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leiden, sollen nicht am Meere und nicht zu heiß wohnen. Per sonen aber welche zum Blutsturz neigen sollen überhaupt nicht in den Süden gehen. Für solche ist die kalte Alpenluft von Davos viel geeigneter. Es kommt eben viel darauf an zu wissen, ob Wärme oder Kälte der Natur des Kranken zuträg licher ist. Mentone war in diesem Jahre überfüllt. Die Zahl der Fremden erreichte ihre größte Höhe, sie betrug etwa sechstausend. Es hielt schwer, ein Zimmer zu bekommen, alle Gasthäuser und I Pensionen waren besetzt, obgleich es deren an vierzig und zum Theil sehr respektable gibt, darunter einige, welche bis drei hundert Personen beherbergen können, ungerechnet die Hunderte von Villen, groß wie die Schlösser, aber auch klein für beschei dene Ansprüche. Ueberall auf Schritt und Tritt begegnete man Fremden, auf der Promenade äu Lliäi längs dem Meere, im Carreithale, in der Avenue Victor Emanuel mit ihren schön ausgestatteten Läden, auf dem Kap St. Martin, auf dem Pont St. Louis und bis in die Berge hinein. Stille, liebliche Wald- thäler, wie die Abbildung S. 265 eines zeigt, locken zum Be such und versetzen den Fremden in ländliche Einsamkeit. Vor allen waren es Engländer, die auch hier die Mehrzahl der Fremden ausmachen, dann aber besonders Deutsche, die Men tone bevorzugen und den angesehensten Theil der Gesellschaft bilden. Es scheint unangenehm auf Schritt und Tritt Kranken zu be gegnen. Aber man stelle sich die Sache nicht so schlimm vor. Gewöhnlich sieht man den Kranken ihre Krankheit nicht an, und Kranke im letzten Stadium sieht man nicht auf der Straße. Der Fremde wird selten von dem Anblick schweren Leidens ge troffen werden. Anders ist es, wenn man sich in Gespräche mit den Fremden einläßt, da bildet allerdings die Krankheit das Hauptthema. In den Gasthäusern hört man sich die Frem den getrost davon unterhalten, und die erste Frage des Ge sprächs ist diese: sind Sie auch der Gesundheit wegen hier? Nächst diesem aber sind Klagen die Hauptthätigkeit der Frem den. Man klagt eben, weil die Kranken das Bedürfniß haben, immer zu klagen, man klagt bald über Hitze, bald über Kälte; bald über die Bewirthung, bald über die Gesellschaft; bald über die Berge, bald über die Thäler. Selbst im herrlichen Januar z wurde geklagt. Auch unser Sachse hatte neue Klagen. „Was! ist das für ein Leben hier", sagte er mir eines Abends, „nicht! einmal ein Töpfchen Bier hat man. Ich weiß nicht, was diel Leute von Italien so viel Sache machen. Bei uns ist alles! viel schöner." Er zog bald darauf in ein anderes Gasthaus.! Dieses Herumziehen aus einem Gasthause in das andre ist der i Ausdruck alles Mißvergnügens und ist für die Kranken sehr! schädlich. Unser Freund kehrte bald darauf zu uns zurück, aber seine Tochter war nicht besser sondern kränker geworden. Nun hatte er auch noch den Einfall den Arzt zu wechseln. Alle diese Unruhen mußten schädlich wirken. Die Kranke bekam Blutsturz und das sonst so kräftige Leben der jungen Frau vermochte! diesen Stoß nicht zu überwinden. Der Anfall wiederholte sich "och zweimal und bald darauf schlief sic friedlich und sanft ein. Der Vater aber schied mit dem bittersten Haß gegen Italien! von Mentone. Es war in der schönsten Zeit des Jannar. Die goldgelben Orangen wurden eingeerntet und die Veilchen begannen zu blühen. Der Bellambrabaum verlor erst jetzt seine Blätter. Ununterbrochen blieb das heiterste Wetter bis in den Februar hinein, wo die Mandelbäume mit Blüten bedeckt waren und die! Feigen zu grünen begannen. Alles was noch steigen oder zu Esel reiten konnte, kletterte in die Berge, nach St. Agnes mit seiner alten Sarazenenburg und seiner lieblichen Sage, oder aus den Berceau mit seiner großartigen Aussicht auf das weite Meer und die Küstengebirge bis hinauf zum Col di Tenda; auch nach dem Dorfe Castellar, ans einer sanften Anhöhe ge igen, zogen die Cavalcaden. Bescheidenere Ansprüche be- huügten sich, die alte Burg unmittelbar über der Stadt zu be rgen, die jetzt, merkwürdig genug, in den Friedhof umgewan- velt ist. Terrassenförmig lagern sich die Gräber rings um das! Ee Gemäuer, das zu Grabkapellen verwendet ist; durch das ^chloßthor hindurch steigt man höher, bis sich oben die letzte Terrasse zu einem kleinen Platze erweitert. Die Gräber konnten Natürlich nicht in den Felsen gegraben werden und so hat man Iw an den Fels angemauert. Das Sinnige dieser Anlage er-! kennt man recht, wenn man sie bei einer Beerdigung des Abends sieht. Die Gräfin Parthonnau wurde des Abends beigesetzt. Ein endloser Zug von Priestern, Mönchen, Brüder- und Schwe sterschaften in langen schwarzen und weißen Gewändern mit Lichtern und Lampen in den Händen bewegte sich unter ein förmigem Wechselgebet von Terrasse zu Terrasse den Berg hinauf und während die ersten oben angekommen waren, zogen die letzten noch aus der Kathedrale am Fuße des Berges im Zick zack empor, den schwarzbedeckten Sarg in der Mitte des Zuges umgeben von Kreuzen und Lampen. Gespenstisch huschten die Lichter und die von Kapuzen verhüllten Gestalten auf der An höhe hin, immer in trauriger Eintönigkeit das Todtengebet wiederholend. Es war ein gewaltiger Eindruck des msmsuto mori, den dieser Anblick machte. Aber man muß diesen Friedhof auch am Tage sehen, um den gradezu gegentheiligen Eindruck zu empfangen. Die pro testantische Grabkapelle am Eingänge des Friedhofes liegt so heimlich nnter dem Schatten eines großen Pfefferbaumes und bewacht drei Terrassen von Gräbern, welche den protestantischen Gottesacker aller Nationen ausmachen. Von der letzten Terrasse überschaut unser Blick Mentone zu seinen Füßen mit den beiden Buchten bis zum langgestreckten Vorgebirge St. Martin und ! drüber hinaus den steilen Felsklumpen der Nöte än Obwu bei ! Monaco, ja über das gabelförmige Vorgebirge St. Jean von Billafranca hinweg bis zu der blauen Insel St. Marguerite mit dem hohen Hintergründe des Esterel-Gebirges. Und vor uns liegt in unerschöpfter Schönheit das Meer, das blaue tief- > blaue Meer mit seiner unendlichen Ferne, aus der nur die ! Schneeberge von Corsica wie ein längst vergessenes Traumbild mitunter emporsteigen. Es ist ein Gedicht, dieser Friedhof, es ist ein Idyll, und wohl denen, die so schön gebettet ruhen wie die Todten von Mentone. Die Leichensteine zeigten leider am meisten junge Leben von 18 bis 24 Jahren, welche hier ihre Ruhestätte gefunden hatten und besonders um die Zeit von Weihnachten. Diese Zeit hält die reichste Ernte, viel weniger der März. Im ganzen verhält sich die Sterblichkeit wie 1:200. Davon sind zwei Drittel junge Leute, die übrigen fast nur alte und hochbejahrte, selten jemand im Mittlern Alter. Man kann sagen, wer die Zeit um Weihnachten glücklich überstanden hat, hat doppelte Hoffnung auf Genesung. Ich lernte einen jungen Mann kennen, lang, schmal, heiser, ermattet von jedem Wege, erkältet von jedem Luftzuge; der Arzt hatte ihm im November nur noch eine Frist von sechs Wochen gesetzt. Und siehe da, er überlebte diese Zeit, ja auch den März, und in Mitte Mai konnte er Mentone mit den besten Hoffnungen für die Zukunft verlassen. Der März ist viel weniger gefährlich als unangenehm. Aber das muß man zugeben, der März ist ein unangenehmer Monat auch für Mentone, oder vielmehr er ist es für die ganze Erde. Denn wo auf der Erde ist der März angenehm? Er wirb ein ewiger Gegenstand der Klage sein, so lange die Welt besteht. Von Mitte Februar bis Mitte März kam in Mentone eine Reihe von regnerischen, windigen, ja stürmischen Tagen. Es war nicht sehr kalt, aber doch die Luft rauh und eindring lich. Das Thermometer fiel nicht unter 10° 6., wenn es auch eines schönen Nachmittags einen Schneewirbel in der Luft gab und die Berge über Nacht mit Schnee bedeckt waren, der zwei Tage liegen blieb. Es war nicht die Kälte, die sich unangenehm machte, es war mehr die Unbehaglichkeit, jetzt, wo alles schon grünte und blühte, wo der Ofen schon wieder aus dem Zimmer geschafft war, wo der Winter längst für überwunden galt, ihn noch einmal zurückkehren zu sehen. Man war untröstlich. Viele verließen Mentone und hofften weiter im Süden besseres Wetter zu finden, aber ein Brief, den ich aus Neapel empfing, meldete, daß es dort Tage lang Schnee und Eis gab. Andere reisten nach Hause. Sie mögen es im Monat Mai bitter bereut haben. Es war das beste ruhig aushalten; denn es gibt kein Heilmittel gegen die Widrigkeit des März. Könnte man im Dezember und Januar in Mentone bleiben und dann einen Ort finden, wo der Februar und März sich gut verleben lassen, das wäre herr lich. Aber — die Erde ist nun einmal kein Paradies. Und da ich einmal beim Tadeln bin, will ich gleich noch etwas anderes hinzufügen, was Mentone Unangenehmes hat. Ich meine nicht die große Nähe von Monte Carlo-Monaco und