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26 Eine bedeutende Anzahl junger Leute wird durch die Schulen in I die großen Städte gezogen. Große Städte haben viele Bildungs mittel, die ein kleinerer Ort sich nicht schaffen kann: Kunstschätze, Sammlungen, Bibliotheken, wissenschaftliche Institute. Darum sind die Lehranstalten großer Städte stärker besucht; und von den Zög lingen bleibt schließlich gar mancher an dem Orte, den er kennen ge lernt hat und der ihm lohnende Beschäftigung bietet. Der Handel bindet sich feiner Natur nach nicht unbedingt an die Landeshauptstädte. Er kann feine Hauptsitze nur an den für den Verkehr günstigen Plätzen aufschlagen, sei dies nun an Seeplätzen mit bequemen Wegen nach dem Binnenlande (wie HLvre, Antwerpen, Rotterdam, Bremen, Hamburg, Stettin, Danzig), oder in Land städten, wo wichtige natürliche Verkehrswege sich kreuzen (wie Frank furt am Main, Köln, Magdeburg, Leipzig); er beschäftigt eine Menge Menschen in unmittelbarer Weise und häuft Reichthümer auf, deren Verwendung wieder eine größere Anzahl von Arbeitern bedingt. Der Handel hat immer manigfache Industrie in seinem Dienste. Zunächst bedarf er eines ansehnlichen Verpackungsmaterials: wir erinnern an die Fabrikation von Fässern, Kisten und Kistchen, die in Hevana ihren Sitz aufgeschlagen hat, an die Fabrikation von Papp kisten (Cartonuagen) für die Posamentirarbeiten des Erzgebirges u. s. w. Ferner findet sich in den großen Handelsstädten, zumal in den Einfuhrplätzen, Veranlassung, das Rohmaterial zu weiterem Gebrauche zu verarbeiten, zumal in der großen Stadt es in der Re gel weder an Kapital, noch an Arbeitskräften mangelt. Der Kolo- nialwaarenhändler errichtet Zuckerraffinerien, Cigarren- und Cho- koladenfabriken u. s. w., andere Rohproduktenhändler legen Thran- und Seifensiedereien, Wachsbleichen, chemische Fabriken, Petroleum-, Oel- und andere Raffinerien u. s. w. in großartigem Maßstabe an. Eine Menge Handwerker, deren Beschäftigung höhere Bildung nnd Kunstfertigkeit voraussetzt, wie solcher Arbeiter, die im Dienste der Kunst und Wissenschaft stehen — wir nennen beispielsweise Uhr macher, Mechaniker, Optiker, Holzschneider, Lithographen und Kupferstecher — sammelt sich in großen Städten an. Man braucht nur in ein größeres Adreßbuch zu blicken, um eine lauge Reihe von Beschäftigungen aufzufinden, die in kleineren Städten und auf dem Lande nur vereinzelt oder gar nicht Vorkommen können. Unter solchen Einflüssen sind in der ersten Hälfte unsers Jahr hunderts die Hauptstädte der europäischen Staaten ziemlich rasch auf 200,000 bis 500,000 Einwohner (London und Paris noch höher), die der kleineren Königreiche wenigstens auf 50,000 bis 150,000 Ein wohner herangewachsen; die See- und Landhandclsstädte haben es an raschem Wachsthum gleichfalls nicht fehlen lasten. Es sollte aber noch anders kommen. Die Einführung der Dampfmaschinen in die Industrie änderte zunächst noch nicht viel. Diese Maschinen konnten ebensogut auf dem Lande, wie in großen Städten aufgestellt werden. Aber ihre ver mehrte Zahl bedingte die stärkere Ausbeutung und Zufuhr von Brennmaterial. Die längst aufgeschlossenen, aber noch wenig ausge beuteten Steinkohlenlager mußten stärker in Angriff genommen wer den. Nun verlangt aber auch der Transport der großen Lasten bessere und bequemere Verkehrswege. Die Chausseen, in Deutschland erst nach den napoleonischen Kriegen angelegt, genügten nicht mehr — wollten oder müßten wir jetzt zu dem Frachtverkehr zurückkehren, so würden z. B. die Zwickauer Steinkohlengruben allein täglich 3000 Lastwagen mit 8,000 Pferden, im ganzen, da jedes Fuhrwerk erst nach mehreren Tagen zurückkommcn kann,, vielleicht 12,000 Wagen mit 30,000 Pferden beschäftigen! Die Eisenbahnen traten ins Leben. Durch das Bedürsniß schnellern und billigem Transportes größerer Lasten ins Leben ge rufen, haben sie bald den wesentlichsten Anlaß zur Vermehrung des Waarenverkehres gegeben. Im I. 1829 gingen die ersten Lokomo tiven zwischen Stockton nnd Darlington, bis 1840 waren die Linien Liverpool-Manchester, Nürnberg-Fürth, Leipzig-Dresden, Wien- Wagram, Berlin-Potsdam, Braunschweig-Wolsenbüttel, Paris- St. Germain u. a. m. befahren. Nm 1850 waren schon die ersten Haupt linien in Europa eröffnet (1849 Berlin-Köln-Paris), bis 1870 hatte sich ein Eisenbahnnetz entwickelt, welches von den westlichen und süd lichen Enden Europa's — Lissabon, Brindisi, Brest bis an die Wolga und das Schwarze Meer sich erstreckt. Hiermit ist eine neue, früher nicht geahnte Bewegung in die gleichzeitig stark angewachsene Bevölkerung Europa's gekommen. Beschäftigt schon der Bau der Eisenbahnen Hunderttausende von Arbeitern und führt sie massenhaft an einzelnen Orten zusammen, nm sie nach einiger Zeit beschäftigungslos zu entlassen, mit der Auf gabe sich irgendwo nach andrer Arbeit umzusehen; beschäftigt ferner der Dienst an den Eisenbahnen für die Dauer Tausende von Be amten und Arbeitern, von denen sich natürlich stets große Mengen in den großen Städten, den Knotenpunkten der Eisenbahnen, zu sammenfinden müssen —- so haben die Eisenbahnen noch besonders nach zwei Seiten auf die Anhäufung der Bevölkerung in großen Städten hingewirkt. Erstens liefern sie rasch und billig das Brennmaterial und erleichtern die Anlegung großer, viele Menschenkräfte beanspruchender Fabriken. Nimmermehr hätte in Berlin, Wien, Stuttgart, Leipzig — Orten, die von Natur nicht mit Wasserkraft, Metallen, Stein kohlen für eine große Industrie ausgestattet sind — eine so große Industrie sich entwickeln können, wenn nicht die Eisenbahnen den nothwendigen Brennstoff rasch und billig herbeisührten. Krefeld, Gladbach, Rheidt, Viersen, jenseit des Rheins gelegen, konnten erst mit den Eisenbahnen zu bedeutenden Fabrikstädten werden, wie denn z. B. Viersen in sechs Jahren (1852 bis 1858) seine Ein wohnerzahl verdoppelte, Gladbach sie mehr als verdreifachte (von 4083 auf 13,965). Zweitens erleichtern die Eisenbahnen den Verkehr in einer, wir möchten wenigstens im Vergleich mit ehemals sagen, wunder baren Weise. Die Kosten der Reise sind verringert, der Zeitverlust ist auf ein sehr geringes Maß zurückgeführt. Wer sonst aus einer Ent fernung von 300 Kilometern (40 Meilen) in die Landeshauptstadt und zurück reisen wollte, mußte 4 Tage auf die Fahrt im Postwagen, 16 Tage zu Fuß rechnen; jetzt läßt sich eine solche Reise in 24 Stunden erledigen, eingerechnet 5 bis 6 Stunden Aufenthalt am Endpunkte der Reise. Während sich daher die Bewohner entfernter Provinzen früher mit einem Besuche ihrer Provinzhanptstadt be gnügten, suchen sie jetzt die Landeshauptstadt auf und diese wächst durch solchen Verkehr: natürlich auf Kosten der kleineren Städte und des flachen Landes. Ueberhaupt ist durch die Erleichterung des Reisens eine Steigerung des Verkehres erfolgt, die man vor vier Jahr zehnten für unmöglich gehalten hat. Als die Eisenbahn von Leipzig nach Dresden angelegt wurde, rechnete man, daß täglich 150 bis 200, jährlich 60,000 Menschen diesen Weg zurücklegen würden; vielen erschien damals diese Berechnung übertrieben, die Annahme von 100,000 Reisenden aber als ein kühnes Luftschloß. Und jetzt? Sind doch auf derselben Bahn schon einzelne Tage vorgekommen, an denen die Zahl der Reisenden bis gegen 10,000 gestiegen ist! Zu dieser Erleichterung des Verkehres sind noch Landcsgcsetze gekommen, welche mit Aufhebung alter, kleinlicher Beschränkungen die Freizügigkeit innerhalb größerer Staaten regeln; infolge dessen ziehen sich zahlreiche Arbeiter nach den großen Städten. Der Land bau beschäftigt eine gewisse Anzahl von Menschenkräften und ist, wenn in einer Gegend einmal aller Grund und Boden in Besitz ge nommen worden ist, einer Erweiterung nicht fähig. Die für eine gewisse Zahl von Ackerbauern nothwendigen Hilfsarbeiter und Handwerker müssen sich auf ein gewisses Maß beschränken. Die Bevölkerung mehrt sich jetzt in allen Ländern mit großer Stetigkeit durch den Zuwachs an Geburten: was über jenes Maß hinausgeht, muß ans Dörfern und Landstädtchen auswandern nnd zieht meist in die großen Städte, während zugleich in manchen Gegenden, z. B. den Rhein entlang, viel überseeische Auswanderung stattfindct. Man kann nicht behaupten, daß die Arbeiter in den Städten glücklicher leben als auf dem Lande. Aber der äußere Glanz, nicht der innere Werth ist es, der die große Menge lockt! Selbst der Almosenempfänger, der Bettler geht lieber vom Lande nach der Stadt, wo sich ihm reichere Aussichten auf Wohlthätigkeit öffnen, als von der Stadt aufs Laud. Wie beträchtlich aber das Wachsthnm der Städte, namentlich der großen Städte ist, geht klar aus statistischen Angaben hervor: die Städtebevölkerung bildet von Jahr zu Jahr einen größern Prozent satz der Bevölkerung überhaupt. So z. B. in Frankreich*) 1846 24,4z Prozent 1861 28,Prozent. 1851 25,zz „ 1866 30,46 „ 1856 27,„ In Großbritannien wohnten in den Städten von 20,000 Ein wohnern und darüber von der Bevölkerung ^) LI. du propres des a^Atorueratious urbaiues et de I'öwisratiou rurale eu blurope et partioulierelueut eu Graues. Narseille 1870.