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88 G. M. Ascher: Lieder und Gesänge aus sibirischen und russischen Gefängnissen. trifft, so theilt Chester nur einen Zug mit. Wie auf dem Festlande glauben auch die Insulaner daran, daß sie von gewissen Leuten bezaubert werden können. In jedem Stamme giebt es alte Leute, denen man diese Fähigkeit zU- traut und die solchergestalt ein auf Furcht begründetes Uebcr- gewicht erlangen. Um die Bezauberung zu bewerkstelligen, schärfen die Eingeborenen die Hand- und Fußknöchel von einem menschlichen Skelett spitz zu, ziehen sich mit diesen klei nen Pfeilen nächtlicher Weile in das Dickicht zurück und wer fen sie nun, gleich Speeren, gegen den eingebildeten Körper ihres Feindes, den sie fo zu durchbohren vermeinen. Wird nun dieser in der nächsten Zeit krank, so ist das unzweifel haft Folge des Takandinja, wie man diese Zaubermethode nennt. Die meisten Uebel werden der Verzauberung zuge schrieben, ebenso ein günstiger oder ungünstiger Wind. In dem kleinen Boote Chester's befanden sich nur sechs Matrosen; trotzdem geschah ihm unter den übel berüchtigten Insulanern, die so lange der Schrecken der Torresstraße waren, nicht das Geringste. Er giebt als Ursache die An wesenheit der vielen Fischerfahrzeuge an, meint aber, daß die Zustände dort wieder gefährlicher werden können, da aus Mangel an Perlmutter die Fischer sich zurückzuziehen be ginnen. Lieder und Gesänge aus sibirischen und russischen Gefängnissen*). Bon Dr. G. M. Ascher, Professor aus Heiklberg. I. Kasan, im December. Lieder und Gesänge der Zuchthaussträflinge. Das scheint auf den ersten Blick paradox. Jedermann weiß ja, daß die Strafgesetzgebungen aller Länder mit tiefer Kenntniß der menschlichen Natur dem Sträfling eine vieljährige Kasteiung ohne einen Augenblick fröhlichen Aufathmens auferlegen, und dadurch sowohl ihn zu bessern als dem Recht der Gesellschaft gegenüber dem Verbrecher zu genügen meinen. Diese vor trefflichen Absichten werden aber von den russischen und namentlich von den im Gefängniß ergrauten sibirischen Sträf lingen vereitelt, indem sie theils ihre Wächter bestechen, theils eine systematisch und gleichsam militärisch organistrte Gegen macht veranstalten, und so vor Ueberraschungen gesichert dnrch Gesang, Tanz und Hazardspiel, begleitet von reichlichem Branntweingenuß, die langen Winterabende kürzen. Wenn in den Gefängnissen keine anderen Lieder gesun gen würden, als die etwa SO unserer Sammlung, so wäre der Gesang nicht nur ein unschuldiges Vergnügen, sondern ein unzweifelhaftes Besserungsmittel. Es liegt hier aber, wie wir aus gelegentlichen Bemerkungen des Sammlers er sehen, nur eine Auswahl vor, und zwar eine solche, die uns kein rechtes Bild von dem giebt, was wirklich gesungen wird. Eine große Anzahl von Liedern mußte aus Anstandsrücksich ten ungcdruckt bleiben. Viele andere, und wie es scheint die psychologisch wichtigsten, ließ der Sammler aus über triebener Feinschmecker« bei Seite, „weil sie zu sehr den sauer-süßen Liebesliedern ähnlich sind". Hingegen hat er mit Vorliebe eine Classe von Liedern aufgenommen, welche mit der heutigen Wirklichkeit am wenigsten im Zusammen hänge stehen, nämlich die alten, im Verschwinden begriffenen, darunter z. B. ein Lied, in welchem Ivan der Vierte, der Schreckliche, der am Ende des sechszehnten Jahrhunderts herrschte, sprechend eingeführt wird. Die mitgetheilten Lie der sind eben nichts Anderes, als russische Volkslieder, solche freilich, die der Gefangene entweder selbst erfindet, oder die er aus dem allgemeinen Liederschätze auswählt, weil sie seiner Lage Verwandtes enthalten. Wenn schon die meisten russi schen Volkslieder an den Sang des Nordwindes erinnern, *) Gesammelt von dem Untersuchungsrichter S. Marimow, im ersten Bande (S. 370 bis 428) seines Werke«: „Sibirien und Lie Zuchthäuser." 3 Bände. Petersburg 1871. <Jn russischer Sprache.) der durch endlose Nadelwälder und über unabsehbare, ein förmige, schneebedeckte Ebenen hinzieht, so sind die unseren sogar unter russischen Volksliedern besonders melancholisch. Selbst die Form hat etwas Schmerzliches. Der Tonfall ist schwer und unregelmäßig, Reime und reimartige Anklänge finden sich nur ausnahmsweise; und auch wo sie sich finden, geben sie dem Liede nicht die reizvolle Leichtigkeit, welche so viele unserer Volkslieder und noch mehr die Lieder südlicherer Länder auszeichnet. Namentlich fehlt überall der Chorrcfrain, und eben dadurch am meisten tritt der schneidende Gegensatz zu den Liedern voll Licht und Lebensfreude hervor, die in den Weinländern gesungen werden. Wie es sich bei Liedern dieser Art von selbst versteht, läßt sich bei fast keinem derselben der Verfasser mit voller Sicherheit nachweisen, Dem Sammler scheinen überhaupt nur sehr wenige Namen von Gefüngnißdichtern bekannt ge worden zu sein. Einen derselben, Namens Makejeff, einen Kaufmannssohn von ziemlich guter Bildung, der seine Lauf bahn als Verschwender begann und als Verbrecher endigte, sah der Samniler selbst in einem sibirischen Zuchthause. Er beschreibt ihn als einen scheuen Menschen, der den geraden Blick ins Auge nicht ertrug. Derselbe schrieb eine Anzahl von Gedichten, die eine Schilderung des Gefängnißlebens enthielten; doch unser Sammler vermochte sie sich nicht zu verschaffen. Eine directe Weigerung, sie mitzuthcilen, konnte der Verfasser freilich nicht wagen; doch wich er unter allerlei Vorwänden aus. Wahrscheinlich hatten übrigens jene Ge dichte mit den Liedern unserer Sammlung nichts gemein. Sie waren schwerlich sangbar; denn der Verfasser hatte sie seinen Mitsträflingen in einem Heft gegeben, das im Ge- sängniß zu Grunde ging, ohne daß, wie es scheint, irgend etwas daraus in den dortigen Liederschatz ausgenommen wurde. Die einzige Probe von Makejefs's Talent, die wir besitzen, besteht im Anfang und Ende eines von ihm auf Verlangen der Behörde abgesaßten, einer Expedition nach dem Amur gewidmeten Gelegenheitsgedichts. Dieses gleicht auf ein Haar den analogen Productionen anderer Länder, ist von langweiliger Regelmäßigkeit und hat einen regelmäßigen, klanglosen Reim. Außer Makejeff werden noch vier Dichter namen genannt. Drei davon sind die Namen der Räuber Kain, Gußjew und Karmeliuk, die sümmtlich innerhalb des Menschenalters lebten, in das Schiller's »Räuber" fallen.