Wort. Daß dabei noch immer etwas nicht ganz Reizloses herauskommt, zeugt für den hohen Werth der Originale. Der beste Duft geht freilich verloren, und kaum würde eine geschicktere Hand als die unsere ihn besser be wahren, wenn es ihr ouch gelingen würde, einen neuen an die Stelle des verlorenen zu setzen. Wir haben uns fast durchaus bemüht, den Tonfall des Originals einigermaßen wiederzugeben. Nur Ein Gedicht haben wir etwas anders behandelt. Es ist das eines der drei Beispiele „der sauer-süßen Gattung", welche in unserer Sammlung enthalten sind. Diese Gattung ist, wie wir be reits bemerkten, psychologisch höchst wichtig, sie ist aber äußerst schwer anschaulich wiederzugeben. Wir haben es mit Pro- ductionen poetisch begabter Menschen zu thun, denen jede Bildung fehlt, und die daher mit der Wahl vortrefflicher Motive und so manchem rührenden, echt poetischen Ausdruck mancherlei Geschmacklosigkeiten, besonders triviale Reime, verbinden. Hingegen haben wir die Bersform bei zwei höchst Pro saischen Darstellungen: einer Uber Knutenstrafe und einer des Landstreicherlebens, bewahrt, weil diese zu den beliebtesten Liedern gehören, und eben durch ihre Form ein Sinken des Geschmacks unter den Sträflingen bekunden. I. Klagen über die Gefangenschaft. i. Du o sing', o sing' Kleine Lerche du Am steilen Berg abhang, Da, wo der Schnee schmilzt. Du tröst' o tröste Mich armen Jüngling In der Gefangenschaft, In der Gefangen schaft, Im steinernen Kerker Hinter drei Thüren, Thüren von Eichen, Und an drei Ketten, Ketten von Eisen. Ein Schreiben schreib' ich An meinen Vater. Mit Federn nicht schreib' ich Und mit Tinte nicht. , Das Schreiben schreib' ich Mit heißen Thränen. Vater und Mutter auch Sagten sich los von mir, „Weil in unserm Geschlecht Nie Diebe waren, Nie mals Dieb' unter uns, Niemals noch Räuber." Wie in der Uebersetzung, so fehlt auch im Original jede Art von Reim und Reim-Anklang. Dieses Lied hat unser Sammler in Sibirien in einem Zuchthause singen hören. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine Umbildung aus folgendem zwar gleichfalls in Si birien gesungenen, aber auch in Rußland heimischen und unzweifelhaft in Rußland entstandenen Liede, dessen Wechsel beziehungen mit obigem Liede höchst merkwürdig sind: 2. Sing', o singe du, junge Lerche, Sitzend im Lenz, auf dem Berg, wo der Schnee schmilzt, Es sitzt ein Jüngling in dunkler Kerkernacht, In dunkler Kerkernacht, unter der Kerkerwacht. Er schreibt einen Brief an Vater und Mutter, Vater und Mutter und junge Gattin. Ach, Du Mutter mein, Du lieber Vater, Kaust aus, besreiet den armen Jüngling, Den armen Jüngling aus dunkler Kerkernacht. Doch Vater und Mutter sagten sich los von ihm, Alle Verwandten haben verstoßen ihn, „Weil in unserm Geschlecht Diebe nie waren, Niemals Dieb' unter uns, niemals noch Räuber." Sing', o singe du, junge Lerche, Sitzend im Lenz, auf dem Berg, wo der Schnee schmilzt, Es sitzt ein Jüngling in dunkler Kerkernacht, In dunkler Kerkernacht, unter der Kerkerwacht. Er schreibt einen Bries an das schöne Mädchen, Das schöne Mädchen, die srllh're Geliebte, Kauf aus, befreie den armen Jüngling, Du Seelensgute, Du schönes Mädchen. Du, schönes Mädchen, früh're Geliebte. Das schöne Mädchen, bitter weinte sie, Bitter weinte sie, und dann sagte sie, Du alte Wärterin, Du, mein Mütterchen, Du, nimm eiligst den gold'nen Schlüssel,