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G. M. Ascher: Lieder und Gesänge aus sibirischen und russischen Gefängnissen. 89 Die drei Gestalten sind interessant. Die bei weitem inter essanteste ist die des Karmeliuk, eines Romanräubers, wel cher mit manchen Zügen Cartouche's und vielen der Rinaldo- Rinaldini's die ansprechenden Züge Robin Hood's ver einigt. Denn auch er war ein Nationalheld eines unter drückten Volkes. Als volhynischer Leibeigener geboren, be feindete er nur den dortigen polnischen Adel, und war den leibeigenen kleinrussischen Bauern Volhyniens ein treuer Hel fer. Er war, ebenso wie auch Kain und Gußjew, einige Zeit in Sibirien; aber wie der letztere (der durch Berau bung der Hauptkirchc von Saratow berüchtigt ist) und wie viele tausend andere sibirische Strafgefangenen seither und bis auf den heutigen Tag, entkam Karmeliuk in die Hei- math, um dort sein Räuberlcben wieder zu beginnen. Seine Flucht aus Sibirien und sein Entschlüpfen aus späteren Ver folgungen sind höchst abenteuerlich und, sowie seine zahlrei chen Liebesverbindungen, wohl der Feder eines Vulpius wür dig. Sein Ende war das eines Romanhelden und ist in einem der Lieder unserer Sammlung besungen worden: die polnischen Edelleute bestachen Karmeliuk's Geliebte und lauer ten ihm auf, als er in der Abenddämmerung zu ihr schlich. Er bemerkte, als er über die Mauer kletterte, die Feinde, konnte ihnen aber nicht entweichen, sondern wurde, als er bereits bei seiner Geliebten war, durch das Fenster der Hütte erschossen. Die Flinte war mit einem Knopf geladen, ein sicheres Mittel, um die Macht des Teufels zu brechen, unter dessen Schutz Karmeliuk stand. Ganz anderer Art ist der vierte Dichter, Gregor Widort, ein ukrainischer Troubadour, dessen Lieder durch einen seiner Schüler, den Balladensänger Woroschbiuk, nach Sibirien gebracht wurden. Sie sind echte Troubadourlieder und wurden in Sibirien nur vor den trans- portirten Polen von Woroschbiuk vorgetragen, der ein Mei ster seiner Kunst war. Er sowohl als sein Lehrer vor ihm standen im Dienste des podolisch-galizischen Fürstenhauses Sauguschko. Mit einem Mitglieds dieses Hauses, Roman Sanguschko, wurde Woroschbiuk in den polnischen Aufstand von 1831 verwickelt und nach Sibirien transportirt. Das einzige Widort'sche Lied in unserer Sammlung ist übrigens nur als eine Art Beilage zu derselben zu betrachten und hat keine Verwandtschaft mit den von den gemeinen Verbrechern gesungenen Liedern. Um die Lieder der gemeinen Verbrecher zu verstehen, müssen wir uns mit einigen Erscheinungen aus dem Leben des Ver brechers und Strafgefangenen in Rußland näher bekannt machen. Diese Erscheinungen sind jetzt durch die Reformen Alexanders des Zweiten fast sämmtlich antiquirt. Die mei sten derselben jedoch waren noch im Beginn der gegenwärti gen Regierung, d. h. im Jahre 1885, in voller Wirklichkeit. Die Beamten, welche mit der Untersuchung von Ver brechen betraut waren, Polizei, Untersuchungsrichter und Staatsanwälte (Procurore genannt), waren mit wenig Aus nahmen Menschen ohne Pflichtgefühl. Sie ließen den armen Angeklagten Jahre lang in der Untersuchungshaft schmachten, und nur Bestechung vermochte sie dazu, die Entscheidung zu beschleunigen oder auch den Gefangenen ohne weitere Unter suchung freizulassen. Die Gelegenheit, auf diese Weise von den Verwandten oder dem Angeklagten selbst Geld zu erpressen, wurde bis aufs Aeußerste ausgebcutet, und bei der Menge von Beamten, die an solchen Untersuchungen betheiligt waren, konnten die Verwandten durch immer erneuerten und doch vielleicht schließ lich vergeblichen Geldaufwand zur Verzweiflung gebracht werden. Aus dem Gefängnis; wurde der schwere Verbrecher zur Knutenstrafe auf den öffentlichen Richtplatz geführt. Dort wurde er auf ein Brett geschnallt und der Henker züchtigte Globus XXI. Nr. 6. (Februar 1872.1 ihn. Das Maß dieser Züchtigung wurde zwar vom Gesetz und Urtheil bestimmt, lag aber thatsächlich ganz in der Hand des Henkers. Denn die Henker hatten eine wunderbare Si cherheit im Gebrauch der Knute. So sehen wir z. B. in einer vor Kurzem veröffentlichten Schilderung einen Henker, der im Gefängniß vor den Sträflingen eine Art Schauspiel in seiner Kunst giebt. Er stellt ein hölzernes Gefäß hin, und gräbt in dasselbe mit Knutenhieben, die genau einer auf den andern treffen, eine rings um das Gefäß laufende regel mäßige Furche ein. Der Henker konnte den Patienten tödten oder ihn die Exemtion überstehen lassen, wie er wollte. Guß jew, der Räuber und Liederdichter, starb unter der Knute, weil der Henker Befehl erhalten hatte, ihn zu tödten. Meh rere ähnliche Züchtigungen hatte Gußjew früher ausgehalten, ohne daran zu Grunde zu gehen; und als er das letzte Mal auf das Züchtigungsbrett, das auf Russisch das „Pferdchen" heißt, festgebunden werden sollte, rief er vor dem versammel ten Volk: „Pferdchen, Pferdchen, du hast mich schon man ches Mal von hier fortgeführt, führe mich auch wieder fort!" „Nein, Ivan," sagte darauf der Henker, „dies Mal wird das Pferdchen Dich nicht fortführen," und, wiegesagt, tödtete er ihn. Daher wurde der Henker von den Gefangenen selbst und deren Verwandten nach Kräften beschenkt. Auch waren die Henker und die Sträflinge mit einander auf sehr vertrautem Fuße und redeten einander wechselseitig mit ihren Diminutiv namen an: Thedka (Theodorchen), Wanuschka, Vania (Häns chen) u. s. w. Die Romantik des heutigen Verbrecherlebens in Rußland liegt ausschließlich in der Existenz der flüchtigen Sträflinge, russisch Brodjagi (Herumschweifer) genannt, ein Wort, das sich noch am nächsten durch unser Wort „Landstreicher" wie dergeben läßt. Brodjagi heißen alle heimathlosen Leute, und besonders diejenigen, welche, nach ihrer Herkunft, ihren Eltern u. s. w. gefragt, behaupten: Sie hätten diese nie ge kannt oder lange vergessen. Mit solchen „sich der Heimath nicht entsinnenden" Leuten sind noch heute die Gefängnisse im Osten Rußlands ungefüllt, und Sibirien ist von Tau senden und aber Tausenden von ihnen überlaufen. Denn wohl mehr als ein Drittel aller nach Sibirien transportirten Sträflinge entkommt während des Transports oder aus den sibirischen Zuchthäusern. Diese Leute machen sich frischen Muthes auf den nach unserm Begriffe hoffnungslosen Marsch aus Ostsibirien in die Heimath. Freilich kommen nicht wenige vor Hunger und Kälte um, oder werden, wenn die furcht baren Fröste sich einstellen, von diesen dazu getrieben, sich selbst in dem nächsten Gefängniß, das sie erreichen können, als flüchtige Sträflinge zu melden. Dort ließ man noch in jüngstvergangenen Zeiten solche Leute Spießruthen laufen, indem man dem Verbrecher die Hände an den Kolben eines Gewehres band und ihn so wie an einem Seile durch eine Reihe von Soldaten zog, die beim Trommelschlag mit Stöcken auf ihn einhieben. Der Hiebe waren mindestens einige hun dert; 500 war die gewöhnliche Zahl; aber auch 1000, 1500 waren nicht selten. In manchen Fällen verflieg man sich bis zu 3000 Spießruthenhieben. Das ist die Schattenseite des Landstreicherlebens; die Lichtseite besteht in dem lustigen Dahinziehen eines Trupps eng verbundener Menschen mit äußerst geringen Bedürfnissen, deren Befriedigung ihnen aus Mitleid oder Furcht von den Bewohnern Sibiriens gewährt wird. Denn überall in den Dörfern stellt die Hausfrau vor der Thür auf eine eigens dazu bestimmte Bank Brot und Milch hin. Ist der Vorrath Nachts verschwunden, so erneuert sie ihn am nächsten Tage. So lebt denn der Brod- jaga sorglos die Sommermonate hindurch. Daß er Nachts unter freiem Himmel schläft, ist für ihn keine Entbehrung, 12