Volltext Seite (XML)
Holzwäldern bewachsen, während die riesigen Gebirge des Kau kasus und der Andischen Berge mit -ewigem Schnee bedeckt sind, und in der Ferne im hellsten Weiß glänzen. Eine Unzahl größerer und kleinerer Flüsse, größtentheils Gebirgsflüsse, von denen der Terek und die Suudscha die bedeutendsten sind, durchschneiden das Land, und tragen nicht wenig zur Verschöne rung der Gegend bei; sie haben häufig den vordringenden Russen die größten Schwierigkeiten bereitet. Der Tschetschenze ist entzückt von den Naturschönheiten seiner Heimat; er erzählt in Sibirien Wunder von ihr und kann nicht müde werden sie zu schildern. Derjenige, der seine Schilderungen am längsten anhört, der sich so in den Geist des Erzählenden hineinzuleben versteht, daß er mit ihm in Sibirien die Fluten des Terek, oder irgend eines Wildbaches, über den er auf leichtfüßigen Rossen setzte, rauschen hört, der ist sein größter Freund; ihm öffnet er sein Herz, sein Innerstes! — Das an wilden Naturschönheiten gewiß sehr reiche Land ist von einem Volksstamme bewohnt, den die benachbarten Stämme „Tschetschenzen" nennen, der sich selbst aber den Stamm der „Nechtschajer" nennt. Dieser Name stammt vom Namen eines Fürsten Nechtschaj her, von dem die Legende erzählt, daß er, vor dem Zorne seines Königs fliehend, sich in den Schluchten des Kaukasus ansiedelte, und dessen jüngster Sohn das Land in den Schwarzen Bergen in Besitz nahm. Von diesem jüngsten Sohne des Fürsten Nechtschaj sollen nun die Bewohner der Tschetschna abstammen, die sich alle den Fürsten titel beilegen. Alle Tschetschenzen, welche ich kennen gelernt habe, so roh und ungebildet sie auch waren, rühmten sich „Für sten" (Kniasch) zu sein, ja ich hatte Gelegenheit in Kasan ihrer zwei kennen zu lernen, und eine ganze Strecke mit ihnen von Etappe zu Etappe zu reisen, von denen der eine Herr, der an dere Diener war, der aus Anhänglichkeit mit dem erstern in die Verbannung ging — beide titulirten sich stolz „Kniasch". Der Widerstand, den die Russen in Kaukasien fanden, der langwierige, mehr als hundertjährige Krieg, den sie mit den Bewohnern des Landes führen mußten, beweist hinlänglich, daß der Kaukasier zu den tapfersten und kriegerischsten Volksstttmmen zählt: alle Kaukasier übertrifft jedoch an Muth und Ausdauer der Tschetschenze, welcher am längsten seine Freiheit und Unab hängigkeit vertheidigt hat. Erst seit der Unterwerfung dieses bis zum Fanatismus die Freiheit liebenden Volkes, mit der Er stürmung des befestigten Auls Wedenie, der Residenz Sch amyl's, kann Rußland Kaukasien als seine Provinz, und die Tschetschenzen als einen Theil des Gouvernements Daghestan betrachten. Der Tschetschenze hat seine Wohnsitze in der Ueberzeugung so hart näckig vertheidigt, daß er hierdurch eine Pflicht der Pietät gegen seine Vorfahren übe, denn in dieser Erde ruhen ihre Ge beine und die Gebeine seiner Brüder, welche ebenfalls im Kampfe für die Unabhängigkeit gefallen sind. Dieser Volksstamm, welcher bis jetzt in seinen stillen dun keln Wäldern, abgeschlossen von der Welt und ihren Einflüssen, lebte, zu dem kein erwärmender Strahl europäischer Civilisation gedrungen ist, fand und findet zum Theil uoch sein höchstes Glück, seine einzige Befriedigung in Aeußernngen einer unge zügelten Verwegenheit, welche sich bis zu seiner endlichen Unter jochung in kühngewagten Ueberfällen der Kasaken-Stannizen kundgab. Erst jetzt beginnen sich die Tschetschenzen an ihre neue Lage zu gewöhnen. Zwar gerathen sie noch häufig mit den ihnen unbegreiflichen neuen Gesetzen in Konflikt, und wan dern dafür nach Sibirien; doch beginnen sich schon andere Anschauungen Bahn zu brechen, welche dem Lande eine bessere Zukunft sichern. Der Tschetschenze ist im Umgänge mit seinen Hausgenossen schroff und streng; gegenüber den Fremden äußert er Habgier und Mißtrauen: trotzdem hat er viele vorzügliche Eigenschaften, welche ihn, wenn er eine höhere Stufe der Civilisation erstiegen haben wird, eine hohe Stelle in der Völkerfamilie einnehmen lassen werden. Vor allen Dingen muß ich- die hohe Gastfreundschaft des Tschetschenzen hervorheben, welche ihn selbst vor den andern, ebenfalls sehr gastfreundlichen Volksstämmen des Kaukasus, aus- - zeichnet. Kaum hat ein Fremder den Hof eines Tschetschenzen be treten, da werden auch gleich ein oder zwei Hammel, oder, wenn Aus allen WelttheMn. VI. Jahrg. der Besitzer begütert ist, ein Rind geschlachtet, je nachdem eben der Stand, die Rangstufe des Gastes es gebieten. Nachdem der Hausherr den Gast mit allem, was das Haus besitzt, be- wirthet hat, führt er ihn in ein sicheres Gemach nnd birgt seine Habe; dieses gebietet dem Tschetschenzen seine Pflicht, und wehe ihm, wenn der Gast durch seine Nachlässigkeit beraubt, oder gar ihm persönlich ein Leid zugefügt werden würde. In diesem Falle wartet des nachlässigen Wirthes eine empfindliche Strafe. Jede Nacht würden ihm die Nachbarn einen Haufen Erde in den Hof bringen, den er während des Tages aus demselben herausschaffen müßte, und dieses würde sich so lange wieder holen, bis die Schuld gesühnt, der Fleck, der die Gastfreund schaft besudelt hat, abgewaschen wäre. Der Gastfreund hat die Pflicht Rache zn üben an demjenigen, der seinem Gaste Scha den zugefügt, oder ihn auch nur beleidigt hat. Ich habe ver geblich nach dem Ursprünge und der Bedeutung dieser uns un verständlichen Strafe geforscht. „Es muß so sein; unsere Väter haben es so gemacht und uns überliefert" — war die Antwort auf meine Fragen. Für den Empfang eines Gastes bestehen ganz besondere Zeremonien, welche aufs genauste beobachtet werden. Dem An kommenden geht der Wirth selbst, oder, im Falle seiner Ab wesenheit, ein Nachbar entgegen. Es muß dieses durchaus ein Mann thnn; eine Frau den Fremden empfangen lassen, wäre eine furchtbare Beleidigung. Wenn der Gast in's Haus geführt worden ist, nimmt der Wirth vor allen Dingen die Waffen von der Wand, und nun erst wird jener in das Gast zimmer („Kunak") geführt, und jetzt erst drängen sich alle im Hause versammelten Männer in dasselbe. Am Ende erscheint nun auch der Hauswirth, der indessen die nöthigen Anordnungen zur Pflege des Gastes getroffen hat. Der Wirth setzt sich, ohne besonderes und dringendes Bitten des Gastes, nicht nieder; be sonders dringend muß er genöthigt werden, wenn der Gast einen höhern Rang besitzt, vielleicht gar Beamter ist. In diesem Falle bleibt der Wirth nur einige Augenblicke sitzen. In keinem Falle jedoch wird ein Wirth in Gegenwart eines Gastes länger als eine Viertelstunde sitzen und er zeigt während dieser Zeit Un ruhe, sieht sich häufig nach der Thür um, steht endlich auf und verläßt das Gastzimmer. „So verlangt es die Sitte", welche nicht gestattet, daß der Wirth längere Zeit seinem Gaste durch seine Anwesenheit lästig werde und ihn seiner Freiheit beraube. Nach einer oder zwei Stunden bringt ein Knabe ein Ge fäß mit Wasser und ein Handtuch herbei, und sowohl der Gast als auch die Anwesenden waschen sich die Hände. Nur der Gast hat ei« Recht vom Handtuche Gebrauch zu machen; alle anderen müssen ihre Hände durch den Einfluß der Luft trock- uen lassen. Das Händewaschen ist übrigens das Zeichen, daß das Mahl bald aufgetragen wird. Denn kaum hat der dienende Knabe den Wasserkrng und das Waschbecken entfernt, da bringt auch schon die Dienerschaft einen dreifüßigen Tisch herbei, auf deu eine Speise gestellt wird. Nun beginnt eine neue Zeremonie. Der Gast muß bitten, daß irgend einer der Anwesenden sich zu ihm an den Tisch setze und mit ihm speise. Die Tyrannin, Sitte genannt, erlaubt es wiederum nicht, daß der zum Tafelgenossen des Gastes erwählte jünger sei, als er. Deshalb auch dauert diese Bittzeremonie sehr lange. Endlich findet sich jedoch einer, der dem Gaste bei Tafel Gesellschaft leistet; er setzt sich ihm gegenüber und die anderen Anwesenden schauen zn, wie beide die ihnen vorgesetzten Speisen verzehren. Nachdem sich der Gast und sein Tafelgefährte gesättigt, wird der Tisch, an welchem beide gespeist haben, mit den Resten der Speisen, und wenn es auch nur Knochen wären, in den Kreis der Zuschauer gestellt, welche stumme Zeugen der bis herigen Thütigkeit des Gastes gewesen waren. Sie alle setzen sich nun an den Tisch, belecken was auf ihm geblieben ist, und ahmen genau alle Bewegungen nach, welche der Gast während des Essens gemacht hat. Man thut dieses wiederum, weil es die Sitte gebietet; es hieße den Wirth kompromittiren, zeigen, daß das Mahl nicht reichlich genug war, wenn nicht alle An wesenden sich mit dem sättigen sollten, was der Gast übrig ge lassen hat. Der Hausherr befindet sich während des Mahles außerhalb 40